Dreizehntes Capitel

[359] Am Mittage durchlief das Gerücht die Stadt, daß der Major Freiherr von Arten im Duell erschossen sei.

Man erzählte es Paul, als er eben in die Börse eintrat, denn man wußte, daß er mit dem Freiherrn in mannigfachem Verkehr gestanden habe. Trotz seiner gewohnten Festigkeit bemerkte man, daß ihn die Nachricht sehr erschrecke. Er suchte sich so schnell als möglich frei zu machen, gab seinem Disponenten die nöthigen Anweisungen für die heute zu ordnenden Geschäfte und fuhr augenblicklich nach dem Artenschen Hause.

Alles war dort in der völligsten Zerstörung. Vittoria lag in heftigen Krämpfen, Cäcilie rang an der Leiche ihres Gatten, die man vor einer Stunde in seinem Wagen nach Hause gebracht hatte, verzweiflungsvoll die Hände, ihre Mutter und ihre Schwester waren bei ihr. Die Gräfin Berka war die Einzige, die ihrer selber Herr war und große Fassung zeigte.

Sie war es auch gewesen, die in dem Zimmer des verstorbenen Freiherrn einen von ihm an seine Gattin zurückgelassenen Brief aufgefunden hatte. Ein paar andere Briefe hatten daneben gelegen, einer davon war an Paul gerichtet, und Hildegard, welche die Leitung aller Angelegenheiten übernommen zu haben schien, händigte ihm denselben aus. Er lautete:

»Wenn Sie diesen Brief empfangen, bin ich nicht mehr am Leben, und es sind die Wünsche eines Hingegangenen, die er Ihnen überbringt. Möge Ihr großer Sinn sie Ihnen heilig machen.[359]

Die Vorsehung, die uns aus Einem Stamme erstehen ließ und unsere Lebenswege dennoch trennte, hat uns in den letzten Jahren in ihrer Weisheit einander angenähert, als wolle sie mir den Pfad zeigen, auf dem ich zu gehen, und die Weise angeben, in welcher ich das Erlöschen unseres alten Stammes in dem Augenblicke zu verhindern habe, in welchem der Letzte Derer, die bis jetzt den Namen unseres Hauses mit Recht besessen, von der Erde scheidet.

Das Blut der Freiherren von Arten fließt in Ihren Adern; meines hingegangenen Vaters Ebenbild, die Züge unserer Ahnen leben in Ihnen, und selbst – ich habe, da der Himmel mir keine Kinder gegeben hat, dies stets mit schmerzlicher Rührung wahrgenommen – in Ihren Söhnen leben sie noch fort. Wie mein Vater in dem Sinne und nach dem Ehrengebote unseres Standes und unseres Hauses handelte, als er es sich versagte, Sie öffentlich als seinen Sohn anzuerkennen, so handle ich, ich bin deß sicher, in seinem Geiste und in dem Geiste unseres Hauses, wenn ich danach trachte, den edlen, alten Namen der Freiherren von Arten-Richten nicht untergehen zu lassen.

Meine Vermögensverhältnisse, die Sie kennen, machen es für die Baronin Cäcilie unmöglich, die Richtener Güter zu behalten, und ich weiß es aus dem Munde meines verstorbenen Lehrers und Erziehers, des Caplans, daß Ihre Mutter am Vorabende ihres freiwilligen Todes Sie ermahnt hat, nach dem Besitze des Schlosses zu streben, das sie Ihnen an jenem Abende als Ihres Vaters Haus bezeichnete.

Es war das eine Vorstellung, die mir alle Zeit quälend gewesen ist, seit sie, es war als ich in den russischen Feldzug ging, zuerst in mir erweckt wurde, und sie hat mich, wie eine unheimliche Ahnung, stets befallen, so oft ich in Ihre Nähe gekommen bin. Dieses Geständniß, welches Ihnen zu machen ich jetzt kein Bedenken trage, wird Ihnen Vieles in meinem Verhalten[360] gegen Sie erklären, das Ihnen vielleicht bisher nicht verständlich gewesen ist und Sie zu nachtheiligen Ansichten über mich verleitet haben mag.

Was mich einst von Ihnen fern hielt, führt mich jetzt, da ich mein Leben und das Schicksal unseres Hauses in großem Ueberblicke betrachte, auf Sie und zu Ihnen zurück.

Ich habe Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen, der sich als den ersten Edelmann seines Landes anzusehen geruht und dessen Gnade ich mich versichert zu halten Ursache habe, die Verhältnisse unseres Hauses aus einander gesetzt. Wenn dieser Brief in Ihre Hände kommt, hat Seine Königliche Hoheit auch mein Ansuchen bereits empfangen, und ich zweifle nicht, daß es bei ihm eine geneigte Stätte finden und daß Er Selber wünschen wird, den Namen eines alten Geschlechtes, das schon vor den Hohenzollern in unserer Heimath angesessen gewesen ist, auch für die Zukunft zu erhalten.

Richten muß verkauft werden; kaufen Sie es an! Vereinigen Sie die Güter wieder, deren mich zu entäußern ich gezwungen war, und führen Sie in Sich und Ihren Kindern den Namen unseres gemeinsamen Vaters weiter fort. Unser Wappen wird in Ihren Händen wohl aufgehoben sein. Sie haben sein fortis in adversis! beherzigt und bewährt.

Und so empfangen Sie mit dem Segen und den Wünschen, die ich Ihnen über mein Leben hinaus für das Gedeihen unseres Geschlechtes zurufe, auch meine letzten Bitten. Es sind ihrer nicht viele, und sie sind selbstverständlich. Nehmen Sie Sich berathend und hülfreich meiner theuren Cäcilie, meiner Witwe an; stehen Sie auch der Baronin Vittoria und ihrem Sohne mit Ihrer Erfahrung großmüthig zur Seite und sorgen Sie dafür, daß ich in unserer Familiengruft in Rothenfeld bestattet werde. Es ist ein erhebender Gedanke in jenem biblischen ›zu seinen Vätern versammelt werden‹![361]

Und damit ›Lebewohl‹! Möge der neue Stamm, den Sie begründen, glücklicher sein, als ich es gewesen bin! Des Himmels Segen über sein Gedeihen!«

Schweigend und in tiefe Gedanken versunken, hielt Paul das Blatt eine Weile in seinen Händen; schweigend und in tiefe Gedanken versunken stand er an des Freiherrn schöner Leiche. Cäcilie war wie vernichtet. –

Noch vor dem Ende des Jahres ward der Sarg, in dem Renatus ruhte, nach Rothenfeld gebracht. Cäcilie hatte gewünscht, die Leiche ihres Gatten zu seiner letzten Stätte zu begleiten, und Herbert war ihr eine Strecke entgegengereist, um die trauernde Witwe zum Verweilen in seinem Hause einzuladen. Man mochte sie nicht in das verödete Schloß nach Richten gehen lassen. –

Im Frühjahr kam Richten zum Verkauf. Es war zwischen den Freunden, zwischen Steinert, Herbert und Paul, von Anfang an fast selbstverständlich gewesen, daß Einer von ihnen, daß Paul es an sich bringen müsse. Er hatte schon lange daran gedacht, einen Landbesitz zu erwerben, auf welchem er alljährlich ein paar Monate mit den Seinen in ruhiger Zurückgezogenheit verleben könne, und bei seinem großen Vermögen war es ohnehin gerathen, einen Theil desselben in Grund und Boden festzulegen. Allerdings gab es südlichere Gegenden, deren Naturschönheit verlockender gewesen wäre; aber die Aussicht, Steinert und Herbert zu Nachbarn zu bekommen, die Gewißheit, daß ihre Aufsicht und Erfahrung seinem Besitze zu Statten kommen werde, waren hoch zu veranschlagen, und über dies alles hinaus, Paul läugnete sich das keineswegs fort, wirkten seine Jugend-Eindrücke bestimmend auf ihn ein.

Es war ein eigenartiges Empfinden, mit welchem er den Kauf-Contract über die Richtener Güter unterzeichnete, eine[362] ergreifende Erinnerung, mit welcher er als Besitzer mit den Seinen in Schloß Richten einzog.

Die Erntezeit war, als er in Richten eintraf, schon vorüber, denn es hatte der unerläßlichen Instandsetzungen in dem seit Jahren nicht bewohnten Schlosse doch so viele gegeben, daß trotz der Bemühungen der beiden Herbert's der Monat August herangekommen war, ehe man daran denken konnte, das Schloß mit Behagen zu beziehen.

Nun hatten die neuen Eigenthümer sich in demselben heimisch eingerichtet, und am ersten Sonntage, den man mit Ruhe dort verlebte, waren die befreundeten Familien von Neudorf und von Rothenfeld mit ihren verheiratheten Kindern und Enkeln nach Richten herübergekommen.

Mit großer Genugthuung, aber doch innerlich bewegter, als er es zeigte, saß Paul an dem Mittage mit seiner Familie und seinen Gästen auf der Terrasse, die nach dem Parke hinunterführte. Man hatte in dem chinesischen Häuschen am oberen Ende der Terrasse, das Herbert nicht verändern lassen, ein Frühstück für die große, buntgemischte Gesellschaft aufgetragen. Es waren stattliche Greise, tüchtige Männer und Jünglinge, heitere Matronen, fröhliche junge Frauen und dazu Kinder beiderlei Geschlechtes, die sich in ihrer lauten Lust kaum Genüge zu thun wußten.

Seba mit ihrem sanften Ernste saß an Eleonorens Seite; sie konnte nicht aufhören, an die Baronin Angelika zu denken, die hier an derselben Stelle einst ihre Eltern bewirthet, die hier in solcher milden Herbstessonne die letzten Tage ihres Lebens zugebracht hatte, und auch in Herbert tauchte ein altes, schönes Erinnern mit seiner stillen Wehmuth auf. Fast in Allen lebte mehr oder weniger deutlich das Bewußtsein der großen Wandlungen, welche sich in ihnen selber und während der letzten vierzig Jahre auch in der Erkenntniß und in dem Gemeingefühl der ganzen Menschheit befreiend und erlösend vollzogen hatten.[363]

Während man in gutem Gespräche so beisammen saß, brachte der Diener dem neuen Besitzer von Richten die Briefe, welche von seinem Geschäftsführer ihm regelmäßig nach dem Gute gesendet wurden. Paul legte sie ruhig zur Seite, da er in diesem Augenblicke sie doch nicht zu erledigen und zu beantworten vermochte; nur ein Brief schien ihm durch Form und Siegel aufzufallen, und er eröffnete ihn. Er kam aus dem Kabinette des Kronprinzen.

Eine flüchtige Röthe und ein feines Lächeln flogen über das Angesicht des Lesenden. Seba und Davide blickten ihn fragend an.

Es ist eine Gnade, die man mir anzuthun denkt, sagte er gelassen. Der König ist, wie es in dem Schreiben heißt, nicht abgeneigt, mich in Anerkennung meiner Verdienste um die heimische Industrie und als jetzigen Besitzer der Güter eines edeln Hauses unter Beilegung des Namens und Titels der Herren von Arten, wie der Letzte dieses Hauses und Stammes es von ihm erbeten hat, in den Adelstand zu erheben.

Die Anwesenden sahen einander an und blickten dann fragend auf den Sprechenden.

Paul hatte das Schreiben bereits wieder zur Seite gelegt. Die Sache kommt mir nicht unerwartet, sagte er. Der Staat ist klug genug, sich der Besitzenden so viel als möglich versichern und den finanziellen Schwerpunkt so viel als möglich dem Bürgerthum entziehen zu wollen. Ich hatte es für sehr wahrscheinlich gehalten, daß man mir dieses Anerbieten machen würde.

Und Du hast es nicht gehindert? fragte Steinert, dessen fester, aber eben deßhalb zum Argwohn geneigter Bürgersinn sich nicht gleich in die Handlungsweise des Freundes zu finden wußte.

Wie sollte ich ablehnen, was man mir noch nicht angeboten hatte? entgegnete Paul. Aber sei unbesorgt, alter Freund, ich gehöre weder zu denen, die Gnaden zu erbitten, noch zu[364] denen, die unerbetene Gnade anzunehmen gewohnt sind! – Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: Der verstorbene Freiherr Renatus hat es auf seine Weise wohlgemeint und er hat als ein wahrer Repräsentant seiner Kaste nur an sich und seine Ehre, an sich und seinen Stamm und an die Erhaltung seines Namens gedacht, nicht an mich, an meine Ehre und an meinen Stamm. Er konnte es sich von seinem Standpunkte aus nicht denken, daß ich keines andern Namens begehren kann, als dessen, welchen ich selber mir erschaffen habe, und daß derjenige, der mich aus meinem Stande in einen andern nicht nur versetzen, sondern sogar erheben zu können glaubt, mich und meine ganze Vergangenheit beleidigt; denn er erniedrigt in mir nicht nur mich selbst, sondern alle Diejenigen, welche mit mir bisher als mit Ihresgleichen in achtendem Vertrauen verbunden gewesen sind. Und ich lebe der sichern Hoffnung: von uns Allen, die wir heute hier in meinem Hause beisammen sind, soll keiner je danach verlangen, etwas Anderes zu sein, als ein unbescholtener, unabhängiger Mann, ein nützlicher Bürger seines Vaterlandes! Darauf laßt uns anstoßen, daß ein starker, freier Bürgersinn auch unter unsern Kindern und Kindeskindern mächtig sein und daß er die Freiheit, deren wir nach allen Seiten noch bedürfen, heraufführen helfen möge über unser Volk und über die ganze Welt!

Er hob sein Glas, sie drängten sich Alle um ihn; seine Brust athmete frei und stolz.

Am Abende, da alle seine Gäste unter seinem Dache bereits die Ruhe gesucht hatten, trat er mit Daviden noch einmal aus seinem Zimmer auf die Terrasse hinaus. Er hatte seinen Arm um seines Weibes schlanken Leib gelegt, und in stillem Frieden wandelten sie langsam und schweigend hin und wieder.

Der Mond war inzwischen emporgestiegen, die Nacht war sehr warm, der volle Duft der Levkojen und des Reseda erfüllte die ganze Luft. Fortgezogen von der Schönheit der Nacht,[365] stiegen die Beiden von der Terrasse hinunter und gingen dem Flusse zu, über dessen Wasser die Mondstrahlen eine goldene Brücke bauten.

Jenseit des Wassers blieben die beiden Eheleute stehen. Das Schloß lag vor ihnen, der Mond erhellte es in seiner ganzen Stattlichkeit.

Sieh, sagte Paul, hier habe ich gestanden, hier an dieser Stelle, mit meiner armen Mutter an dem Tage, ehe sie sich das Leben nahm. Aber es war ein rauher, kalter Abend, der Nebel stieg von dem Wasser empor, die welken Blätter flogen in der Luft empor. Ich wunderte mich damals über die vielen Schornsteine des Schlosses und über die vielen Fenster, denn ein so großes Gebäude hatte ich nie zuvor gesehen, und weil die untergehende Sonne sich in den Fenstern spiegelte, fragte ich die Mutter, wer darin wohne. – Er hielt inne, dann sagte er sehr bewegt: Du kommst nicht hinein, sprach sie zu mir; hinter den blanken Fenstern, in denen die Sonne sich spiegelt, werden glückliche Kinder wohnen ...!

Er konnte nicht weiter sprechen, trotz seiner Kraft überwältigte ihn diese Erinnerung doch. Davide umschlang ihn, in Verehrung, in Glück und Liebe zu ihm emporsehend.

O, mögen sie immer, immer glücklich sein, die geliebten Kinder, denen Du dieses Haus bereitet hast! rief sie mit hoffendem Wunsche aus.

Sie werden es bleiben, sprach Paul, der sich schnell wieder ermannte, wenn Du mir hilfst, sie dahin zu erziehen, daß sie, in sich selbst beruhend, in der Arbeit ihren Beruf, in der Freiheit ihre Ehre, in der ganzen Menschheit ihre Brüder erkennen lernen, und wenn sie maßvoll und ohne Eitelkeit im Glücke, wie der Wappenspruch dieses Hauses lautet, »stark im Ungemache sind«. Laß uns danach trachten, laß uns darauf hoffen und vertrauen!

Fußnoten

1 Ich bin im dritten Kreis des ew'gen, kalten, gottverfluchten Regens!


Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1871.
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