XVIII. Zeus und das Schaf

[252] Fab. Aesop. 119


Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor den Zeus, und bat, sein Elend zu mindern.

Zeus schien willig, und sprach zu dem Schafe: Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich allzuwehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen, und deine Füße mit Krallen rüsten? –

O nein, sagte das Schaf; ich will nichts mit den reißenden Tieren gemein haben.

Oder, fuhr Zeus fort, soll ich Gift in deinen Speichel legen?

Ach! versetzte das Schaf; die giftigen Schlangen werden ja so sehr gehasset. –

Nun was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen, und Stärke deinem Nacken geben.

Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig werden, als der Bock.[252]

Und gleichwohl, sprach Zeus, mußt du selbst schaden können, wenn sich andere, dir zu schaden, hüten sollen.

Müßt ich das! seufzte das Schaf. O so laß mich, gütiger Vater, wie ich bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser, Unrecht leiden, als Unrecht tun.

Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an, zu klagen.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 252-253.
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