Eilftes Kapitel

[206] In dem lieblichen Teplitz angekommen, wo wir in der Schönau eine hübsche Wohnung für uns bestellt fanden, lebten wir Anfangs ziemlich zurückgezogen, aber die sanfte Wellenlinie des Höhenzuges, der das Thal umschloß, das saftige Grün der weiten Rasenflächen und die schönen schattigen Bäume waren ein so erfreulicher Anblick, daß man gern in seinem Zimmer weilte, um in das Freie hinaus zu schauen.

Es waren nicht viele Kurgäste im Bade, man hörte also wenig Wagenrasseln und wenig Geräusch, und kam deshalb gar leicht zu jenem pflanzenhaften Hindämmern, das für eine Weile so erquicklich und so beruhigend ist. Am Mittag ging man in den schönen Garten des fürstlich Clary'schen Schlosses, in welchem die Schwäne auf klarem Teiche langsam durch das schimmernde Wasser zogen, am Abende fuhren wir in der Umgegend umher, da der Onkel uns seine Pferde und den Kutscher nachgeschickt hatte, und ich freute mich an jedem Tage darüber, daß ich es so gut im Leben hätte, so über alle mein Erwarten gut.

Im vollsten Seelenfrieden saß ich an unserm Fenster, wenn die Luft leise durch die Bäume fächelte und der[206] Duft der Rosen aus dem Garten in das Zimmer drang, und sah, wie hier und dort ein paar Leute durch die Wiesen promenirten, wie prächtig gewachsene ungarische Soldaten, die sich in dem kaiserlichen Militärhospitale zur Kur befanden, nach den Badehäusern gingen, wie drüben auf den Höhen die Heerden weideten, und das glatte braune böhmische Rindvieh mit den feinen Köpfen sich so schön ausnahm. Ich dachte nicht zurück, ich dachte auch nicht wesentlich vorwärts in jenen ersten Tagen; und das gegenseitige Behagen, das meine Tante und ich an einander fanden, erhöhte diese friedensvolle Stimmung noch bedeutend. Ich war mir in diesem Zustande der völligen Ruhe wie eine fremde Erscheinung, aber ich begrüßte ihn als einen Segen und genoß ihn als ein unerwartetes Glück, besonders da ich mir das Zusammenleben mit meiner Tante nicht so leicht gedacht hatte.

Als zuerst in Breslau zwischen mir und meinen Cousinen die Rede von dieser Reise gewesen war, hatten sie mir einstimmig die großen Vorzüge und den vortrefflichen Charakter meiner Tante gerühmt, Alle aber hatten mir zugleich gesagt: »Du wirst kein leichtes Auskommen mit ihr haben, denn sie ist eine sehr herrschsüchtige Natur!« – Ich hatte mich also darauf gefaßt gemacht, mich zu fügen, mich in unbequeme Ansprüche zu schicken, und da ich an Gehorchen und Nachgeben von Jugend auf gewöhnt war, so hatte ich mir meine Lage, trotz der Besorgnisse meiner Cousinen, nicht eben zu schwer vorgestellt. Indeß ich war doch immer auf manche Unannehmlichkeit gefaßt gewesen, und ich wartete nun darauf von einem Tage zum andern; die Herrsucht meiner Tante wollte[207] und wollte jedoch nicht zum Vorschein kommen. Wenn man sich aber gewappnet hat, einem Feinde entgegen zu treten, und er läßt uns in unserer schönen Rüstung unbeachtet stehen, so scheint es uns, als ob er uns ein Unrecht zufüge, und wir fangen an, uns nach ihm zu sehnen, weil wir keine vergeblichen Anstrengungen gemacht haben mögen, weil wir uns genug thun wollen, in der Rolle, auf die wir uns vorbereitet haben.

Jeden Morgen stand ich mit dem Gedanken auf, heute werde die Herrschsucht meiner Tante zum Ausbruch kommen, und heute werde ich meine Geduld und Nachgiebigkeit beweisen müssen; und jeden Abend legte ich mich unverrichteter Sache, und zuletzt mit einem heimlichen Aerger darüber zu Bette, daß meine Tante mir noch immer Nichts gethan habe.

