Siebzehntes Kapitel

[312] Meine Arbeit schritt bei dem ruhigen Leben im Vaterhause schnell genug fort, aber ich konnte es mir nicht verbergen, daß die geistige Freiheit, welche mein Vater mir ließ, mir im Grunde nicht viel frommte, denn je länger ich zu Hause war, je deutlicher fühlte ich, daß ich bei dem Arbeiten wesentlich daran dachte, ob mein Vater damit zufrieden sein, ob es eben ihm gefallen und nicht etwa gegen seine Meinung irgendwie verstoßen würde.

Während ich keine Menschenfurcht hegte, wo es galt, meine Ueberzeugungen durch die Presse kund zu geben, fühlte ich mich vor dem Vater stets wie ein Kind befangen, denn sein Mißfallen oder sein Beifall waren noch immer Dasjenige, was ich am meisten fürchtete und ersehnte.

Auf der einen Seite gereichte mir dieses beständige Hinblicken auf meinen Vater sicherlich zum Vortheil, denn es machte mich gemessen und vorsichtig, aber wer frei schaffen will, muß sich an die Sache selbst und nicht an das spätere Urtheil über das Geschaffene halten. Ich verlor denn auch, je länger ich zu Hause lebte, mehr und mehr von der Unbefangenheit, Frische und Zuversicht, welche mich fern von der Heimath beseelt hatten, und[312] ich fand mich oft geistig, ohne daß ich hätte sagen können wodurch, von den Schranken des väterlichen Hauses eingeengt. Zudem war ich der einzige weibliche Schriftsteller in meiner ganzen Vaterstadt, hatte in dem Kreise, der mich umgab, Niemand, der gleiche oder ähnliche Zwecke verfolgte, und in dem Bestreben, mich heiter und aufrecht zu erhalten, ermüdete ich mich, und ward wehmüthig und elegisch gestimmt, was mir gar nicht frommte.

Vor Allem war das am Weihnachtsabende der Fall. Wir waren unserer nur noch so Wenige beisammen. Wir sahen uns verstohlen darauf an, ob das unsere Stube, unser Haus, ob wir selbst es denn noch wären, die sich einander gegenüber standen?

Ich dachte, während wie sonst die Lichter hell und lustig brannten, an die Zeiten zurück, in denen bei geringen und nur auf das Nothwendige beschränkten Gaben, kaum Platz für uns in dem großen Wohnzimmer gewesen war. Ich erinnerte mich, wie wir einst den Weihnachtsabend mit Leopold gefeiert, wie viel Lachen und Scherz und Uebermuth es sonst an diesem Abende gegeben, wie die Eltern Beide so glücklich über unsere Freude gewesen waren. Nun war das Alles anders!

Der Vater war mit uns allein, es wurde ihm nicht mehr schwer, uns eine Bescheerung zu bereiten – aber es waren keine Kinder, es waren nur noch erwachsene Töchter im Hause, und es jubelte Niemand mehr. Die Zeit der unermeßlichen Kinderfreude war vorüber, der Schmerz war über uns Alle schon hinweg gegangen, wir hatten die Trennung kennen lernen, und die Endlichkeit des Menschen begriffen. Unsere Gedanken waren nicht[313] mehr ausschließlich bei dem Weihnachtsbaum. Sie waren in die Ferne, in die Vergangenheit, in die Zukunft gerichtet, das Vaterhaus war uns nicht mehr die ganze Welt, der Augenblick machte nicht mehr ausschließlich sein Recht über uns geltend wie früher, er nahm uns nicht mehr gefangen.

Wir dachten an die Mutter, die nicht mehr bei uns war, wir dachten an Moritz, der einsam im fernen Asien sicherlich mit Sehnsucht sich zu uns träumte, wir dachten an die Geschwister in Berlin, die den Abend in fremden Familien, an unsere Schwester, welche ihn in Breslau im Hause unseres Onkels zubrachte, und Jeder fragte mich: »Wo wirst Du am nächsten Weihnachtsabende sein? Mit uns wirst Du ihn wohl so bald nicht wieder zubringen.« – Nicht mehr! Nicht wieder!

Es war unverkennbar, die Familie hatte angefangen, sich in selbstständige Existenzen aufzulösen. So nothwendig und natürlich dies auch überall ist, hat es doch, wo immer es sich ereignet, seine schmerzliche Seite, und der Vater empfand diese, ohne alle Frage, sehr tief, wenn gleich er sich niemals darüber äußerte.

In jedem Betrachte von der höchsten Selbstlosigkeit munterte er auch mich fortdauernd auf, die Welt zu sehen, und da ich mir das Geld dazu erarbeitet hatte, eine Reise zu machen. Er scherzte mit mir darüber, daß es Zeit für ihn werde, sich von seinem Geschäfte zurückzuziehen, da er nun bald fünf Kinder auswärts, und damit alle seine Zeit zum Briefeschreiben nöthig haben werde, und er gefiel sich darin, mit mir die Landkarte vorzunehmen,[314] und die Reiserouten zu durchdenken, welche ich etwa wählen könne.

