An John Stuart Mill

Wenn ich es mir erlaube, Ihnen eine Reihe von Briefen vorzulegen, welche ich in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, zu Gunsten der Erwerbthätigkeit und der allmählichen Emancipation der Frauen, veröffentlicht habe, so geschieht dies in der Hoffnung, daß der tiefsinnige Denker, der sich warmen Herzens und gerechten Sinnes zum Vertreter der bisher niedergehaltenen Frauen machte, Theilnahme haben müsse für jedes Streben nach dem gleichen Ziele.

Ich lebte an den Ufern des Genfersees, als ich im Frühjahr von achtzehnhundertachtundsechszig die sechs ersten dieser Briefe schrieb. Die andern sind im Laufe dieses Jahres theils hier in unserer Heimath, theils auf der Reise, durch äußere und innere Anregungen hervorgerufen worden, und erst vor wenig Tagen ist mir bei unserer Rückkehr nach Berlin[5] Ihre großsinnige Arbeit über die Hörigkeit der Frauen bekannt geworden.

Haben Sie Dank für dieses Werk, Dank für den hoffnungsreichen Zuspruch, welchen Sie auch mir damit bereitet haben, und lassen Sie mich es Ihnen ausdrücken, wie sehr es mich erhoben hat, mich mit meinen bescheidenen Bestrebungen den großen und tiefen Gedanken eines Mannes, wie Sie, so nahe verwandt fühlen zu dürfen.

Was Sie der Eigensucht und dem Vorurtheil, was Sie den ungläubig Zweifelnden, auf dem sonnenklaren Wege Ihres Denkens deutlich und einleuchtend zu machen trachten, das habe ich, bei den verschiedensten Anlässen, an dem praktischen Beispiel darzuthun versucht – und in Ihrem Vaterlande, wie in dem meinen, haben Sie und ich einen mächtigen Bundesgenossen zu gewärtigen, an der geistigen Verkümmerung und an der leiblichen Noth, in welcher nur zu viele Frauen schmachten.

In Deutschland hat diese wachsende Noth in den letzten Jahren siegreich wie ein Aufklärer gewirkt. Sie hat Viele, die nicht sehen wollten, gezwungen, das Auge zu öffnen. Noch vor wenig Jahren wurde man von den meisten Männern, und nicht minder von den wohlversorgten Frauen, mit einem überlegenen Lächeln abgewiesen, wenn man auch nur von der Berechtigung der Frauen zur Selbstständigkeit und zu[6] selbstständigem Erwerbe sprach; – und jetzt, in dieser letzten Woche, haben hier in Berlin eine beträchtliche Anzahl von Frauen aus allen Theilen von Deutschland, als Abgeordnete der Vereine für die Erhebung und die Gewerbthätigkeit der Frauen, eine Conferenz abgehalten, bei welcher einer unserer verdientesten Männer, Professor von Holzendorf, mit Fräulein Louise Büchner aus Darmstadt, mit Frau Scheppler Lette aus Berlin, und mit Frau Kate Doggett aus Chicago den Vorsitz geführt hat.

Die Conferenz ist würdig und für die Zukunft fördersam verlaufen, und sie würde Ihnen den besten Beweis dafür geliefert haben, daß Sie, verehrter Herr! den geistigen Standpunkt der deutschen Frauen in Ihrem Werke bedeutend unterschätzten.

Ich kenne keine Nation, die englische und die amerikanische nicht ausgenommen, in welcher das Mittelmaaß der allgemeinen Bildung unter den Frauen höher stände, als bei uns. Und wenn ich auch in den Briefen, welche ich Ihnen hiermit übersende, die gerechte Klage ausgesprochen habe, daß bei uns den Frauen eine gründliche wissenschaftliche Bildung ebenso fehle, wie eine solide Anleitung für praktische Thätigkeit, so ist doch dieser Mangel, so weit ich es erfahren und selbst beobachtet habe, heute fast noch überall vorhanden, bei Ihnen sowohl als hier bei uns – wenn wir auch hüben und drüben ehrenvolle Ausnahmen[7] verzeichnen dürfen. Keines Falles stehen aber die deutschen Frauen auf dem Standpunkte der in Klöstern erzogenen Frauen der romanischen Stämme. Schon die freudige und verständnißvolle Zustimmung, mit welcher Ihr Werk zu Gunsten der Frauen, von so vielen meiner Landsmänninnen aufgenommen worden ist, muß Ihnen ein Beweis dafür sein, daß die deutschen Frauen sich zu denjenigen Frauen zählen dürfen, welche es verdienen, in John Stuart Mill ihren Vertreter gefunden zu haben.

Genehmigen Sie die Versicherung hoher Verehrung für Sie, und des Dankes für Ihr Werk, von einer Frau, die seit nahezu einem Menschenalter in ihrer literarischen und privaten Thätigkeit dieselbe hochwichtige Aufgabe in ihrem Vaterlande nach Kräften zu fördern, nicht ohne Erfolg bestrebt gewesen ist.


Berlin, 1869 am 10. November,

dem Geburtstage Schiller's.


Fanny Lewald-Stahr.

Quelle:
Fanny Lewald: Für und wider die Frauen. Berlin 1870.
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