Wir gingen in Ruhe und Frieden spazieren, hatten Jeder für sein Theil am Morgen nach der Promenade Kopfweh, nahmen unwillkürlich Rücksicht auf einander, dienten und halfen einander wie wir konnten, gewannen immer mehr Neigung und Freundschaft für einander – das kam mir endlich ganz unerträglich vor, und ich sah die guten stillen Tage, die wir lebten, bisweilen wie eine Art von Enttäuschung an, weil ich mich auf andere Zustände vorbereitet gehalten hatte. Eines Abends, als ich neben meiner Tante sitzend, mit diesen thörichten und doch so menschlichen Betrachtungen beschäftigt war, fragte sie mich, weshalb ich so schweigsam sei, und was mir fehle?

»Deine Herrschsucht!« antwortete ich, ihr die nackte Wahrheit gebend.[208]

Sie sah mich verwundert an. »Was soll das heißen?« sagte sie mit Ueberraschung.

»Sie haben mir gesagt, Du wärest so herrschsüchtig,« versetzte ich. »Ich warte also nun schon über vierzehn Tage darauf, daß Deine Herrschsucht sich zeigen solle, und Du fängst noch immer nicht damit an.«

Sie lachte hell auf. »Also sie haben Dich gewarnt?« rief sie mit heiterstem Tone, »das wundert mich nicht, denn ich kenne ihr Urtheil über mich. Sie haben Dir aber gewiß nicht gesagt, daß ich dumm sei.«

»Im Gegentheil! Sie haben Dich sehr klug genannt.«

»Nun! so hätten sie Dich doch nicht erst einzuängstigen gebraucht! Sie hätten mir wohl den Verstand zutrauen können, daß ich einsehen würde, wie ich Dich nicht zu beherrschen brauche, und nicht beherrschen kann, weil Du selbst weißt, was Du willst und mußt.« Sie reichte mir die Hand, wir lachten wieder, aber sie wurde gleich darauf sehr ernsthaft und sagte: »Wenn sie ahnen könnten, wie ich oft im Stillen die Frauen beneidet habe, denen es vergönnt ist, keinen Willen haben zu dürfen, und sich leiten lassen zu können! – Ich hätte wohl auch liebenswürdig sein mögen, hätte ich nur nicht meine ganze Jugend, ja fast mein ganzes Leben hindurch immer für Andere wollen müssen! Und nun ich es an der Seite meines Mannes besser haben könnte, fehlt mir dazu die Sorglosigkeit und ich bin krank.«

Sie brach ab, aber seit der Stunde waren wir Freunde, und die Tüchtigkeit ihres Charakters machte sie mir mit jedem Tage lieber. Sie hatte einen großen Verstand und ein starkes, rechtschaffenes Herz. Was sie für Recht[209] erkannte, daran vermochte sie Alles zu setzen, was ihr als Unrecht erschien, dafür fehlte ihr die schwächliche Nachsicht, und so kam etwas Herbes in ihr Wesen, das vielleicht ihrer Liebenswürdigkeit Abbruch thun mochte, das aber ihren Werth nur erhöhte, und sie mir nicht nur lieb, sondern verehrungswürdig und sympathisch machte.

Sie ihrerseits sah mit großer Liebe auf meine Zukunft hin. »Wie schön ist's, daß Du eigentlich doch noch jung bist!« rief sie mitunter aus. »Pflege Dich doch recht, ruhe recht aus, damit Du auch gesund wirst. Jugend und Gesundheit sind ein Boden, auf dem Alles wachsen und werden kann.«

Wir lasen viel, und gingen also oftmals in die Leihbibliothek, die, wie es noch jetzt in vielen deutschen Bädern der Fall ist, um zehn Jahre hinter der Jahreszahl zurückgeblieben war. Eines Tages, als wir auch ziemlich rathlos vor den Borden des Bücherverleihers standen, trat eine bejahrte Dame an mich heran, um mir ein Buch zu empfehlen, das sie dem Verleiher eben zurückbrachte. Es war mir bekannt, ich lehnte es also dankend ab, indeß die Dame, welche sich mir schon im Schloßgarten und auf der Promenade mehrmals in auffallender Weise genähert hatte, fing eine Unterhaltung mit uns an, und als wir den Laden verließen, begleitete sie uns.