Ich schwankte lange zwischen einer Reise nach Frankreich und einem Aufenthalte in Italien, und neigte eigentlich mehr für die Erstere, weil mir die Sprache geläufig, die Geschichte des Landes vertraut, die französische Literatur mir damals noch vorzugsweise lieb war, und weil ich von Jugend an mich oftmals mit dem Wunsche getragen hatte, Paris zu sehen, den Boden zu betreten, auf welchem die Revolution sich vollzogen, die Stätten zu schauen, an welche die großen, historischen Namen sich knüpften, und die Pariser Gesellschaft kennen zu lernen, von deren geistigem Gehalt und von deren Anmuth ich mir die lebhaftesten und daneben sehr idealistische Vorstellungen gemacht hatte.

Im Ganzen theilte mein Vater, der Frankreich eben so wenig kannte als ich, diese Ansicht, aber Heinrich Simon, dem ich von meinem Vorhaben geschrieben, rieth mir fortdauernd, mich nach Italien zu wenden. Er hatte Frankreich besucht, Italien bis Genua und Venedig bereist, und wiederholte mir beständig, daß ich von Italien weit größere Förderung und viel höheren Genuß zu erwarten habe, als von Frankreich. Was Paris sei, das könne ich mir vorstellen, wenn ich mir das Leben einer modernen Stadt auf das Höchste potenzirt denke; was italienischer Himmel, was die südliche Natur sei, was es heiße, in südlicher Luft am Rande des Mittelländischen Meeres eine Mondnacht zu verträumen, das könne ich nicht ermessen. Als dann endlich unsere Ideen einmal auf Italien gelenkt worden waren, wirkte neben dem Zauber,[315] welchen die bloße Nennung des Südens auf den Nordländer ausübt, auch der oft ausgesprochene Wunsch meines Vaters, Rom und vor Allem Pompeji und Herkulanum gesehen zu haben, bestimmend auf mich ein. Aber auch diese Aussicht erhielt ihren trüben Schleier durch den Gedanken, daß mir so nahe und so erreichbar war, was meinem Vater nicht vergönnt gewesen, und was zu genießen er, so weit man es berechnen konnte, keine Wahrscheinlichkeit vor sich hatte.

Indeß die Sache blieb in Königsberg noch ganz unentschieden. Mein Vater ließ mir freie Wahl, und nur die eine Bedingung stellte er mir, daß ich nicht allein reisen, sondern mir eine Begleitung suchen, oder mich an eine Familie anschließen solle, damit er über mein Ergehen nicht in Sorge zu sein brauche. Eine solche Begleitung war in Berlin voraussichtlich nun weit eher zu finden, als in meiner Heimath. Wollte ich nach Italien gehen, so mußte ich nothwendig etwas Italienisch lernen, und da ich im Januar meinen Roman beendet und zum Drucke geschickt hatte, so setzten wir es fest, daß ich nun wieder nach Berlin zurückkehren, und dort die nöthigen Schritte zur Vorbereitung einer Reise thun solle. Zugleich hatte ich vom Vater die mir ganz unschätzbare Erlaubniß erhalten, mir bis zu meiner Abreise von Berlin eine eigene Wohnung nehmen und allein leben zu dürfen, da der Aufenthalt bei meiner Tante, inmitten wechselnder Kostgänger, mir nachgrade zu lästig geworden war.

So kam denn die zweite Hälfte des Januar heran, und das Herz wurde mir bei dem Gedanken, mich wieder von dem Vater zu trennen, schwer und schwerer, wie[316] lockend auch die Aussicht auf die Reise vor mir stand. Freilich schrieb ich ihm, wenn ich fern von ihm war, fast an jedem Tage, und sendete auf diese Weise alle vierzehn Tage fast ein Bändchen Geschriebenes an ihn ab, da es mir Herzens- und Gewissenssache war, mit ihm im engsten Zusammenhange zu bleiben, und ihn Theil haben zu lassen an Allem, was mir zufiel und was ich genoß. Aber ich hielt mir es beständig vor, daß er nicht ewig leben werde, und wie es mir sein würde, wenn ich mir einmal sagen müßte: alle die Zeit hättest du bei ihm sein, ihn sehen und erheitern können, und darauf hast du unnöthig und freiwillig verzichtet.

Diesen Empfindungen folgte dann wieder die Ueberlegung. Der Vater hatte ja eben seine Freude daran, daß ich vorwärts kam, daß es mir wohl ging, daß ich in der Welt lebte. Die Schwestern hatten mir so oft geschildert, wie der Vater sich an meinen Briefen erheitre, wie er schon einige Tage vorher davon spreche, daß nun bald mein Brief eintreffen werde, und wie jede Anregung, welche ihm durch mich und die Brüder komme, ihn besser als alles Andere zerstreue und unterhalte. Auch aus der Ferne konnte ich ihm also Freude bereiten, und ich hatte es sehr früh begriffen, daß der Einzelne der gesammten Familie am nachhaltigsten nützt, wenn er sich selber vorwärts bringt. Familien, die im Zusammenbleiben ihr höchstes Glück und ihre Aufgabe sehen, bringen es in der Regel eben deshalb in der Welt zu Nichts. Sie sehen das Glück, das sie sich zu erhalten wähnen, mit der Zeit sich trüben und zu Wasser werden, wie Schnee im Frühling.[317]