Es war eine Frau von fünfzig Jahren, der man ihre einstige Schönheit ansah, und die mit ihrer edlen Haltung und den feinen, milden Zügen ihres Gesichtes, das noch immer von einer Fülle hellblonder Locken umgeben war, ein schönes Bild matronenhafter Weiblichkeit in sich darstellte. Sie sagte, daß sie zufällig unsere Namen[210] erfahren, daß sie meine Romane gelesen habe, und daß sie sich freue, mir zu begegnen. Das konnte eine bloße Redensart sein, aber ich fühlte es dieser Frau entschieden an, daß sie irgend etwas Besonderes für mich auf dem Herzen habe, daß ihre Theilnahme an mir eine wahrhafte sei, und daß noch ein anderer Beweggrund, als das bloße Wohlgefallen an meinen Romanen sie mir entgegenführe.

An den folgenden Tagen sahen wir sie öfter wieder. Sie suchte uns stets geflissentlich auf, hielt sich vorzugsweise zu mir, und ich erfuhr von ihr, daß sie Minuth heiße, eine Landsmännin von mir, eine geborne Toussaint aus Königsberg, und die Wittwe eines preußischen Geheimraths sei. Sie hatte ihren Mann und fünf erwachsene Kinder verloren, und stand nun ganz allein da. Jede ihrer Mienen drückte ihr durchlebtes Unglück aus, ihr Ton, ihre Aeußerungen trugen den Stempel der Resignation, aber ihre Güte für Andere hinderte sie, ihre Klagen laut werden zu lassen, und ihre Rücksicht für jeden Leidenden ließ es errathen, was sie den Ihrigen gewesen sein mußte.

Sie hatte zwei Nichten zur Begleitung bei sich, und hatte auch viele Bekannte in Teplitz vorgefunden, mit denen wir durch sie in Verbindung geriethen; es wurden denn allmählig verschiedene Partien unternommen, und da wir eigenes Fuhrwerk hatten, und Frau Minuth der Tante und mir gleich lieb geworden war, so wurden fast alle Fahrten und Ausflüge in die Umgegend in ihrer Begleitung gemacht.

Eines Nachmittags waren wir auch wieder zusammen[211] nach Dux, einem alten Schlosse in der Nähe von Teplitz gefahren, das seit dem sechszehnten Jahrhundert den Grafen Waldstein gehört. Man besah die alten Möbel, die alten Bilder, unter denen sich ein Portrait von Wallenstein befand, man zeigte uns in der Rüstkammer eine blutbefleckte Kleidung, in welcher Wallenstein ermordet sein sollte, und von den historischen Sieben-Sachen, von den verblichenen Herrlichkeiten hinweg, schaute ich aus den Fenstern in den Park hinaus, dessen schöne Weitung, dessen prächtige Allee meine ganze Sehnsucht gefangen nahmen.

Frau Minuth, die auch hier wieder neben mir war, bemerkte das, und schlug mir vor, in das Freie zu gehen. Ich war dazu bereit, sie nahm meinen Arm und aus dem Schlosse tretend, gelangten wir in die schönste Allee, die ich überhaupt gesehen habe. Eng in einander verschlungen, hoben sich zu beiden Seiten des Weges Laub- und Nadelbäume zu thurmhohen Wänden empor, zwischen welchen man den Kopf ganz nach hinten biegen mußte, um den Himmel zu sehen, und am Ende dieser herrlichen Baumreihen eröffnete sich dem überraschten Auge plötzlich weit und hell die Aussicht auf die Biliner Felsen und auf die Milischauer, einen der höchsten Berge dieser Gegend.

Diese Schönheit entzückte mich und ich sprach das lebhaft aus, meine Begleiterin aber war ganz still. Plötzlich, als wir schon eine Strecke von dem Schlosse entfernt waren, blickte sie um sich her, und sich dann zu mir wendend sagte sie: »Ich bin recht glücklich, daß ich endlich einmal mit Ihnen allein bin; ich habe dies Alleinsein mit Ihnen die ganze Zeit gesucht, denn ich habe[212] für Sie Etwas auf dem Herzen. Ich habe Ihnen für das Höchste zu danken, was ein Mensch dem Andern verdanken kann. Sie haben mein Herz von einem großen Fehler und meinen Verstand von einem schweren Irrthum geheilt.«