Wollte ich den Meinen wirklich Etwas sein, ihnen wirklich einmal eine Förderung und Stütze werden, so mußte ich den Boden gewinnen, auf dem ich fußen konnte, so mußte ich eine Stellung erwerben, die mich befähigte, ihnen einen Anhalt zu bieten; und das zu erreichen, war für mich in der Heimath keine Aussicht – das zu erreichen, mußte ich fort. Es war auch zwischen mir und meinem Vater nun ein für alle Mal entschieden, daß ich in jedem Falle künftig Berlin zu meinem Aufenthaltsorte machen sollte, und wir getrösteten uns, daß es ihm möglich sein werde, sich in nicht allzuferner Zeit ebenfalls dort anzusiedeln, wo er und wir uns dann ein neues Vaterhaus zu gründen hofften.

Der Januar ging auf diese Weise zu Ende, ehe wir uns dessen versahen, der Februar stand vor der Thüre. Für den Morgen des ersten Februar hatte ich meine Abreise angesetzt. Der Winter war im Allgemeinen mild gewesen, der Morgen des ersten Februar war naß. Es fiel Schnee und dazwischen regnete es, als ich vor unserer Thüre mit dem Vater in die Droschke stieg, die mich nach der Post fahren sollte. Die drei Schwestern begleiteten uns bis auf den Wolm, wir hatten friedliche Tage mitsammen verlebt, und ich kam ihnen halbwegs rührend vor, weil ich wieder in die weite Welt gehen, und ganz für mich selber sorgen wollte.

Der Vater war äußerlich gefaßt und heiter wie immer; Abschied zu nehmen bewegte ihn zwar, aber er verbarg dies stets. Er gab mir während der kurzen Fahrt nach der Post noch verschiedene Aufträge für die Geschwister in Berlin, und wir überlegten, daß, wohin ich mich auch[318] zu reisen entschließen würde, ich vor fünf Viertel Jahren kaum zurückkehren könne.

»Vielleicht hast Du Deine Häuser in Königsberg und Memel dann schon verkauft, Dein Geschäft schon aufgelöst, und erwartest mich in Berlin!« sagte ich hoffnungsvoll. »So rasch wird das nicht gehen! Du findest mich sicher noch hier,« entgegnete mir der Vater. – Dann legte er mir noch die Pflicht auf, Moritz beständig an dem Gedanken einer Rückkehr nach Europa festzuhalten, und als wir uns in der Passagierstube befanden, waren Personen da, welche noch gekommen waren, mir Lebewohl zu sagen, so daß ich den Vater nicht mehr allein sprach.

Der Postillon stieß endlich in sein Horn, der Condukteur nöthigte einzusteigen. Ich hatte einen Eckplatz im Cabriolet. Der Vater umarmte mich mit seiner vollen Liebe. Er half mir in den Wagen, nahm unserm wartenden Hausknecht mein Handgepäck ab, reichte mir Alles selber zu, und legte mir den Fußsack um. Es waren lauter Liebesdienste, die ich noch von ihm empfing.

Dann, als der Wagenschlag schon zugemacht worden war, stieg er noch einmal auf das Rad, sein liebes graues Haar flog an den Schläfen leicht im Winde, aber er sah, wenn schon bewegt, doch frisch und schön aus, und mir noch einmal die Hand gebend und mich mit seinen lieben klaren Augen anblickend, sagte er: »Sei vorsichtig, Fanny! mit Deiner Gesundheit und im Ganzen, und schreibe so oft wie bisher!«

Ich konnte Nichts als weinen und ihm die Hand küssen, und ich sagte: »Ich danke Dir für Alles!« – »Kind!« rief er freundlich und als verstände sich Liebe[319] und Güte bei ihm so von selbst, daß es des Dankens dafür nicht bedurfte.

»Wir müssen fort, Herr Stadtrath!« erinnerte der Condukteur.

Mein Vater stieg hinunter. Der Wagen setzte sich in Bewegung, der Vater grüßte mich mit Kopf und Hand. Zum letzten Male sah ich seine lieben Augen mir leuchten, zum letzten Male erblickten meine Augen sein schönes, mir so heiliges und unaussprechlich theures Antlitz.

Wir fuhren davon.

Fünf Viertel Jahre später, als der blaue Himmel Neapels sich über mir wölbte, entriß uns ein plötzlicher Tod den Vater, der, als er starb, noch sein neunundfünfzigstes Jahr nicht zur Hälfte zurückgelegt hatte.

Und wie seine letzten Worte bei unserm Scheiden Liebe, und mein letztes Wort zu ihm ein Dank gewesen sind, so steht heute sein Angedenken noch fest in mir aufgerichtet, und wird nicht in mir untergehen, so lange meine Sinne und Atome zusammenhalten. Gesegnet sei sein Andenken!

Leben aber und älter werden, heißt, auf viele Gräber niedersehen![320]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 312-321.
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