Sie drückte mir dabei die Hand, ich wußte nicht, was ihre Worte bedeutete. »Sie kennen ja,« sagte sie fortfahrend, »das große Vorurtheil, welches die Christen gegen die Juden hegen. Dies Vorurtheil, ja diesen Widerwillen und Haß gegen die Juden habe ich im vollen Maße getheilt und mir noch Etwas darauf eingebildet, bis ich im vorigen Jahre Ihren Roman, Ihre »Jenny«, gelesen habe. Tag und Nacht ist mir es danach im Sinne herumgegangen, gegen wie viele Menschen ich mich hochmüthig versündigt habe, und ich habe mich meiner Härte und meiner Verblendung von Herzen geschämt, und ein rechtes Verlangen danach getragen, Ihnen einmal zu begegnen, und Ihnen zu sagen, was Sie an mir gethan.« – Sie legte mir dabei ihre Hände auf die Schultern, und sah mich mit ihren thränenschweren Augen freundlich an. »Gott gebe Ihnen Glück!« sprach sie darauf mit bewegter Stimme, indem sie mich umarmte. »Wer so warm gegen Vorurtheile und für die Menschlichkeit spricht, dem wird es wohlergehn in der Welt. Gott gebe Ihnen Glück, recht viel Glück, mein liebes Kind.«

Und ich war in dem Augenblicke schon weit glücklicher als sie es ahnte! Ich küßte ihr die Hand, die sie mir wie segnend aufgelegt, wir blieben eine Weile still bei einander stehen, und ich gelobte mir in meinem Herzen, dieser Stunde eingedenk zu sein, wenn ich jemals[213] die Versuchung fühlen sollte, mir selber oder meinen Ueberzeugungen untreu zu werden – aber so fest ich diese liebe Erinnerung in mir bewahrt, als Mahnung habe ich ihrer nie bedurft.

Außer Frau Minuth näherten sich mir allmählig einige andere Personen, namentlich ein schwer leidender junger Mann, der an Krücken umherging. Sie wollten mir es danken, daß ich ihnen Stunden der Krankheit und des einsamen Leidens mit meinen Arbeiten erheitert und verkürzt; Andere sprachen mir es aus, wie ihre Gesinnung mit der meinen übereinstimme, wie verwandt sie sich mir dadurch empfänden, und die fernreichende Kraft des geistigen Schaffens trat mir auf diese Weise in erfreulichstem Ausdruck entgegen. Ich kam mir nicht wie in der Fremde vor, weil ich Leute fand, die von mir wußten, denen ich Etwas geleistet hatte, die mir, ohne mein weiteres Zuthun, dafür Freundlichkeit und guten Willen entgegenbrachten; und dies Bewußtsein der Wirkung in die Ferne, der Wirkung auf Andere, das Bewußtsein, daß ich durch mein Schaffen mir eine Menge gleichgesinnter Menschen zu eigen mache und zu Freunden gewinne, gab all dem Guten, welches sich mir in jenen Tagen darzubieten angefangen hatte, einen festen Hintergrund, und ließ mich auf die Dauer des innern Wohlbehagens und des geistigen Gleichgewichtes hoffen, dessen ich mich erfreute.

Es war im Plane meiner Tante festgesetzt gewesen, daß wir, nachdem sie ihre Kur beendet haben würde, eine Reise durch die böhmischen Bäder und nach Prag machen, daß ich darauf mit ihr nach Breslau fahren, und in[214] ihrer und meines Onkels Gesellschaft das Riesengebirge und die Grafschaft Glatz besuchen sollte. Ich hatte mir es auf Tag und Stunde ausgerechnet, daß ich auf diese Weise immer noch in der zweiten Hälfte des August im Vaterhause sein, und eine meiner jüngsten Schwestern, wie ich ihr versprochen, in das Seebad Kranz hinführen könne, welches nur einige Meilen von Königsberg entfernt lag; indeß meines Vaters Ausspruch, daß es thöricht sei, weitverzweigte Vorausberechnungen zu machen und sich mit den Einzelnheiten der Zukunft zu beschäftigen, stellte sich auch für mich, die sich nur gar zu gern in Detaille-Malereien dessen, was künftig geschehen sollte und mußte, zu verlieren pflegte, wieder einmal als richtig heraus.

Ich stand am Johannisabende mit den Kindern unserer Wirthsleute auf den Höhen, welche sich längs der Vorstadt Schönau hinziehen, und sah in die Ferne hinaus, als man die Johannisfeuer anzuzünden begann. Der Abend war dunkel und windstill. Erst leuchtete auf der Wilhelmshöhe ein Feuerchen auf, dann ein zweites auf der Rosenburg, auch auf der Riesenburg, dem Kostenblatt, der Silesiushöhe; auf den Millischauern, auf dem Bilinerberge, überall brannten die Feuer auf, und ließen die Weite des Horizontes erkennen, welchen man beherrschte. Die Wirthstochter erzählte uns dabei, wie der heilige Johannes sich einst, als er vor seinen Widersachern in die Wüste geflohen sei, ein Feuer angezündet habe, um sich gegen die wilden Thiere zu schützen. Das Feuer habe ihn jedoch seinen Feinden verrathen, daß sie von allen Seiten sich gegen ihn aufgemacht, da habe aber Gott der Herr sich seiner schnell erbarmt, und auf allen[215] Bergen und Höhen, auf allen Wiesen und Thälern die Flammen aufzucken lassen, bis daß die Verfolger über die Richtung ihres Weges irre und der Heilige vor ihnen also behütet worden sei. Zur Erinnerung daran feiere man nun den Johannistag und brenne man die Johannisfeuer.

Die Gesellschaft, die aus unserm Hause auf den Berg gestiegen war, bestand zum großen Theile aus Norddeutschen, welche diese einfache und anmuthige Erzählung mit vornehmer Geringschätzung an ihrem Ohre vorüberrauschen ließen, denn der sogenannte rationelle Protestantismus ist bisweilen eben so unempfindlich für Poesie, als für den historischen Zusammenhang und die formelle Gleichbildung der Mythen in den verschiedenen Kulten. Das ist eine von seinen schlimmen und gefährlichen Seiten! Einer der Männer sprach von der unvernünftigen Holzverschwendung, ein Anderer schalt auf den albernen Wunderglauben des Volkes, welcher von der katholischen Geistlichkeit geflissentlich genährt werde, und ich sah daneben mit Vergnügen, wie hell aus dem Dunkel der Nacht der goldigrothe Feuerschein von allen Ecken durch die Lüfte zuckte, und es freute mich, daß hier die Böhmen von ihrem lieben Herr-Gotte nicht weniger gut und nicht weniger poetisch fabelten als die Griechen es von ihrem Zeus und von ihrer Minerva gethan. Das Mirakel Gottes für den heiligen Johannes erschien mir der Phantasie des Volkes eben so angemessen, als alle jene Wunder, welche Minerva für den Odysseus gewirkt, und nebenher entzückte es mich, wie man das Feuer, diese ursprüngliche Naturkraft, auf der Höhe des Jahres entfesselte, und sie im schönen[216] Cultus der Natur, in stiller Nacht als Symbol der Freude, für den Reichsten wie für den Aermsten emporsteigen, und Allen als ein Erinnerungszeichen an hingeschwundene Tage in die Seele leuchten ließ. Dies Ineinandergreifen des alten deutschen Naturkultus und der Mythen des Christenthums, dies Personifiziren der unsichtbaren Kräfte und Gewalten, das allen Völkern bei ihrer Religionsbildung unerläßlich geschienen, beschäftigte mich sehr, und da man leicht geneigt ist, von dem Allgemeinen auf das Persönliche hinüber zu gleiten, so fand ich mich mit meinen Gedanken bald zu mir selbst zurückgekehrt.

Es überraschte mich so, daß ich mich in Böhmen, daß ich mich in einem katholischen Lande befand, daß die Johannisfeuer vor mir brannten, daß Wallnußbäume ihre duftigen Aeste und Blätter über meinem Haupte wiegten, daß Tausende von Leuchtwürmchen wie fliegende Sterne die Luft durchgaukelten, und ich fragte mich, ob ich wache oder träume? Ich fragte mich: wie kam, wie komme ich denn eigentlich hierher? allein hierher? ohne Vater, ohne Mutter, ohne Geschwister? ich ganz allein?

Meine Aussichten für das Leben waren in meiner ersten Jugend so beschränkt gewesen, nun weiteten sie sich mit jedem Tage mehr, und ich hatte beinahe Mühe mich daran zu gewöhnen. Es war ja Alles ganz anders geworden als ich es erwartet, als ich es gewünscht hatte. So weit menschliche Einsicht es in meinem sechszehnten Jahre voraus berechnen können, war es mir bestimmt gewesen, als eine christliche Pastorsfrau in einem stillen Dorfe des Harzes zu leben. Ich hatte mir dies als das größte Glück gedacht, es mir mit rosigen Farben ausgemalt.[217] Statt dessen war der arme Leopold so jung gestorben, ich hatte das Leben in einer neuen, von der seinigen völlig abweichenden Weise erfassen lernen, ich hatte Kräfte und Fähigkeiten in mir gefunden, von denen er und ich Nichts in mir geahnt, ich hatte sein Andenken in meiner Erinnerung begraben; leidenschaftliches Lieben, bittre Schmerzen waren über seiner Asche in mir lebendig geworden, und auch sie waren durchlebt, hatten sich gewandelt, hatten ihre Lösung und Verklärung gefunden, und von Allem, was ich einst ersehnt und erstrebt, ersehnte ich jetzt Nichts mehr, hätte Nichts mir jetzt noch das Glück gewähren können, was es mir einst gewesen sein würde.

Ich hätte nicht mehr an der Seite des trefflichen jungen Mannes, ich hätte nicht mehr an Leopold's Seite leben mögen, ich würde ihm eine Fremde, und unglücklich neben ihm gewesen sein. Der Gedanke an das einsame Pfarrhaus engte mir den Sinn ein. Es lag weit hinter mir, wie das Aschenbrödelkleidchen, das ich einst als Kind getragen. Ich athmete freier, als ich noch vor wenig Jahren es für möglich gehalten hatte; ich fühlte, daß ich mich auf dem rechten, auf dem meiner Individualität angemessenen Wege befand, und wie den heiligen drei Königen ihr Stern, so leuchtete mir ein innerer Stern auf meinem Wege vorwärts. Hätte ich ihn nicht sehen, ihm nicht nachgehen mögen, ich hätte ihm folgen müssen aus freier und doch nothwendiger Wahl.

Und während diese heidnischen Johannisfeuerchen auf den Höhen loderten, zur Freude der katholischen Christenheit,[218] feierte ich einen eigenen innern Gottes dienst, der wahrer Frömmigkeit und wahren Glaubens nicht ermangelte, und bei dem ich, der Wandelung alles Vorhandenen eingedenk, weit hinaus in meine eigene Zukunft blickte. Wie im dämmernden Weben trat an jenem Abende der Plan zu einer Arbeit an mich heran, in der die naturbedingten und darum nothwendigen Wandlungen des Menschen, an einem weitverzweigten Menschenkreise in solcher Weise dargestellt werden sollten, daß die Wandlung sich nur als eine unabweislich nothwendige Entwicklung der verschiedenen Charaktere bewähren, und eben durch sie ein Bestehen im Wechsel dargethan werden sollte.

Von der Stunde an ist der Gedanke an den Roman, den ich etwa zehn Jahre später unter dem Titel »Wandlungen« erscheinen lassen, nicht mehr von mir gewichen. Er ist vor mir aufgetaucht, und durch Näherliegendes wieder zurückgedrängt worden, und mit jedem neuen Auftauchen hat er von den Ereignissen, die ich geschehen sah, von den Erfahrungen, die ich machte, eine neue Farbe und einen wachsenden Gehalt entlehnt. Er und ich sind mit einander fortgeschritten durch manche Störungen und manche Hindernisse, sind beide mit und nebeneinander zu freierer Entfaltung gekommen, und beide so zu sagen fertig geworden, in einer Zeit, in welcher die Teplitzer Tage schon wieder so weit von mir ablagen, als meine erste Jugend mir in Teplitz fern zu liegen gedünkt.

Und heute blicke ich wieder zurück, und die Johannisfeuer[219] brennen auf der Höhe und leuchten hinab auf einen langen wechselvollen Weg, und leuchten hinein bis in mein Herz und bis in das stille Haus voll Liebe und voll Frieden, bis an den trauten Heerd, an dem mein Leben seine Ruhestatt gefunden, und an welchem noch lange in dem Kreise der Meinen walten zu dürfen, jetzt fast mein einziges Verlangen ist.[220]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 206-221.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon