Georg Christoph Lichtenberg

Über Physiognomik;

wider die Physiognomen

Zu Beförderung der Menschenliebe

und Menschenkenntnis

Not working with the Eye without the Ear,

And, but in purged Judgment, trusting neither.

Shakespeare


An den Verleger


Dir, guter Mann, führe ich hier auf Dein Verlangen zum zweitenmal, ein Geschöpf vor, das Dir in seiner Kindheit viel Vergnügen gemacht hat. Du kleidetest es damals in Gold und Seide und so gefiel es: itzt, etwas mehr erwachsen, aber noch nicht viel weiser, hat es jenen Flitterstaat abgelegt und wird schwerlich mehr gefallen. Im männlicheren Habit werden Fehler beides merklicher und unverzeihlicher. Versage aber deswegen Deinem ehmaligen Liebling Deinen Beistand noch nicht. Unter meiner beständigen Aufsicht sollen künftig seine kleinen Untugenden, wonicht ausgerottet, doch gezäumt, und seine Tugenden, die Du auch durch das wilde Feuer und den dreisten Blick nicht verkennen wirst, genährt, und zum stehenden Charakter gestärkt und befestigt werde.

Beim nächsten Besuch wird es als Mann erscheinen, in dem vorteilhaftesten Putz, den ich von Chodowiecki für ihn erhalten kann; und dann, mein Freund, sollen hoffentlich Chodowiecki, Du und ich, ein jeder nach seiner Art, Vergnügen und Unterstützung von ihm genießen. Ich bin

Dein

aufrichtiger Freund

der Verfasser[256]


Einleitung zur zweiten Auflage


Nachstehende Abhandlung über Physiognomik, die in dem Göttingischen Taschen-Kalender für dieses Jahr zuerst erschien, und bloß für ihn allein geschrieben war, erscheint hier auf vielfältiges Verlangen in einem gröberen Druck. Unleserlichkeit des Drucks war, nach dem Urteil jener Freunde, der hauptsächlichste Fehler der Abhandlung. Wie nun auch dieses Lob gemeint gewesen sein mag, so habe ich es so verstanden, wie man gemeiniglich sein Lob gern versteht, und außer dem gröbern Druck, wenig auf Verbesserungen gedacht. Zusätze, die auch der flüchtigste Leser des ersten Abdrucks nicht leicht in diesem übersehen wird, kann ich nicht ganz hieher rechnen, sie sind größtenteils des Lichts wegen hinzugekommen, wodurch nicht jede Schrift, so wie nicht jedes Gesicht, gewinnt. Die meisten darunter stunden schon im Manuskript des Aufsatzes und wurden nur, während des Abdrucks, damit nicht ein ganzes, kostbares Sedez-Bändchen mit Physiognomik angefüllt würde, hier und da ausgehoben.

Ich hoffe durch sie, so wenig ich auch sonst damit gewinnen mag, wenigstens bei den bequemeren Köpfen einer ferneren Mißdeutung meiner Absicht vorzubeugen. Diese war gar nicht ein bekanntes weitläuftiges Werk zu widerlegen. Wer dieses tun wollte, müßte es wenigstens nicht in Sedez bei einem Publikum unternehmen, bei welchem groß Quart so viel ist als Demonstration. Ich wollte vielmehr einigen gefährlichen Folgerungen begegnen, die schon hier und da von Jünglingen und Matronen aus jenem Werk gezogen zu werden anfingen; Ich wollte hindern, daß man nicht zu Beförderung von Menschenliebe physiognomisierte, so wie man ehmals zu Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; Ich wollte Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstands lehren, bei welchem Irrtum leichter ist und gefährlicher werden kann, als bei irgend einem andern, Religion ausgenommen; Ich wollte Mißtrauen erwecken gegen jene transzendente Ventriloquenz, wodurch mancher glauben gemacht wird, etwas das auf Erden gesprochen ist, käme vom Himmel; Ich wollte hindern, daß, da grober Aberglaube aus der feineren Welt verbannt ist, sich nicht ein klügelnder an dessen Statt einschliche, der eben durch die Maske der Vernunft, die er trägt, gefährlicher wird, als der grobe. Wir denken feiner, reden feiner[257] und faseln feiner. Jetzt sind es Zeichen an der Stirne die man deuten will, ehmals waren es Zeichen am Himmel; Ich wollte endlich zeigen, daß man, durch ein paar armselige Beispiele von Hunden, Pferden, Dreigroschen-Stücken und Obst, die man allenfalls noch, (nicht immer,) aus dem Äußern beurteilt, verleitet, noch nicht vom Leib auf ein Wesen schließen könne, dessen Verbindungsart mit ihm uns unbekannt ist, und überhaupt nicht auf den Menschen schließen kann; auf diese Welt von Chamäleonism mit Freiheit; auf das Tier, das selbst den Galgen auf der Stirne Lügen strafen und Leidenschaften ermorden könnte, So gut wie sich selbst, wenn es wollte; das von Ehr- oder Geldgeiz oder Liebe angeflammt, alles vermag, oder doch sehr viel mehr als der bisherige Sklave der Gebräuche seiner Väter noch weiß. Was für ein unermeßlicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele! Hätten wir einen Sinn die innere Beschaffenheit der Körper zu erkennen, so wäre jener Sprung noch immer gewagt. Es ist eine ganz bekannte Sache, daß die Instrumente nicht den Künstler machen und mancher mit der Gabel und einem Gänsekiel bessere Risse macht als ein anderer mit einem englischen Besteck. Der grade Menschen-Verstand sieht auch dieses bald; es ist nur der Neuerungsgeist, der es nicht sehen will, und die sich in falschen Hoffnungen wiegende müßige Klügelei, die es nicht sieht. Wenn ein Schiffs-Capitain einem Kerl, der sich ihm mit Enthusiasmus zum Dienst anbietet, antwortet: Dein Wille ist gut, allein du taugst dem ohngeachtet nicht für mich, deine Schultern sind zu schmal und du überhaupt zu dünne und aufgeschossen, so muß der gute Kerl die Hand vielleicht auf den Mund legen. Aber wenn jemand sagte: du handelst zwar wie ein ehrlicher Mann, ich sehe aber aus deiner Figur, du zwingst dich und bist ein Schelm im Herzen: Fürwahr eine solche Anrede wird bis ans Ende der Welt von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert werden. Doch ich will der Abhandlung selbst durch die Einleitung nicht länger vorgreifen. Dieses waren meine Absichten bei der (ich gestehe es) flüchtig geschriebenen Abhandlung für einen Kalender, dessen Dauer auf dem Titul viel zu groß angegeben ist, und der gemeiniglich mit den Christgärtgen und übergüldeten Walnüssen schon verschwindet, in deren Gesellschaft er, ein gleich buntes Geschöpf, erscheint. Zum Teil habe ich sie gewiß hier und da erreicht. Wenn nicht ganz, was schadets? Diese Schrift soll, wenn mir der Himmel Gesundheit gewährt,[258] weder die einzige, noch die kleinste, noch auch die freimütigste sein, womit ich sie zu erreichen wenigstens suchen will. Habe ich die Warnungs-Linie hier und da allzuweit vom Abgrund gezogen, so muß ein solcher Fehler bei einer Absicht gewiß verzeihlich sein, bei welcher selbst Sophisterei verzeihlich wäre. Die Wahrheit gewönne auch alsdann noch. Sie steht nie aufrechter, als wenn sie, dem kräftigen pro gegenüber, von einem kräftigen contra gestützt wird.

Ich habe gesagt ich wollte der Abhandlung selbst in der Einleitung nicht länger vorgreifen, aber schließen kann ich die Einleitung demohngeachtet noch nicht eher, als ich mich über einiges erklärt habe, was dort teils zu sehr zerstreuen könnte, teils auch vorher zu wissen nötig ist. Wäre die schnelle Ausbreitung der Physiognomik in unserm Vaterland, die Frucht eines sich über alles erstreckenden Beobachtungsgeists, gut, so könnte man einer solchen Ausschweifung desselben einmal desto gelassener zusehen, je früher er alsdann davon zurück kommen würde. Allein wer unserm Zeitalter herrschenden Beobachtungsgeist zuschreibt, der muß nicht wissen was Beobachtungsgeist ist, oder kennt unser Vaterland nicht. Diese schnelle Ausbreitung wird weit leichter und natürlicher aus dem so gemein gewordenen Bestreben erklärt, sich mit den wenigst-möglichen Kenntnissen, den größt-möglichen Anschein davon zu geben; eine Aufgabe aus einer Mathematik, die unsere sonoren Philosophen und Aristarchen verstehen und ausüben, ut apes Geometriam. Denn wo ist es leichter sich das Ansehen eines denkenden Kopfs zu geben als in Untersuchungen, wo Schwierigkeit etwas Zusammenhängendes und Bleibendes zu sagen an physische Unmöglichkeit grenzt, und wo folglich der graubärtige Untersucher immer Verwirrung und Ungewißheit genug antreffen muß, auch die Beobachtung des jüngsten Plunderkopfs wichtig zu finden? Überdas erwirbt die vermeintliche Einweihung in die Mysterien der Physiognomik in der Gesellschaft, zumal der schwachen, jene Art heimlichen, und daher schmeichelhaften Zutrauens, welches gutherzige Geschöpfe und Mädchen nie denen versagen, die die natürliche Schwachheit ihres Herzens näher kennen als die Menge. Es ist ein Mittel zwischen Freundschaft und Liebe, und ähnlicht darin einem gewissen Kredit der Hebammen, denen, wie man mir gesagt hat, auch die ledigen, unschuldigen Mädchen gewogen sein sollen.[259]

Das übrige, was ich noch zu sagen habe, betrifft einen Gegenstand, von welchem ich mich, so angenehm er mir auch zwischen meinen vier Wänden sein mag, nicht gern öffentlich unterhalte: Mich selbst. Ich halte es aber für meine Pflicht eine kurze und aufrichtige Rechenschaft von meinen physiognomischen Bemühungen zu geben. Leid ist es mir, daß ich es selbst tun muß, indessen wäre auch rechtskräftige Bestättigung von allem was ich sagen werde, noch zur Zeit in meinen Händen, und ich bin außerdem stolz genug zu glauben, daß wenigstens einige in der Abhandlung gemachte Anmerkungen, so lang bis mir jene abgefordert wird, die Stelle vertreten werden.

Von meiner ersten Jugend an waren Gesichter und ihre Deutung eine meiner Lieblings-Beschäftigungen. Ich habe mich und andere gezeichnet, ehe ich die geringste Absicht sah. Ich habe nicht einzelne Blätter, sondern Dutzende von Bogen voll Gesichter gekritzelt und ihre Bedeutung nach einem dunkeln Gefühl darunter geschrieben; oft mit einzeln Worten und oft in Zeilen: Ökonomie; noch zur Zeit nicht gehenkt u.d.gl. Sehr früh habe ich mir Dinge unter Bildern gedacht, die sich andere entweder nicht unter diesen Bildern denken, oder wenigstens mit dem Bleistift auszudrücken nicht in sich selbst erwacht genug sind. Daß die Distanz von 1 bis 100 in unserer Vorstellung größer ist als die von 100 bis 500 habe ich sehr früh bemerkt und durch Linien und Flächen auszudrücken gesucht. Ich habe Bilder von Wochentagen gezeichnet, wozu mir Schulzwang und Schulfreiheit, und vermutliche Beschaffenheit der Mittagskost, und, wo ich mich selbst verstehe, der Laut des Worts die Striche hergaben. Der Tisch wird noch in D. vorhanden sein, auf den ich, zu nicht geringem Vergnügen meiner Spielgefährten, vor fast 20 Jahren, das Bild mit Dinte zeichnete, das ich mir von dem halbfreien, wochehalbierenden und zwischen Freiheit und Zwang selbst wieder geteilten, wohltätigen Mittewochen machte. Die Schlüsse, die ein feinerer Kopf, als der meinige, hieraus auf meine übrigen Fähigkeiten ziehen mag, achte ich in der Tat wenig. Es ist unendlich schwerer der Welt glauben zu machen man sei, was man nicht ist, als würklich zu werden, was man zu sein scheinen will. Es ist ein Unterschied zwischen Quinquenniums-Kredit und Nachruhm. Die Menschen können hier und da hintergangen werden, der Mensch nie. Ich setze diese Ausschweifungen her, und überlasse dem Leser sich selbst den Faden aufzusuchen, durch den sie mit Physiognomik zusammenhängen.[260] In der Abhandlung selbst wird einiges vorkommen, was die Aufsuchung erleichtert.

Im Jahr 1765 und 1766 las ich drei Abhandlungen im hiesigen historischen Institut öffentlich vor, die ich aber nachher unterdrückte. Sie setzten eine Idee auseinander, die ich mir damals von einer vollkommenen Schilderung eines Charakters in einer Geschichts-Erzählung machte, mit einer Anwendung auf einige Charaktere des Sallust. Sie enthielten viel Physiognomisches und waren die hauptsächlichste Veranlassung, daß nachher, als Herrn Lavaters erster Entwurf im Hannöverschen Magazin erschien, ein Göttingischer Lehrer mich für den Verfasser dieses schön geschriebenen Aufsatzes hielt. Die ungegründete, aber für mich allemal schmeichelhafte Mutmaßung dieses Gelehrten munterte mich nicht wenig auf fortzufahren. Ein junger Schwede von ungewöhnlichem Geist, mein vertrauter Freund, bestärkte mich in meinem Vorsatz sowohl durch seine eigne Beobachtungen, als auch durch die Versicherung, daß sein Landsmann Graf Tessin es in Physiognomik ehmals zum Erstaunen weit gebracht haben sollte. Im Jahr 1770 sowohl als in 1774 und 1775 stellte ich in England mit großem Eifer physiognomische Beobachtungen an, die oft so gefährlich waren, als die über die Gewitter-Elektrizität, und einmal hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich ein physiognomischer Richmann geworden. Ich habe dort Männer gesehen und gesprochen, berühmte und berüchtigte durcheinander, die mit unter die merkwürdigsten der neuern Zeit gehören, und deren Wert und Unwert, durch das Urteil der besten Köpfe von Petersburg bis Madrid längst entschieden ist. Nicht junge, geniesüchtige, kenntnisleere Köpfe, die von dem Strahl eines Zeitungslobs erwärmt, sich ein wenig erheben, und bald darauf zu Tausenden auf immer hinfallen; keine von unsern berühmten nachäffenden Originalen, deren Ruhm erst von einer freundschaftlichen Kandidaten Junta posaunt, nun nur noch als Echo aus leeren Köpfen widerhallt, und deren Profile demohngeachtet gebraucht worden sind, Punkte für die physiognomische Linie der Kraft zu finden. O was wird die Nachwelt sagen, wenn sie von der daunigten, hinbrütenden Wärme des Genies und dem Wort: Es werde, das man von den Schattenrissen dieser Leute, so zuverlässig weglas, als hätte es Dieterich dahin gedruckt, nicht eine Spur in den Werken derselben finden wird? Wie wird sie lächeln, wenn sie dereinst an die bunten[261] Wörtergehäuse, die schönen Nester ausgeflogener Mode, und die Wohnungen weggestorbener Verabredung anklopfen, und alles, alles leer finden wird, auch nicht den kleinsten Gedanken, der mit Zuversicht sagen könnte: herein?

Allein was war am Ende das Resultat aller meiner Bemühungen? Nichts, als ein wenig nähere Bekanntschaft mit dem Menschen und mir, und dann ein Mißtrauen gegen alle Physiognomik, das einen so gänzlichen Bruch zwischen ihr und mir veranlaßte, daß ich fürchte zu einer Ausbesserung desselben oder selbst nur zum Entschluß es wieder zu versuchen, würde mehr Zeit nötig sein, als ich zu leben hoffen kann. Einige Gründe hiervon stehen in der Abhandlung. Alle anzugeben hinderte mich zweierlei: Einmal, die Absicht der Schrift, die auch hier wieder als Kalender-Abhandlung erscheint, das ist, mehr für die Menge als den Gelehrten; und dann die gewisse Hoffnung, die mir zu der Gelegenheit ist gemacht worden die übrigen noch in diesem Jahr anzubringen.

Eben da ich dieses schreibe, wird mir der November des Weimarschen Merkurs gebracht, mit der Versicherung, daß sich darin schon jene Gelegenheit zeige. Es war aber nichts; eine bloße postica sanna, (Nachruf nennt sie der Verfasser) die ein gewisser Z. dieser Abhandlung wegen hinter mir anstimmt. Außer einem hofdeutschfranzösischen Schimpfwort, und einem für diesen galanten Schriftsteller sehr ungeschickten Übergang von vermeintlichem Spott zu wenig ermunterndem Lob, und am Ende einem kleinen Spaß für die auf dem 3-Groschen-Platz, habe ich wenig gefunden, was wider mich wäre. Was der Verfasser für Physiognomik sagt, ist unbeträchtlich, und in der Abhandlung selbst hinlänglich widerlegt; und was er wider Pathognomik mit Mühe vorbringt, ist wohl aus Mißverständnis dahin gekommen, denn ich, ich selbst habe ihre Untrüglichkeit im Kalender schon besser bestritten als er.

Mein Schattenbild, wenn er es zu haben wünscht, kann er bei dem Verleger abfordern. Ich fürchte aus innerer Überzeugung den Physiognomen für Ehre deswegen so wenig, als jeden andern Handschauer und Zeichendeuter für Brod; und weniger. Ein schwärmender Beobachter, der einmal in seinem System ohne Hoffnung zu einem Zurückzug steckt, ist allemal verdächtig, da hingegen der Hunger, zumal in Gesellschaft des schlauen Betrugs, fast so gut beobachtet als er kocht. Auf Lob oder Tadel, auf meinen Schattenriß[262] gegründet, würde ich nichts erwidern, als: Nimm dich in acht, Voreiliger, der Beifall unserer Zeit ist verdächtig; und doch gebiert Überredung anderer, rückwärts Selbstüberzeugung vor wie nach; unterscheide ihn genau und trenne den Tribut vom Almosen; wäge einmal die Stimmen für und wider dich, die du bisher bloß gezählt hast, und bei jedem Schluß, den du ziehst, frage dich wenigstens einmal ehe du ihn niederschreibst: Ist dieses nicht vielleicht ein Gaßner der mich betrügt?

Göttingen im Jänner 1778.

G.C.L.

Über Physiognomik

Gewiß hat die Zollfreiheit unsrer Gedanken und der geheimsten Regungen unsers Herzens bei uns nie auf schwächern Füßen gestanden als jetzt, wenn man aus der Emsigkeit, der Menge und dem Mut der Helden und Heldinnen, die sich wider sie auflehnen, auf ihren baldigen Umsturz schließen darf. Man dringt von allen Seiten auf die zukommlichsten Werke ihrer Befestigung und wo man sonst geheimen Vorrat vermutet, mit einer Hitze ein, die mehr einem Gotisch-Vandalischen Sturm als einer überdachten Belagerung ähnlich sieht, und viele behaupten, eine förmliche Übergabe könne schlechterdings nicht mehr weit sein. Es gibt aber auch eine Menge minder sanguinischer Menschen, die dafür halten, die Seele liege über ihrem geheimsten Schatz noch jetzt so unzukommlich sicher, als vor Jahrtausenden, und lächle über die anwachsenden Babylonischen Werke ihrer stolzen Stürmer, überzeugt, daß sich, lange vor ihrer Vollendung, die Sprachen der Arbeiter verwirren, und Meister und Gesellen auseinander gehen werden.

Die Sache, wovon hier die Rede ist, ist die Physiognomik, und die erwähnten Parteien kein geringer Teil der guten Gesellschaft unsers Vaterlandes. Nach beider Grundsätzen lassen sich zerstreute Anmerkungen darüber in einem Taschen-Kalender rechtfertigen. Nach ersteren ist es das epochemachende Weltumschaffende, und nach letzteren Brauchbarkeit für das Jahr 1778 bei der Toilette.

Der Verfasser ist nicht von der Partei jener Belagerer, und man wird also in nachstehendem Aufsatz keinen förmlichen Unterricht[263] in der Physiognomik erwarten. Es ist auch in der Tat zu dieser Zeit Unterricht nicht mehr so nötig, als es die Ermahnung ist, ihn an den bekannten Orten mit Behutsamkeit und selbst mit Mißtrauen zu suchen; und diese allein enthält der Aufsatz. Denn ob Physiognomik überhaupt, auch in ihrer größten Vollkommenheit, je Menschenliebe befördern werde, ist wenigstens ungewiß: daß aber mächtige, beliebte und dabei tätige Stümper in ihr, der Gesellschaft gefährlich werden können, ist gewiß. Indessen alle Aufsuchung physiognomischer Grund-Regeln hemmen zu wollen, hat der Verfasser so wenig die Absicht als das Vermögen, und ferne sei es von ihm, sich Bemühungen zu widersetzen, die vielleicht, wie die ihnen ähnlichen, den Stein der Weisen zu finden, auf nützlichere Dinge leiten können, als ihr Zweck, ich meine: in diesen traurigen Tagen der falschen Empfindsamkeit Beobachtungsgeist aufwecken, zu Selbsterkenntnis führen und den Künsten vorarbeiten.

Um allem alten Mißverständnis auszuweichen und neuem vorzubeugen, wollen wir hier einmal für allemal erinnern, daß wir das Wort Physiognomik in einem eingeschränkteren Sinn nehmen, und darunter die Fertigkeit verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der äußeren Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschlüßlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemütsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll die ganze Semiotik der Affekten oder die Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen Pathognomik heißen. Das letztere Wort ist schon zu diesem Gebrauch vorgeschlagen worden. Es wird hier nicht nötig sein ein neues Wort zu machen, das beide unter sich faßte, oder welches besser wäre, statt des erstern ein anderes zu suchen, und dann Physiognomik zum allgemeinen Ausdruck anzunehmen, wie jetzt gewöhnlich ist, und wie es auch deswegen in der Aufschrift zu diesem Aufsatz genommen worden.

Niemand wird leugnen, daß in einer Welt, in welcher sich alles durch Ursache und Wirkung verwandt ist, und wo nichts durch Wunderwerke geschieht, jeder Teil ein Spiegel des Ganzen ist. Wenn eine Erbse in die Mittelländische See geschossen wird, so könnte ein schärferes Auge als das unsrige, aber noch unendlich stumpfer als das Auge dessen, der alles sieht, die Wirkung davon auf der Chinesischen Küste verspüren. Und was ist ein Lichtteilgen, das[264] auf die Netzhaut des Auges stößt, verglichen mit der Masse des Gehirns und seiner äste, anders? Dieses setzt uns oft in den Stand, aus dem Nahen auf das Ferne zu schließen, aus dem Sichtbaren auf das Unsichtbare, aus dem Gegenwärtigen auf das Vergangene und Künftige. So erzählen die Schnitte auf dem Boden eines zinnenen Tellers die Geschichte aller Mahlzeiten, denen er beigewohnt hat, und eben so enthält die Form jedes Landstrichs, die Gestalt seiner Sandhügel und Felsen, mit natürlicher Schrift die Geschichte der Erde, ja jeder abgerundete Kiesel, den das Weltmeer auswirft, würde sie einer Seele erzählen, die so an ihn angekettet würde, wie die unsrige an unser Gehirn. Auch lag vermutlich das Schicksal Roms in dem Eingeweide des geschlachteten Tieres, aber der Betrüger der es darin zu lesen vorgab, sah es nicht darin. Also wird ja wohl der innere Mensch auf dem äußeren abgedruckt sein? Auf dem Gesicht, von dem wir hier hauptsächlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unserer Gedanken, Neigungen und Fähigkeiten anzutreffen sein. Wie deutlich sind nicht die Zeichen, die Klima und Hantierung dem Körper eindrücken? und was ist Klima und Hantierung gegen eine immer würkende Seele die in jeder Fiber lebt und schafft? An dieser absoluten Lesbarkeit von allem in allem zweifelt niemand. Auch ist es nicht nötig, zum Beweis, daß es eine Physiognomik gebe, Exempel in Menge beizubringen, wo man aus dem Äußern eines Dinges auf das Innere zu schließen pflegt, wie einige Schriftsteller getan haben. Der Beweis wird sehr kurz, wenn man sagt: unsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen, und alles andere sind Schlüsse daraus. Besonderes Tröstliches folgt hieraus für Physiognomik, ohne nähere Bestimmung, nichts, da eben dieses Lesen auf der Oberfläche die Quelle unserer Irrtümer, und in manchen Dingen unserer gänzlichen Unwissenheit ist. Wenn das Innere auf dem Äußern abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren die wir suchen? So wird nicht verstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo zu viel zu sehen ist, sehen wir nichts. Das Gegenwärtige, sagt ein großer Weltweiser1, von dem Vergangenen geschwängert, gebiert das Künftige. Sehr schön. Aber was für eiteles, elendes Stückwerk ist nicht gleich unsere Wetterweisheit? Und nun gar unsere[265] prophetische Kunst! Trotz den Bänden meteorologischer Beobachtungen ganzer Akademien, ist es noch immer so schwer vorherzusagen, ob übermorgen die Sonne scheinen wird, als es vor einigen Jahrhunderten gewesen sein muß, den Glanz des Hohenzollerischen Hauses vorauszusehn. Und doch ist der Gegenstand der Meteorologie, so viel ich weiß, eine bloße Maschine, deren Triebwerk wir mit der Zeit näher kommen können. Es steckt kein freies Wesen hinter unsern Wetterveränderungen, kein eigensinniges, eifersüchtiges, verliebtes Geschöpf, das um einer Geliebten willen einmal im Winter die Sonne wieder in den Krebs führte. Entwickelten sich unsere Körper in der reinsten Himmelsluft, bloß durch die Bewegungen ihrer Seelen modifiziert, und durch keine äußere Kräfte gestört und bequemte sich die Seele wiederum rückwärts mit analogischer Biegsamkeit nach den Gesetzen, denen der Körper unterworfen ist: so würde die herrschende Leidenschaft, und das vorzügliche Talent ich leugne es nicht, bei verschiedenen Graden und Mischungen verschiedene Gesichtsformen hervorbringen, so wie verschiedene Salze in verschiedene Formen anschießen, wenn sie nicht gestört werden. Allein gehört denn unser Körper der Seele allein zu, oder ist er nicht ein gemeinschaftliches Glied sich in ihm durchkreuzender Reihen, deren jeder Gesetz er befolgen, und deren jeder er Gnüge leisten muß? So hat jede einfache Steinart im reinsten Zustand ihre eigne Form, allein die Anomalien, die die Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufälle, denen sie ausgesetzt sind, macht, daß sich auch oft der Geübteste irrt, der sie nach dem Gesicht unterscheiden will. So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden; erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach, dem uns nicht immer unser eigner böser Entschluß sondern oft Zufall und oft Pflicht aussetzen. Sind die Fehler, die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Künstlers, oder nicht auch Wirkungen ungeschickter Betaster, der Sonnenhitze oder einer warmen Stube? Äußerste Biegsamkeit des Körpers, Perfektibilität und Korruptibilität desselben, deren Grenze man nicht kennt, kommt hierin dem Zufall zustatten. Die Falte die sich bei dem einen erst nach tausendfacher Wiederholung derselben Bewegung bricht, zeigt sich bei dem andern nach weniger; was bei dem einen eine[266] Verzerrung und Auswuchs verursachet, den selbst die Hunde bemerken, geht dem andern unbezeichnet, oder doch menschlichen Augen unmerkbar hin. Dieses zeigt, wie biegsam alles ist, und wie ein kleiner Funke das Ganze in dem auffliegen macht, der in dem andern kaum einen versengten Punkt zurückläßt. Bezieht sich denn alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen, Was bei dem Manne Farbe wirkt, wirkte bei dem Kind Form, grünes Holz wirft sich bei dem Feuer an dem ein trocknes bloß braun wird. Daher vermutlich die regelmäßigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen, die sicherlich weder an Geist noch Herz Vorzüge besitzen, die wir nicht auch erreichen könnten. Oder ist Versehen der Seele und der Amme einerlei, und wird die erstere nach der Verdrehung ihres Körpers ebenfalls verdreht, daß sie nun gerade einen solchen bauen würde, wenn sie wieder einen zu bauen kriegte? Wie? Oder füllt die Seele den Körper etwa wie ein elastisches Flüssige, das allzeit die Form des Gefäßes annimmt: so daß, wenn eine platte Nase Schadenfreude bedeutet, der schadenfroh wird, dem man die Nase platt drückt? Ein rohes Beispiel, aber mit Fleiß gewählt. In unserm Körper selbst und den Säften desselben liegen hundert Quellen von gleich merklichen, aber minder gewaltsamen Veränderungen. Ferner, ihr leugnet nicht, daß lange nach Formierung der festen Teile des Körpers der Mensch einer Verbesserung und Verschlimmerung fähig ist. Aber überzieht sich die blanke Stirne mit Fleisch, oder stürzt die konvexe ein, wenn das Gedächtnis verschwindet? Mancher kluge Kerl fiel auf seinen Kopf und wurde ein Narr, und ich erinnere mich in den Memoiren der Pariser Akademie gelesen zu haben, daß dort einmal ein Narr auf den Kopf stürzte und klug wurde. In beiden Fällen wünschte ich das Schattenbild des Antezessors neben dem Schattenbild seines Sukzessors zu sehen, um die Lippen und Augen Knochen beider zu vergleichen. Die Beispiele sind freilich gesucht. Allein wollt ihr denn bestimmen, wo Gewalttätigkeit anfängt und Krankheit aufhört? Die Brücke die zwei Ideen-Reihen verbindet, kann so gut einstürzen, wenn ich mich erkälte, als wenn ich auf den Kopf falle, und am Ende wäre wohl gar Mensch sein so viel als krank sein. Ich habe in meinem Leben etwa 8 Sektionen vom menschlichen[267] Gehirn beigewohnt, und aus wenigstens fünfen wurden die falschen Schlüsse wie rote Fäden herausgezogen und die Lapsus memoriae wie Sandkörner. Also schon hieraus (unten wird mehreres vorkommen) sieht man, wie unvorsichtig es ist, aus Ähnlichkeit der Gesichter Ähnlichkeit der Charaktere zu schließen, auch wenn diese Ähnlichkeit vollkommen wäre; allein wer ist denn der Richter über Sie? Ein hinfälliger Sinn, dessen Eindruck durch vorgreifende Schlüsse und assoziierte Vorstellungen so leicht geschwächt und verdreht wird, daß es noch in weit einfacheren Fällen als dieser, wo keine Leidenschaften mitwirken, und selbst nach erwiesenem Irrtum, fast unmöglich ist, Urteil von Empfindung zu trennen.

Wäre man einmal so weit, daß man mit Zuverlässigkeit sagen könnte, unter 10 Bösewichtern etc. sah immer einer so aus, so könnte man Charaktere so berechnen, wie Mortalität. Allein hier zeigen sich gleich unübersteigliche Schwierigkeiten, völlig von dem Schlag derer, denen die Prophetik ihre Zuverlässigkeit zu danken hat. Denn obgleich im gemeinen Leben, unter dem geschriebenen Gesetz und vor dem menschlichen Richter die Entscheidung über den Charakter leicht sein mag, so ist es doch, wo nicht eine einzige Tat gerichtet, sondern auf einen ganzen Charakter geschlossen werden soll, sehr schwer, und vielleicht unmöglich in einem besondern Fall zu sagen, was ein Bösewicht sei; und an Wahnsinn grenzende Vermessenheit zu sagen, derjenige der aussieht, wie der Kerl, den dieses oder jenes Städtgen für einen Bösewicht hält, ist auch einer. Es ist eine kurrente Wahrheit: Daß es wenig böse Taten gibt, die nicht aus Leidenschaften verübt worden wären, die bei einem andern System von Umständen, der Grund großer und lobenswürdiger hätten werden können. So abgeschmackt freilich eine solche Entschuldigung nach vollbrachter Übeltat wäre, so sehr verdient sie bei dem noch unbescholtenen oder wenigstens unbekannten Mann erwogen zu werden, der eine Voraussetzung von meiner Vernunft von Gott und Rechts wegen fordern kann, die jener meiner Menschenliebe abbettelte. Was wollt ihr also aus Ähnlichkeit der Gesichter, zumal seiner festen Teile, schließen, wenn derselbe Kerl, der gehenkt worden ist, mit allen seinen Anlagen unter andern Umständen statt dem Strick den Lorbeer hätte empfangen können? Gelegenheit macht nicht Diebe allein, sie macht auch große Männer. Hier hilft sich der Physiognome leicht, er sucht ein Prädikat, das vom großen Mann und vom Spitzbuben[268] zugleich gilt: Sie hatten beide große Anlage. Eine herrliche Ausflucht! Wer mir noch hundert solcher Delphischen Wörter gibt, dem will ich den Ausgang des Amerikanischen Kriegs voraussagen. Um aller Welt willen, was ist für uns in praxi eine verdorbene gute Anlage? nichts weiter als eine grade Linie die man krumm gebogen hat; eine krumme. Niemand kennt seine guten und bösen Fähigkeiten alle. Es wäre eine Art von psychologischem Schachspiel, und ein unerschöpfliches Feld von lehrreicher Beschäftigung für die dramatischen Dichter und Romanenschreiber, zu gewissen gegebenen Graden von Fähigkeiten und Leidenschaften Umstände und Vorfälle zuzuerfinden, um den Knaben, der sie besitzt, nach jedem gegebenen Auftritt durch wahrscheinliche Schritte hinzuleiten. Ich glaube, wenn wir den Menschen genau kennten, so würden wir finden, daß die Auflösung selten unmöglich werden würde, und daß, wenn wir diejenigen meiden wollten, die unter einem gewissen System von Umständen gefährlich werden können, wir 99 in 100 meiden müßten. Und diese Perfektibilität oder Korruptibilität, die weiter nichts ist, als erstere in entgegengesetzter Richtung würkend, ist es eben, was den Menschen macht, und was ihn von dem Sprengel der Physiognomik auf ewig ausschließen wird. Er steht allein auf dieser Kugel, wie Gott, der ihn nach seinem Bilde geschaffen hat, allein in der Natur. Gesetzt der Physiognome haschte den Menschen einmal, so käme es nur auf einen braven Entschluß an sich wieder auf Jahrhunderte unbegreiflich zu machen. Das Vertrauen auf Physiognomik mußte also allerdings in einem Lande zunehmen, wie Deutschland, in welchem, aus den Schriften abzunehmen, worin sie sich zeigen könnte, die Selbstbeobachtung und Kenntnis des Menschen in einem fast schimpflichen Verfall liegt, und in einer Entnervung schmachtet, aus welcher sie allein nur, sollte man denken, der stärkende Winterschlaf einer neuen Barbarei zu ziehen im Stande ist. Es ist hier der Ort nicht es zu beweisen. Ich bin aber überzeugt, daß die besten Köpfe meines Vaterlands mit mir stimmen werden und es wird sich hoffentlich bald die lang gewünschte Gelegenheit finden, es auch den schwächeren durch Beispiele aus den Schriften ihrer Götzen begreiflich zu machen.

Eine nicht genugsame Beherzigung einiger dieser Wahrheiten, verbunden mit ungewöhnlicher Unbekanntschaft mit der Welt und dem Menschen, und einem eben daher entspringenden Unheil[269] stiftenden Bestreben Heil zu stiften, dem ein Teil unsers Publikums, frommschwärmend da glaubt, wo es höchstens verzeihen sollte, haben, als wäre alles andere schon außer Streit, nun gar den äußerst unüberlegten und niederschlagenden Gedanken erzeugt, die schönste Seele bewohne den schönsten Körper, und die häßlichste den häßlichsten. Also mit einer bloßen Veränderung der Metaphor, vielleicht auch die größte Seele den größten und die gesundeste den gesundesten: Gütiger Himmel! was hat Schönheit des Leibes, deren ganzes Maß ursprünglich vielleicht verfeinerte und unter Neben-Ideen ihre Grobheit versteckende sinnliche Lust ist, und deren Zweck hier erreicht wird, mit Schönheit der Seele zu tun, die mit dieser Lust so sehr streitet und sich in die Ewigkeit erstreckt? Soll das Fleisch Richter sein vom Geist? Der Verfasser glaubt, und wird am Ende alles dahin zusammenziehen, daß Tugend, und zumal die himmlische Aufrichtigkeit und Bewußtsein der Unschuld, einem Gesicht in den Augen ihres Kenners, große und unaussprechliche Reize mitteilen. Allein es ist Unerfahrenheit, und antiquarische Pedanterei, zu glauben, diese Schönheit sei das, was Winckelmann Schönheit nennt. Der Verfasser hat einiges erworbene Gefühl auch für die letztere, muß aber aufrichtig bekennen, daß er in Gesichtern redlicher Personen beiderlei Geschlechts, die von Leuten, die ihre Tugend nicht kannten, für häßlich gehalten wurden, Ausdrücke gesehen hat, die er gegen alle die uns eingepredigten Reize, und oft aus mehr Gefälligkeit als Gefühl gerühmte Gesichter des Landes wo die Banditen schön sind, nicht vermißt haben wollte. Der obige Gedanke, der hier keine förmliche Widerlegung erhalten kann, und überhaupt kaum einer ernstlichen würdig ist, hat noch einen andern erzeugt, nämlich durch Verschönerung der Seele endlich den Körper zu Idealen griechischer Künstler hinauf zu formen. Tugend und Aufrichtigkeit mögten hierbei wenigstens allein nicht hinlänglich sein, sonst könnten wir leicht den Weg verfehlen, und für alle unsere Mühe mit den Affengesichtern der Einwohner von Mallicolo belohnt werden, die der Hauptmann Cook auf seiner letzten Reise besucht hat, und deren Redlichkeit und Häßlichkeit gleich merkwürdig und fast unerhört war. Hingegen möchte der kürzeste Weg, unsere deutsche Gesichter jenen griechischen zu nähern, wobei aber unsere Tugend vielleicht nicht viel gewinnen würde, wohl der sein, auf welchem die Engländer ihre Schafe und Pferde spanischen und[270] arabischen Idealen genähert haben. Wie ein solcher Satz, der nicht erwiesen, sondern bloß exklamiert worden ist, der nie erwiesen werden wird, und nicht erwiesen werden kann, noch hier und da hat Eingang finden können, ist kaum, und nur in dem jetzigen Deutschland begreiflich. Denn sind nicht die Geschichtbücher und alle große Städte voll von schönen Lasterhaften? Freilich, wer schöne Spitzbuben, glatte Betrüger und reizende Waisenschinder sehen will, muß sie nicht gerade immer hinter den Hecken und in Dorf Kerkern suchen. Er muß hingehen, wo sie aus Silber speisen, wo sie Gesichter-Kenntnis und Macht über ihre Muskeln haben, wo sie mit einem Achselzucken Familien unglücklich machen, und ehrliche Namen und Kredit über den Haufen wispern, oder mit affektierter Unschlüssigkeit wegstottern. Die Anlage war da, antwortet alsdann der Physiognome, aber der korruptible Mensch hat sich selbst verdorben. Die Anlage? Wozu? Zu dem was erfolgte oder dem was nicht erfolgte? Lehrst du weiter nichts, mögte ich antworten, so ist dein Buch des Aufmachens nicht wert. Was der Mensch könnte geworden sein, will ich nicht wissen. Was hätte nicht jeder werden können? Sondern ich will wissen was er ist. Und doch auch von der Seite wieder genommen, wenn (um ein abgenutztes Beispiel noch einmal zu nutzen) Zopyrus dem Sokrates seine böse Anlage im Gesicht sah, warum sah er denn die stärkere Kraft nicht jene zu verbessern und sein eigner Schöpfer zu werden? Denn wenn die erstere in einem Faunskopf stecken mußte, so verdiente die letztere fürwahr ein Familien-Gesicht des Jupiter. So geht jetzt, da ich dieses schreibe der Verbrecher ohnegleichen, (und das ist er gewiß) der Nachtmahlvergifter, selbst in Zürch, unerkannt herum, also doch wohl mit einem Gesicht das seinesgleichen hat. Der Schauspieler Macklin in London, von dessen Gesicht Quin den bekannten Ausspruch tat: Wenn dieser nicht ein Schelm ist, so schreibt Gott keine leserliche Hand, erhielt im Jahr 1775, von Lord Mansfield vor einer großen Versammlung in Kings Bench öffentliches Lob, wegen seines höchst edlen und großmütigen Verfahrens gegen seine nichtswürdigen und zum Teil reizend gebildeten Feinde. Diese hatten gesucht, ihn seiner Verdienste wegen um Brod und Kredit zu bringen, und er erließ ihnen eine schwere Genugtuung, zu der sie verdammt worden waren, mit einer Art, die selbst diese Schelmen rührte. Dieser Zug aus dem Leben dieses ehrlichen und berühmten Mannes verdiente[271] wenigstens ebenso bekannt zu werden, als jener Ausspruch des liederlichen Quin. Macklin lebt jetzt ruhig, von seinen Feinden selbst verehrt, da Dr. Dodd, dem seine seichten Deklamationen nicht den Zulauf würden verschafft haben, wenn er nicht der einnehmende Mann gewesen wäre, am Galgen gestorben ist. Ich kenne einen denkenden Kopf, der sich den Teufel als die schönste Person denkt, als einen Engel ohne Flügel. Ich weiß keine Ursache anzugeben, als daß er ein fleißiger Leser des Milton, und aus dem Lande ist, in welchem die meisten, die an den Bettelstab oder den Galgen kommen, durch Engel ohne Flügel dahingebracht werden. Freilich müssen wir das schöne Gesicht nicht oft bei seinen Teufelstaten antreffen, sonst wird es sich bald in unsern Augen verteufeln; und wir werden bald einen vorher unbemerkten Zug abscheulich finden. So verhäßlicht uns das Gesicht eines Feindes tausend andere Gesichter, so wie hingegen die Miene einer Geliebten wiederum Reiz über tausende verbreitet. So fanden Cartesius und Swift, und vermutlich unzählige Unbekannte, das Schielen reizend; und so hat eine lispelnde Zunge, die in einem Juden, der uns um unsere Louisd'or bringt abscheulich ist, vermutlich manchen meiner Leser um sein Herz gebracht. Ideen-Assoziation erklärt eine Menge von Erscheinungen in der Physiognomik, ohne daß man nötig hätte, zu Schmälerung der Rechte der Vernunft, neue Sinnen anzunehmen, mit denen falsche, bequeme Philosophie und Neuerungs-Geist seit jeher sehr freigebig gewesen sind.

Allein, ruft der Physiognome, Was? Newtons Seele sollte in dem Kopf eines Negers sitzen können? Eine Engels-Seele in einem scheußlichen Körper? der Schöpfer sollte die Tugend und das Verdienst so zeichnen? das ist unmöglich. Diesen seichten Stromjugendlicher Deklamation kann man mit einem einzigen Und warum nicht? auf immer hemmen. Bist du Elender, denn der Richter von Gottes Werken? Sage mir erst, warum der Tugendhafte so oft sein ganzes Leben in einem siechen Körper jammert, oder ist immerwährendes Kränkeln vielleicht erträglicher als gesunde Häßlichkeit? Willst du entscheiden, ob nicht ein verzerrter Körper, so gut als ein kränklicher, (und was ist Kränklichkeit anders als innere Verzerrung?) mit unter die Leiden gehört, denen der Gerechte hier, der bloßen Vernunft unerklärlich, ausgesetzt ist? Sage mir, warum Tausende mit Gebrechen geboren werden, einige Jahre durchwinseln und dann[272] wegsterben? Warum das hoffnungsvolle Kind, die Freude seiner Eltern, dahinstirbt, wenn sie anfangen seiner Hülfe zu bedürfen, warum andere gleich nach ihrem Eintritt in die Welt wieder hinaus müssen, und nur geboren werden um zu sterben? Löse du mir diese Aufgaben auf, so will ich dir die deinigen auflösen. Wenn du einmal eine Welt schaffst, oder malst, so schaffe und male das Laster häßlich, und alle giftige Tiere scheußlich, so kannst du es besser übersehen, aber beurteile Gottes Welt nicht nach der deinigen. Beschneide du deinen Buchsbaum wie du willst, und pflanze deine Blumen nach dir verständlichen Schattierungen, aber beurteile nicht den Garten der Natur nach deinem Blumengärtchen. Hieraus lassen sich die Beweise widerlegen, die man für die Physiognomik aus Christus Köpfen hat herleiten wollen. Und doch auch, dem Physiognomen nicht mit bloßem Räsonnement zu begegnen, ließe sich, wenn hier der Ort dazu wäre, leicht zeigen, wie wenig Trost er aus den Physiognomien der Wilden für sein System zu hoffen hat. Ich will nur etwas weniges für den Neger sagen, dessen Profil man recht zum Ideal von Dummheit und Hartnäckigkeit und gleichsam zur Asymptote der Europäischen Dummheits- und Bosheits-Linie ausgestochen hat. Was Wunder? da man Sklaven, Matrosen und Pauker, die Sklaven waren, einem Candidat en belles lettres gegenüberstellt. Wenn sie jung in gute Hände kommen, wo sie geachtet werden, wie Menschen, so werden sie auch Menschen; ich habe sie bei Buchhändlern in London über Büchertitul sogar mit Zusammenhang plaudern hören, und mehr fürwahr verlangt man ja kaum in Deutschland von einen Bel-Esprit. Sie sind äußerst listig, dabei entschlossen und zu manchen Künsten außerordentlich aufgelegt, und sollten daher, da der Versuche mit ihnen noch so wenige sind, gar nicht von Leuten verachtet werden, die immer von Anlage ohne Bestimmung und Kraft ohne Richtung plaudern. Gegen ihre Westindischen Schinder sind sie nicht treulos, denn sie haben ihren Schindern keine Treue versprochen. Der weiße dünnlippige Zuckerkrämer ist der Nichtswürdige im Handel. Jeder brave Deutsche, mit dem sein Nebenmensch gleichen Viehhandel treiben wollte, würde gleiche Unbiegsamkeit beweisen. Vergeht sich irgend einer einmal auch gegen einen guten Herrn, so bedenke man, was bei uns, im Licht der wahren Religion, Vorurteil, Auferziehung und Aufhetzung nicht vermocht hat; bloß die Wörtgen es ist und es[273] bedeutet; dort gilts die Wörter Freiheit und geschunden werden. Wo aber der Funke aus dem Lichtmeer der Gottheit, Vernunft einmal glimmt, da kann auch eine Flamme entstehen, wenn man sie anzufachen weiß, und gewiß ist die Hälfte von dem, was uns Krämer und unphilosophische Reisebeschreiber, die immer nur bestättigen oder zusetzen, von ihnen sagen, nicht wahr. Das ruhige Durchschauen durch verjährte Vorurteile; die Scharfsichtigkeit durch das verwilderte Gebüsch den graden Stamm zu erkennen; die philosophische Selbstverleugnung, zu gestehen man habe nichts Wunderbares gesehen, wo alles von Wundern wimmeln soll, und die von Durst nach lauterer Wahrheit und von Menschenliebe begleitete Unparteilichkeit ohne Menschenfurcht, ist ein kostbarer Apparatus, der selten mit an Bord genommen wird, wenn man nach entfernten Ländern segelt; im Reich der Körper, so gut als der Gedanken. Doch, alles dieses weggeschmissen, wäre es nicht Unsinn zu sagen, weil der Mohr dumm und tückisch ist, so ist es der Deutsche ebenfalls, dessen Nase und Lippe sich der Lippe und Nase des Schwarzen nähern, oder ähnlicht ihm mit der Verhältnis im Charakter, nach welcher sich Nase und Lippe ähnlich sind, da der eine eines sanften Himmels genoß, während der andere von dem seinigen bis in den Sitz der Seele geröstet und gekocht wird; Andere Umstände zu geschweigen. Was ist Unsinn wenn dieses keiner ist?

Die Seele baut aber doch ihren Körper und kann man nicht aus dem Gebäude auf den Baumeister schließen? Dieses unnütze Lieblings-Sätzgen der Physiognomen kann man ohne Anstand zugeben, wenn man sich vorläufig über den Begriff von bauen vereinigt, und die kleine Einschränkung macht, daß man, um dieses Urteil richtig zu fällen, auch die ganze Absicht des Gebäudes kennen müsse. Offenbar bauen wir unsere Körper nicht so, wie wir Backöfen bauen, und ohne die Einschränkung könnte ein Grönländer, der etwa ein Gradier-Haus sähe, auch schließen: der diese Wohnung baute, war sicherlich ein Thor, erst läßt er den Wind durch die Wände streichen, und dann sorgt er obendrein dafür, laß es auch bei heiterem Himmel nicht an Regenwetter fehlt. Diesem guten Tropf würde ich antworten: Lerne erst das Land kennen, in welchem dieses Gebäude steht, so wirst du, wenn du je so weit kommst, die Weisheit bewundern müssen womit es aufgeführt ist.

Wenn man sich ein wenig umsieht, so wird man finden es fehlt[274] dem Physiognomen in dieser Art zu schließen nicht an Gesellschaft die ihm auf alle Art Ehre macht. Der, der zuerst dem unendlich guten Wesen ein unendlich böses zugesellte, und die klugen Köpfe, die noch jetzt den Teufel anbeten, haben vermutlich durch Schmerz, Erdbeben, Pestilenz und Krieg verleitet ihre ähnlichen Schlüsse gezogen. Ein trauriges Beispiel wohin Vernunft ohne Offenbarung führen kann, und desto trauriger je verzeihlicher. Der Schloß aus den Werken der Natur auf einen allmächtigen, allgütigen und all weisen Schöpfer, ist mehr ein Sprung der instruierten Andacht, als ein Schritt der Vernunft. Die Natur zeigt ihrem eingeschränkten Beobachter nichts als einen Urheber, der ihn weit übertrifft. Wie weit? das sagt sie ihm nicht. Die Offenbarung versichert, es sei unendlich weit, und nach dem jetzigen Anschein zu urteilen werden auch Tausende von Jahrhunderten dem endlichen Beobachter keinen Grund an die Hand geben an jener Versicherung mit Vernunft zu zweifeln. Ja es macht dem menschlichen Geist nicht wenig Ehre, daß er bereits tief genug in jene Weisheit hineinschaut, zu vermuten, das, was er übersieht, sei gegen das ganze ein Nichts. Also Du, der du glaubst die Seele schaffe ihren Körper, horche auch du auf das, was Sie dir auf einem andern Weg, als dem ihres Geschöpfs offenbart: halte den für weise, der weise handelt, und den für rechtschaffen, der Rechtschaffenheit übt, und laß dich nicht durch Unregelmäßigkeit in der Oberfläche irren, die in einen Plan gehören, den du nicht übersiehst, in den Plan desjenigen, nach dessen Vorschrift die Seele wenigstens ihren Körper bauen mußte, wenn sie ihn gebaut hat. Rede, sagte Sokrates zum Charmides, damit ich dich sehe, und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, steht in einem Buch, das wenig mehr gelesen wird, und, merkwürdig, in einer Rede zweimal hintereinander, von welcher gleichwohl jedes Wort vor Gott gewogen ist.

Allein auf diese Art könnte man die ganze Physik verdächtig machen, antwortet man; wir wissen zwar nicht wie Dummheit und dicke Lippen zusammenkommen, und brauchen es auch nicht zu wissen, genug wir sehen sie beisammen, und das ist hinreichend. Die Antwort hierauf ist längst in allen Logiken gegeben: Das ist es eben worüber wir streiten. Wir geben dem Physiognomen gerne zu, sich unter die Naturlehrer zu zählen, nur muß er keinen größeren Rang unter ihnen behaupten wollen, als der Prophet unter den[275] Staatsklugen. Den eigentlichen Physiker und den Physiognomen kann man schlechterdings nicht zusammenstellen. Der erstere irrt oft menschlich, der andere irrte seit jeher eminent. Der erstere geht mit seinen Schlüssen nie aus der Maschine, deren Gang er kennen lernen will, und deren Räder einförmig und treibende Kräfte scharf bestimmt und unveränderlich sind, heraus; er beobachtet nicht bloß den natürlichen Gang des Uhrwerks, sondern versucht auch, und zwingt Erscheinungen, welche, bloß leidend abzuwarten, ein tausendjähriges Leben voll Aufmerksamkeit erfordert hätten, in einen Tag zusammen: und was hundert Jahre von Versuchen wiederum nicht hätten lehren können, lehrt ihn eine Stunde Rechnung, und monatlange Rechnung wird vielleicht am Ende in ein Blättern von 5 Minuten verwandelt. Jeder Körper, mögt ich sagen, den der Physiker mit der Hand umfaßt, ist ihm ein Modell der Schöpfung, mit dem er machen kann, was er will. So ist es freilich kein Wunder, wenn, durch solche Maschinen gehoben, der Mensch eine Höhe erreicht, die ihn schwindeln macht.

Nun betrachte man einmal den Physiognomen, wie hülflos, und doch wie verwegen, er da steht. Er schließt nicht etwa von langem Unterkinn auf Form der Schienbeine, oder aus schönen Armen auf schöne Waden, oder wie der Arzt aus Puls, Gesichts- und Zungenfarbe auf Krankheit, sondern er springt und stolpert von gleichen Nasen auf gleiche Anlage des Geistes, und, welches unverzeihliche Vermessenheit ist, aus gewissen Abweichungen der äußeren Form von der Regel auf analogische Veränderung der Seele. Ein Sprung, der, meines Erachtens nicht kleiner ist, als der von Kometenschwänzen auf Krieg. Wenn ich in einer kurzen Sentenz die Bedeutung jedes Worts nur um einen Zoll verschiebe, so kann sich der Sinn um Meilen ändern. Wohin haben nicht unbestimmte Wörter geführt? Was in der Haushaltung wenig schadete, leitete in Wissenschaften grade nach entgegen gesetzten Richtungen. Ferner ist es dem Physiognomen schon unendlich schwer den ersten festen Punkt zu finden; die erste unleugbare Erfahrung. Ein dummes Fältgen hinter den Mundwinkeln, oder ein Zahn, den man erst beim seltnen Lachen entdeckte, könnten Newtons Nase zur Lügnerin machen, und so von zwei bis ins unendliche. Die innere Verzerrung nicht einmal gerechnet, die, so unmerklich sie auch dem Auge sein könnte, Folgen haben kann, die dem Geist nur allzumerklich sind. Können[276] doch unmerkliche Veränderungen im Gehirn den Tod verursachen, wie viel leichter Sinnesänderung? Wie sind Sinnes-Unterricht und Geistes-Erleuchtung abgewogen? Ein Zusatz von 1 im Sinn, könnte eine Erleuchtung von 1000 bewirken. Die Veränderung des Gehirns immer in der Verhältnis zu sehen, in welcher sich die Veränderung im Geist zeigt, dazu haben wir keinen Sinn. Wir sehen nur Farbe und Figur, und diese kann vom begleitenden Gedanken für einen fremden Sinn so gut um eins abweichen, als um tausend. Das ist einerlei. Eine große Veränderung im Gehirn für unser Auge, könnte eine sehr kleine für die Seele sein, von der es bewohnt wird, und umgekehrt. Und ihr wollt gar aus dem Gewölbe über dieses Gehirn schließen? Doch ich will Worte sparen und werde unverständlich. Was ist nun die Folge aus obigen Betrachtungen? Diese: die Physiognomik wird in ihrem eignen Fett ersticken. In einem Zentner schweren physiognomischen Atlas entwickelt, läge der Mensch nicht um ein Haar deutlicher als jetzt in seinem Leibe. Ein weitläuftiges Werk, und zwar eines, welchem Weitläuftigkeit wesentlich ist, zusammen zu denken, ist fürchterlich, da den Menschen aus der ersten Hand zu studieren uns tausendfaches Interesse des Leibes und der Seele anlockt und antreibt. Endlich ist auch der Physiognome noch von dem Weg, durch Versuche zur Wahrheit zu gelangen, fast gänzlich abgeschnitten: alles dieses zusammen macht seine Sache desperat. Der Semiotiker wird doch noch bald gewahr, ob ihn seine Zeichendeutung trügt. Also von der einen Seite unendlich mehr Schwierigkeit als in der Naturlehre und von der andern sehr viel weniger Hülfe. Was kann daraus werden? Die Achsel zucken und stille schweigen wäre freilich alles, was der gesunde Mensch tun könnte; dem verblendeten Stolz fehlt es nie an Worten. Aber es ist doch gut zu versuchen was man auch hierin vermag? Antwort: nicht ganz, weil das Leiden einer einzigen unschuldigen Seele während des Versuchs, mehr Rücksicht verdient, als die ganze leere Schwärmerei wert ist. Und ist es nicht schon seit jeher vergeblich versucht, ohne sich ernstlich zu fragen: Warum? Gut könnte es am Ende allemal sein, aber, mich dünkt Eichen pflanzen ist besser.

Ist denn aber Physiognomik ganz unsicher? Wir schließen ja täglich aus den Gesichtern, jedermann tut es, selbst die, die wider Physiognomik streiten, tun es in der nächsten Minute, und strafen ihre[277] eigenen Grundsätze Lügen. Diese Einwürfe wollen wir nun näher beleuchten.

Ohnstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Verstehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem 25. Jahr in großer Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie ihn die Natur, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Fehler darin zu machen zur Kunst ist erhoben worden. Sie ist so reich, daß bloß die süßen und sauren Gesichter ein Buch füllen würden, und so deutlich, daß die Elefanten und die Hunde den Menschen verstehen lernen. Dieses hat noch niemand geleugnet, und ihre Kenntnis ist was wir oben Pathognomik genannt haben. Was wäre Pantomime und alle Schauspielkunst ohne sie? Die Sprachen aller Zeiten und aller Völker sind voll von pathognomischen Bemerkungen, und zum Teil unzertrennlich mit ihnen verwebt. Man hat sich die Mühe nicht genommen, sie heraus zu suchen und für die Haushaltung besonders vorzutragen, weil man um die Zeit, da man diese Bücher verstehen würde, die Sache schon gemeiniglich besser versteht als sie gelehrt werden kann. Sie ist so unnötig als eine Kunst zu lieben. Sie nach Regeln auszuüben, die die eigne Beobachtung nicht schon gelehrt hätte, würde, in einer wie in der andern, in Irrtum verleiten und lächerlich machen. Hingegen sind unsere Sprachen höchst arm an eigentlich physiognomischen Beobachtungen. Wäre etwas Wahres darin, die Völker hätten es gewiß ebenfalls in diese Archive ihrer Weisheit gelegt. Wo man Spuren antrifft, so sind sie immer verdächtig, und scheinen aus einer einzigen Beobachtung gemacht zu sein, wie Spitzkopf im Deutschen, so können selbst Nomina Propria endlich in Volks-Schimpfwörter übergehen. Laster im Deutschen heißt ursprünglich Verstümmelung und nicht Gebrechen, gehört also zu Poltron. Auch stammt häßlich nicht von hassen. Die Nase kommt in hundert Sprüchwörtern und Redensarten vor, aber immer pathognomisch, als Zeichen vorübergehender Handlung, und niemals physiognomisch, oder als Zeichen stehenden Charakters oder Anlage. Es fehlt ihm über der Nase, sagt man im gemeinen Leben von einem, der nicht viel Verstand hat; nach der neuern Physiognomik müßte man sagen, es fehlt ihm an der Nase. Es gibt allerdings Sprüchwörter, die der Physiognomik das Wort reden, aber was läßt sich nicht mit Sprüchwörtern erweisen. Hüte dich vor den[278] Gezeichneten ist ein Schimpfwort, denen die Gezeichneten, von einer gewissen Klasse der Nicht-Gezeichneten in der Welt seit jeher ausgesetzt gewesen sind. Mit größerem Recht könnten also die Gezeichneten sagen: hüte dich vor den Nicht-Gezeichneten. In einem schönen Leib wohnt eine schöne Seele gehört auch hierher. Auch Fronti nulla fides. Die Sprüchwörter leben in ewigem Krieg, wie alle Regeln, die nicht der Untersuchungsgeist, sondern die Laune gibt. Phädrus antwortet den eben angeführten in der simpeln Sprache der gesunden Vernunft:


Ridicule magis hoc dictum, quam vere aestimo,

Quando et formosos saepe in veni pessimos

Et turpi facie multos cognoni optimos.


Shakespeare, der die entferntesten Begriffe, und die sich vielleicht nie in einem Menschenkopf vorher begegnet sind, zu seiner Absicht zu verbinden weiß, der im Stande war, die Welt ein O, und endlich gar die Schaubühne ein hölzernes O zu nennen; der überdas mehr Bemerkungsgeist und Gabe besitzt, von klaren Dingen mit Deutlichkeit zu reden, als vielleicht noch ein Schriftsteller besessen hat: Dieser Shakespeare ist sehr arm an eigentlich physiognomischen Bemerkungen. Es könnte sein, daß hier und da etwas in ihm steckte; der Verfasser hat ihn nie in der Absicht ganz durchgelesen, aber in acht seiner Stücke, die er des wegen durchgegangen hat, hat er nichts gefunden, was Aufmerksamkeit verdient. Hingegen ist er voll der herrlichsten pathognomischen Beobachtungen, auf die glücklichste Weise ausgedruckt. Unter diesen finden sich sogar manche, die noch nicht so kurrent sind, als sie zu sein verdienten, z.E. seine immer lächelnde, musikscheuen Bösewichter und seine Lügner von polierter Lebensart, wenn man solche Bemerkungen hieher rechnen darf. Seine Schimpfwörter, die nur die Oberfläche treffen, und deren ganzer Zweck ist, Mangel an Schönheit aufzurücken, gehören nicht hieher. Seinem durchschauenden Auge wäre die dicklippige Dummheit, der horizontal- und dünnlippige Verstand mit seinen eckigen Augenknochen sicherlich nicht entgangen. Aber in dem großen steinernen O, worin er lebte und schrieb, konnte er sich sehr bald von dem Satz überzeugen: Es gibt keine Physiognomik von einem Volk zum andern, von einem Stamm zum andern und von einem Jahrhundert zum andern.[279]

Shakespears Pathognomik verdiente eine eigne Behandlung, von einem Mann, der einen stehenden Fonds von Philosophie hätte, damit er nicht nach verübter Tat, unvermerkt das Gesetz gäbe, nach welchem er sich richtet, oder es mit der Vernunft so hielte, daß er es nicht mit der Unvernunft verdürbe. Er müßte mit einem Herzen voll Menschenliebe arbeiten, aber ja ums Himmels willen! voll Menschenliebe die ein heller Kopf leitet. Tätige Menschenliebe ohne Verstand verfehlt so gut ihren Zweck als Menschenhaß ohne Macht: so wie dieser oft mehr Gutes stiftet als Böses, so stiftet jene nur allzu oft mehr Böses als Gutes. Nur mit dem traurigen Unterschied, daß ich den, der in der Absicht mir zu schaden mein Glück befördert, am Ende mit Lächeln bestrafen, hingegen den, der mich aus Menschenliebe unglücklich macht, auch nicht einmal mit gutem Gewissen verklagen kann. Ferner müßte der Mann tiefe Kenntnis der englischen Sprache, hauptsächlich der Nation, des Menschen und seiner selbst besitzen. Ohne einen hohen Grad von allen vieren läßt sich zwar Shakespeare noch immer mit Vergnügen lesen, aber man wird grade das verlieren, was ihn zu einem so ungewöhnlichen Mann macht. Dieses erklärt die Verschiedenheit der Urteile über diesen Schriftsteller, wovon wir in diesen Tagen wieder merkwürdige Beispiele gehabt haben. Mich wundert es nicht. Die Menschen sind geneigt zu glauben, daß sie jedes Buch, worin nichts von krummen Linien und algebraischen Formeln vorkommt, lesen könnten, so bald sie die Sprache verstünden, worin sie geschrieben sind. Es ist aber grundfalsch. Es könnte jemand so wenig von den obigen Erfordernissen zur Lesung des Shakespeare mitbringen, und so wenig Begierde haben in sich selbst zu erwachen, daß er am Ende wohl nichts verstünde, als seine Zoten, seine Flüche und einige seiner ausschweifendsten Metaphern. So wird es aber bis an jenen Tag allen großen Geistern ergehen, die mit tiefer Einsicht über den Menschen schreiben. Solche Werke sind Spiegel; wenn ein Affe hinein guckt, kann kein Apostel heraus sehen. Ich lenke nun von dieser kleinen Ausschweifung wieder ein. Ich sagte oben Shakespeare sei sehr arm an eigentlich physiognomischen Bemerkungen, wenigstens in den Stücken, die ich in der Absicht sie zu suchen, durchgelesen habe. Unparteiische Leser werden sehen, daß dieses nicht sagen will er enthalte ganz und gar keine. Shakespeare schildert Menschen, und die Menschen haben wohl seit jeher physiognomisiert und geirrt,[280] auch irren sich Shakespears Physiognomen. Ich verstund vielmehr darunter solche Bemerkungen, die unter andere Erklärungen gleichbedeutend hingeworfen, zugleich die Sache bezeichneten, und den Ernst sehen ließen, womit er es meint. Z.E. wenn er Leuten, deren Geist und Herz er aus der Geschichte kannte, ohne ihre Figur zu kennen, eine Bildung beigelegt hätte, die ihm nach seiner Empfindung sprechend gedünkt hätte. Sein broadfronted Caesar wäre eine solche Bemerkung, aber zum Unglück lesen andere Ausgaben baldfronted. Die foolish hanging Netherlip, die in einem dieser Stücke vorkommt, beweist noch weniger. Der Physiognome, der sich den Shakespeare durch Wörterbücher aufklärt, muß ja nicht, durch Systemsgeist verleitet, glauben, daß er hier eine Entdeckung gemacht habe. Der Engländer nennt alles foolish was er nicht leiden kann. Auch muß man bei einem Schriftsteller, der den Menschen mit solcher Anschauung schildert, genau erwägen, wem er die Bemerkung in den Mund legt. Sage mir, was hat Octavia für ein Gesicht, fragt beim Shakespeare die eifersüchtige Cleopatra den Courier, ists länglich oder rund? Bis zum Fehler rund, ist die Anwort. Das sind gemeiniglich Närrinnen, die so aussehen, sagt Cleopatra. Wer sieht hier nicht, daß dieses ein tiefer Blick ins Herz der Cleopatra ist, der uns über die innere Beschaffenheit des Kopfs der Octavia völlig beim alten läßt?

Nun weiter. Die pathognomischen Zeichen, oft wiederholt, verschwinden nicht allemal völlig wieder, und lassen physiognomische Eindrücke zurück. Daher entsteht zuweilen das Torheits-Fältgen durch alles bewundern und nichts verstehen; das scheinheilige Betrüger-Fältgen, die Grübchen in den Wangen, das Eigensinns-Fältgen, und der Himmel weiß was für Fältgen mehr. Pathognomische Verzerrung, die die Ausübung des Lasters begleitet, wird noch überdas oft durch Krankheiten, die jenem folgen, deutlicher und scheußlicher, und so kann pathognomischer Ausdruck von Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Aufrichtigkeit, Andacht, und überhaupt moralische Schönheit in physische für den Kenner und Verehrer der moralischen übergehen. Dieses ist der Grund der Gellertschen Physiognomik, (wenn sich dieses Wort noch von einer Sammlung von Bemerkungen, die einen Grund zu wahrscheinlichen Schlüssen vom Charakter auf die Gesichtsbildung, aber nicht umgekehrt, enthalten, gebrauchen läßt) der einzigen wahren, wenn es[281] eine wahre gibt, die für die Tugend allemal von unendlichem Nutzen ist, und die sich in wenig Worte fassen läßt; Tugend macht schöner, Laster häßlicher. Allein diese Züge beurteile man mit der größten Behutsamkeit, sie lügen zum Erstaunen oft, und zwar hauptsächlich aus folgenden Ursachen. Es ist schon oben erinnert worden, daß der eine gleich gezeichnet wird für etwas, was dem andern tausendmal unbezeichnet hingeht. Dem einen fällt nach einer durchgeschwärmten Nacht, die Wange in die Zahnlücke, da den andern die aufgehende Sonne so jugendlich hinter der Bouteille und beim Mädgen sieht, als ihn die untergehende gesehen hat. Die Bedeutung jedes Zugs ist also in einer zusammengesetzten Verhältnis aus der Brüchigkeit der Fibern und der Zahl der Wiederholungen. Ferner, (und dieses kann sich der voreilige Physiognome nicht genug merken) ist denn der, der bei ruhendem Gesicht aussieht, wie mein Freund oder ich, wenn ich spotte, deswegen ein Spötter, oder der bei hellem Wachen aussieht, wie ich, wenn ich schläfrig bin, deswegen ein Schläfriger? Keine Urteile sind gemeiner als diese, und keine können falscher sein. Denn einmal können jene Züge auch durch andere Ursachen dahin gekommen sein, als durch Spottübung und Schläfrigkeit oder Schuld, und auch noch selbst durch Schuld, aber nicht durch Spottübung und Schläfrigkeit. Und darin ist freilich der Mensch von allen bekannten erschaffenen Wesen unterschieden. Ich meine: Nachäffung, und Bestreben, seine Oberfläche der Oberfläche berühmter, bewunderter und beliebter Menschen ähnlich zu machen, ihre Fehler und lächerliche, ja böse Angewohnheiten nachzuahmen, bringt erstaunliche Revolutionen auf dem Gesicht hervor, die sich gar nicht bis in das Herz oder den Kopf erstrecken. So werden Kopfhängen, hochweises Stirnerunzeln, Lispeln, Stammeln, Gang, Stimme, die horchende Kopfhaltung, das kurzsichtige gelehrte Blinzen, vornehmes Trübsehen, empfindsame Melancholie, leichtfertige Lebhaftigkeit, das bedeutende Augenwinken und die satyrische Miene, andern nachgetan, so gut als das Gähnen; von einigen vorsätzlich und vorm Spiegel studiert, von andern ohne daß sie es wissen. Es gibt Leute, denen die Satyre selbst aus den Augen zu winken und zu spötteln scheint, und die dabei so unschuldig sind wie die Lämmer und eben so stumpf. Der Verfasser hat einen jungen vortrefflichen Menschen gekannt, der sich in Gesellschaft eines berühmten Mannes ein dezisives Aufwerfen des Kopfs und verachtendes[282] Herabziehen der Mundwinkel, bei allem was er sagte, angewöhnt hatte, das ihm gar nicht von Herzen ging, und sich auch wieder abgewöhnte. Er würde sich gewiß damit an seinem Glück geschadet haben. Es gehört viel Weltkenntnis und Tugend dazu, die Rede von einem solchen Gesicht begleitet, zu entschuldigen, und nicht das Gesicht in die Rede überzutragen. Doch bleiben pathognomische Ausdrücke in einem Gesicht allemal eine Sprache für die Augen; mit schlechten Worten unharmonisch verbunden, läßt sich so gut etwas Vernünftiges sagen, als mit den ausgesuchtesten und aller Macht des Numerus etwas sehr Unvernünftiges. Das erstere im Gleichnis haben einige unserer ältern Schriftsteller durch ihr Beispiel gezeigt und von den letztern haben unsere Tage größere Proben aufzuweisen, als Rom und Griechenland zusammen genommen.

Fast lächerlich ist der Beweis für die Zuverlässigkeit der Physiognomik, den man aus der täglichen ja stündlichen Ausübung derselben herleiten will. So bald wir einen Menschen erblicken, so ist es allerdings dem Gesetz unsers Denkens und Empfindens gemäß, daß uns die nächstähnliche Figur, die wir gekannt haben, sogleich in den Sinn kommt, und gemeiniglich auch unser Urteil sogleich bestimmt. Wir urteilen stündlich aus dem Gesicht, und irren stündlich. So weissagt der Mensch von Zeitläuften, Erbprinzen, und Witterung; der Bauer hat seine Tage, die die Witterung des ganzen Jahrs bestimmen, gemeiniglich Festtage, weil er da müßig genug ist zu physiognomisieren. Jeder Mensch ist des Tages einmal ein Prophet. Ja die angehenden Physiognomen schließen sogar aus den Namen, und die Balthasare scheinen ihnen den Friedrichen nachzustehen. Ich glaube, es sind wenig Menschen, die nicht irgend einmal etwas diesem Ähnliches getan und gedacht haben, so lächerlich es auch klingen mag. Die angenommenen Namen satyrischer Schriftsteller werden nach solchen Regeln zusammen gesetzt. Wollten wir die Leute, von denen wir nach dem ersten Anblick urteilen, alle durch jahrlangen, genauen Umgang prüfen, ich glaube, es würde der Physiognomik ärger ergehen, als der Astrologie. Einbildungskraft und Witz kommen hierbei gefährlich zu statten, daher sind die tiefsten Denker gemeiniglich die schlechtesten Physiognomen. Sie sind mit einer flüchtigen Ähnlichkeit nicht so leicht befriedigt, da der flüchtige Physiognome in jedem Dintenfleck ein Gesicht und in jedem Gesicht eine Bedeutung findet. Alles dieses ist aus Ideen-Assoziation[283] begreiflich. Vergnügen gewähren diese Hypothesen allemal. Wer des Nachts auf einer Postkutsche gereiset ist, und im Dunkeln Bekanntschaft mit Leuten gemacht hat, die er nie gesehen hat, wird die Nacht über sich ein Bild von ihnen formiert haben und sich am Morgen so betrogen finden, als sich der Physiognome an jenem großen, feierlichen Morgen betrogen finden wird, an dem sich unsere Seelen zum erstenmal von Angesicht schauen werden. Der Verfasser hat lange, ehe Physiognomik Mode geworden ist, auf eine Art in Physiognomik ausgeschweift, die er nun, da ihn Erfahrung zurückgebracht hat, dem Leser nicht vorenthalten kann: Er hat einen Nachtwächter, der ihn einige Jahre durch aus dem Schlaf hornte und brüllte, um ihm zu sagen wie viel Uhr es sei, nach der Stimme zu zeichnen versucht. Man höre den Erfolg. Seine Stimme erweckte in ihm das Bild eines langen, hagern übrigens aber gesunden Mannes, mit länglichem Gesicht, in die Länge herunter gezogener Nase, strackem ungebundenem Haar, und langsamem, säendem, gravitätischem Tritt. Er ward nach dieser Vorstellung begierig, den Mann am Tage zu sehen, wozu er bald Gelegenheit bekam. Die Abweichung der Zeichnung vom Original war unerhört groß, schlechterdings nichts war getroffen. Der Mann war der Statur nach unter den Mittelmäßigen, munter und geschwind, selbst sein Haar hatte er in ein wegstehendes Zöpfchen zusammen gedrehet, worin mehr Bindfaden als Haar war. Es ist hierbei eine angenehme Beschäftigung, die dem Psychologen wichtig werden kann, jene Ideen wieder zu dissoziieren. Der Verfasser hat seinem Nachtwächter oft nachgespürt, und endlich gefunden, daß er die lange Figur der durchdringenden Baßstimme zu danken hatte, die er in seiner Kindheit einigemal beisammen gesehen: hingegen war das Bedächtige, Hagere, Schleichende, nach genauer Untersuchung, von weit edlerer Abkunft, denn es verlor sich in dichterische Ideen von der Göttin der Nacht, und einiger Gespenster männlichen Geschlechts, mit denen der Verfasser in seiner Jugend bekannt geworden war. Auf der Schule in D. befand sich mit mir zugleich ein Mensch von sehr lebhaftem Witz und nicht gemeinen Talenten, aus dem etwas hätte werden können, wenn er dieses wilde Feuer durch ernste Wissenschaft zu zweckmäßiger Erwärmung zusammen zu halten früh genug wäre gezwungen worden. Dieser rühmte sich im Ernst, daß er den Leuten ansehen könnte, wenn sie Caspar hießen. Er irrte sich[284] nicht wenig wie man mir gerne glauben wird, allein er blieb, kleine Abänderungen nicht gerechnet, (recht physiognomisch) im ganzen bei seiner Meinung, und Caspar war ein Name, womit er einen sehr zusammengesetzten Charakter bezeichnete. Da ich einige von den Leuten, die er mit diesem Namen belegte gekannt habe, so würde ich sie dem Leser gerne nach Vermögen hinzeichnen, wenn ich nicht fürchtete mich verdrüßlichen Deutungen auszusetzen. Ein anderer, weit älter und auf einer höheren Schule fand es seltsam, und hätte bei dickerem Blut in seinem Glauben dadurch irre gemacht werden können, daß von drei großen christlichen Gelehrten, die er fast zur Anbetung verehrte, der eine Abraham, der andere Isaac und der dritte Jacob hieß. Dabei war er doch ein großer Bewunderer von Gellert, als er mir daher einmal seine Bemerkung klagte, so antwortete ich ihm, Gellert hätte Fürchtegott geheißen, und daran sollte er sich halten. Allein es gibt noch weit schmeichelhaftere und subtilere Feinde der Physiognomik, die man erst nach Bearbeitung eines noch sehr verwilderten Feldes der Philosophie ganz kennen lernen wird. Ein Wort kann in ums zu einem Gesicht werden, und ein Gesicht zu einem Wort, durch Assoziation. Wir sehen die Helden der Romanen, die wir lesen, alle wie vor uns, auch die Plane der Städte. Lange vorher, ehe ich das Porträt des Generals der amerikanischen Rebellen, Lee, gesehen hatte, habe ich mir ein Bild von ihm gemacht, das aus Deserteur und doppeltem e so wunderbar zusammen gesetzt ist, daß ich nie ohne Vergnügen daran denke. Wer über den Ursprung der Wörter nachgedacht hat, wird diese Bemerkung nicht unwichtig finden, und sie leicht an andere anzuketten wissen, die schon mehr ins Reine gebracht sind. Diese subtilen Feinde der Wahrheit, deren eine unzählige Menge in uns liegt, entfliehen bei hell-tagender Vernunft, einzeln, bei den meisten, aller Beobachtung. Kaum hat sich aber auch jener Tag in den Zwischenräumen eines unruhigen Schlafs, in einer Fieberhitze oder schwärmerischen Aussicht auf Restaurator-Ehre zur Dämmerung geneigt, so steigen sie oft zu einem hohen Grad von Klarheit vergrößert hervor, ich habe davon einige mit großem Vergnügen gehascht und zu künftigem psychologischen Gebrauch in meinem Cabinet aufbewahrt. Jene Frau, die glaubte der Pabst müßte ein Drache, oder ein Berg oder eine Kanone sein, verdient mehr Aufmerksamkeit als Spott. Es geht uns allen so, wenn wir träumen und wer will die Grenze zwischen Wachen und Träumen angeben;[285] so wie nicht jeder träumt, der schläft, so schläft auch nicht jeder der träumt.

Jedermann macht sich nach seiner Lage in der Welt, und seiner Ideen im Kopf, nach seinem Interesse, Laune und Witz, weil er das ganze Gesicht nicht fassen kann, einen Auszug daraus, der nach seinem System das Merkwürdigste enthält und den richtet er, daher sieht jeder in vier Punkte etwa so geordnet ':' ein Gesicht, und nicht alle einerlei; eben daher auch das Disputieren über die Ähnlichkeit der Porträte und Ähnlichkeit zweier Leute. Zwei schließen aus dem Anblick eines Brustbildes, auf die Länge des Mannes, der eine, er sei groß der andere er sei klein, und keiner kann sagen warum. Beim Pferd und Ochsen gings an, wenn der Maßstab dabei wäre, aber beim Menschen auch wieder nicht, und doch will man aus Stirne, Nasen und Mund Schlüsse ziehen, deren Verwegenheit gegen jene gerechnet unendlich ist. Allein Felix Heß und Lambert hatten einerlei Nasen, das ist doch sonderbar. Allerdings sonderbar, daß zwei Leute einerlei Nasen haben, die Himmel weit von einander unterschieden sind, und wovon keiner der andere hätte werden können, auch wenn er gewollt hätte. Aber beide waren tiefsinnige Männer. Fürwahr mir gehen die Augen über, wenn ich das Meisterstück der Schöpfung, das bereits einzusehen gelernt hat, daß es von den Absichten, warum es da ist nur die wenigsten kennt, so behandelt sehe. Es regnet allemal wenn wir Jahrmarkt haben, sagt der Krämer, und auch allemal wenn ich Wäsche trocknen will, sagt die Hausfrau. Gesetzt auch gleiche Nasen würden von gleichen Ursachen geformt, so ist erst noch auszumachen, ob sich Lambert und Felix Heß nicht noch in andern Stücken geglichen haben, die der eigentlichen Nasenwurzel näher, als den Instrumenten des Tiefsinns lagen. Und können nicht sehr verschiedene Ursachen denselben scheinbaren Effekt vorbringen? Ist dieses nicht; können dieselben Nasen und Stirnen nicht durch verschiedene Ursachen entstehen; und kann nicht, nachdem Nase und Stirne einmal stehen, inneres Fortwachsen biegsamer Teile noch immer Formen schaffen, die den Physiognomen auf ewig zum besten haben werden: so möchte ich wohl wissen, wer das bewiesen hat, oder beweisen will. So gut einer bei schön geformtem äußern Ohr nicht bloß taub werden, sondern sogar taub geboren sein kann, so gut kann einer bei der schönsten Nase schlecht riechen und ein Narr sein, und noch leichter etwas, das nicht so ausgezeichnet[286] als der Narr ist; eines der unzähligen Geschöpfe über und unter den mittelmäßigen. Dem Himmel sei auch Dank, daß es so gewiß tiefsinnige Köpfe ohne Lambertische Nasen gibt, als, so lange die Welt steht, die Lambertischen Nasen gemeiner sein werden als die Lamberte.

Die festen und unbeweglichen Teile, zumal die Form der Knochen, trügen, einmal weil sie bei jeder Art von Verbesserung des verbesserlichen Geschöpfs, die noch lange nachher Platz hat, nachdem diese ihre völlige Festigkeit erreicht haben, noch statt findet; und zweitens weil, da ihre Form so wenig von unserm Willen abhängt, auch der Einfluß äußerer Ursachen, unvermeidlicher ist und ein einziger Druck oder Stoß allmählig Veränderungen würken kann, deren Fortgang keine Kunst mehr aufzuhalten im Stand ist. Auch, wenn sich etwas daraus herleiten ließe, so wären die festen Teile doch immer nur eine beständige Größe, ein einziges, in unzähligen Fällen unbeträchtliches Glied der unendlichen Reihe durch die der Charakter des Menschen gegeben ist. Herr Lavater hält die Nase für das bedeutendste Glied, weil keine Verstellung auf sie würkt. Sehr gut, wenn Übergang von Wahrheit zu Verstellung und von Verstellung zu Wahrheit die einzige Veränderung im Menschen wäre. Allein bei einem Wesen das nicht allein durch moralische sondern physische Ursachen würklich verändert werden kann, ohne daß die Nase deswegen folgt, sollte ich denken, wäre ein so unveränderliches Glied, nicht allein für die Wahrheit unbedeutend, sondern wider dieselbe verführerisch. Je feiner und folgsamer der Ton desto richtiger und wahrer der Abdruck. Die beweglichen Teile des Gesichts die nicht allein die pathognomischen, unwillkürlichen Bewegungen, sondern auch die willkürlichen der Verstellung angeben und aufzählen, sind daher meines Erachtens weit vorzuziehen. Selbst Zurückgang im Charakter kann hier analogischen Zurückgang im Weiser verursachen. Der Weiser kann trügen. Freilich leider! Aber was die Form der festen Teile Bedeutendes hat, ward ihnen durch ähnliche Ursachen unter ähnlichen Bedingungen eingedruckt. Ich gestehe gerne, auch das ruhende Gesicht mit allen seinen pathognomischen Eindrücken, bestimmt den Menschen noch lange nicht. Es ist hauptsächlich die Reihe von Veränderungen in demselben, die kein Porträt und vielweniger der abstrakte Schattenriß darstellen kann, die den Charakter ausdrückt, ob man gleich oft glaubt, was[287] uns die letzteren gelehrt haben, habe man von den erstern gelernt. Die pathognomischen Abänderungen in einem Gesicht sind eine Sprache für das Auge, in welcher man, wie der größte Physiologe sagt, nicht lügen kann. Und zehn Wörter aus der Sprache eines Volks sind mir mehr wert als 100 ihrer Sprachorganen in Weingeist. So wie wir hier besser hören, als wir sehen, so sehen wir dort mehr als wir zeichnen. Die beweglichen Teile und die verschiedenen Folgen in den Bewegungen, sind nicht Korollaria aus einem durch die festen gegebnen Satz. Es sind notwendige Bedingungen, ohne die die Auflösung immer unbestimmt bleibt.

Ja die letzteren sind sogar wichtiger als jene, je näher sie würklichen Handlungen liegen. Drei Köpfe, die sich, wie aus einer einzigen Form gegossen, glichen, könnten, wenn sie zu lächeln oder zu sprechen anfingen, alle Ähnlichkeit verlieren. Wer kann dieses leugnen, als der, der es nicht versteht.

Diesem Räsonnement muß man nicht die angeblichen Erfahrungen der Physiognomen entgegensetzen wollen. Sie irren sich, wenn sie aus Schatten-Rissen oder Porträten von Personen urteilen, die sie gar nicht kennen, so entsetzlich, daß wenn man die Treffer mit den Fehlern verglichen sähe, das Glückspiel gleich in die Augen fallen würde. Sie machen es aber wie die Lottospieler, publizieren Blättgen voll glücklicher Nummern, und behalten die Quartanten, die man mit unglücklichen anfüllen könnte, für sich. Auch die getroffenen sind es oft nur in Orakelwörtern, mit Spiel-Raum für den Sinn; und oft sieht der Physiognome Forschungs-Geist in den Augenknochen, oder poetisches Genie in den Lippen des Mannes, weil er sie in dessen Schriften aus Mangel an Kenntnissen und Geschmack oder durch Journale verführt, zu finden glaubt. Dem Denker, der jene Schriften leer findet, wird dadurch die ganze Kunst verdächtig.

Wache, nüchterne Vernunft sieht wohl woher dieses Irren entspringt, und gibt sich nicht mit Untersuchungen ab, die nicht für sie sind; wagt sie sich je ohne Plan in solche Felder, welches freilich zuweilen sehr großen Leuten begegnen kann, so geschieht es gemeiniglich nur in den Stunden, wo sie in der Gesellschaft des muntern Witzes und der verführerischen Einbildungskraft, einen kleinen Hieb hat. Man untersuche daher einmal die Physiognomen und man wird finden, es sind gemeiniglich Personen, deren lebhafte Einbildungskraft ihnen beim Anblick der meisten Gesichter, die verwandten[288] Züge anderer und mit ihnen ganze Lebensläufe und Privat Geschichten vorstellt, und die dieses bei jeder Gelegenheit der Gesellschaft darlegen. Gemeiniglich mit vielem Witz, weil so sehen und so sprechen einerlei Ursprungs sind. Auch richtet die Gesellschaft solche Bemerkungen nicht als bare Philosophie, sondern als Witz, dessen Reiz, wohl gar durch den Strich von verwegner Leichtfertigkeit noch gewinnt, der die erstere geschändet hätte. Oft sind sie unschuldiger, und sehen den Leuten nur das an, was sie schon von ihnen wissen. Die Prüfung der Bemerkung ist in den meisten Fällen so flüchtig, als die Bemerkung selbst. Man esse einmal den Scheffel Salz, welchen schon Aristoteles verlangt, mit dem Mann, über dessen Herz und Kopf man so flüchtig urteilte, und man wird finden, was alsdann werden wird. Aber irren ist menschlich; nicht immer, es ist zuweilen......., weit weniger.

Das hohe Alter der Physiognomik zeigt von ihrem verführerischen Reiz und ihr schlechter Fortgang, (Zurückgang könnte man sagen) bei immer zunehmenden Hülfsmitteln, von ihrer Nichtigkeit.

Was aber unserm Urteil aus Gesichtern noch so oft einige Richtigkeit gibt, sind die, weder physiognomischen und pathognomischen, untrüglichen Spuren ehmaliger Handlungen, ohne die kein Mensch auf der Straße oder in Gesellschaft erscheinen kann. Die Liederlichkeit, der Geiz, die Bettelei etc. haben ihre eigne Livree, woran sie so kenntlich sind, als der Soldat an seiner Uniform, oder der Kaminfeger an der seinigen. Eine einzige Partikel verrät eine schlechte Erziehung, und die Form unseres Hutes und Art ihn zu setzen, unsern ganzen Umgang und Grad von Geckerei. Selbst die Rasenden würden öfters unkenntlich sein, wenn sie nicht handelten. Es wird mehr aus Kleidung, Anstand, Kompliment beim ersten Besuch, und Aufführung in der ersten viertel Stunde, in ein Gesicht hinein erklärt als die ganze übrige Zeit aus demselben wieder heraus. Reine Wäsche und ein simpler Anzug bedecken auch Züge des Gesichts.

Doch wir müssen abbrechen, und wollen statt neuer Erläuterungen, die sich ins unendliche vervielfältigen ließen, lieber die Hauptsätze kurz zusammennehmen, damit man ein so weitläuftiges Werk nicht wieder falsch verstehe und dem Leser überlassen, sich nach seiner Lage in der Welt, entweder den bequemsten Beweis oder die bequemste Widerlegung dazu selbst aufzusuchen. Ausgemacht scheint uns folgendes:[289]

1) Obgleich objektive Lesbarkeit von allem in allem überall statt finden mag, so ist sie es deswegen nicht für uns, die wir so wenig vom Ganzen übersehen, daß wir selbst die Absicht unsers Körpers nur zum Teil kennen. Daher so viel scheinbare Widersprüche für uns überall.

2) Von der äußeren Form des Kopfs, in welchem ein freies Wesen wohnt, muß man nicht reden wollen wie von einem Kürbis, so wenig als Begebenheiten, die von ihm abhängen, berechnen, wie Sonnenfinsternissen. Man sagt mit eben dem Grad von Bestimmtheit, der Charakter des Menschen liege in seinem Gesicht, indem man sich auf die Lesbarkeit von allem in allem beruft, als man, sich auf den Satz des zureichenden Grundes stützend, behauptet er handle maschinenmäßig.

3) Die Form der festen Teile sowohl als der beweglichen, hängt auch von äußern Ursachen ab, die gemeiniglich geschwinder und kräftiger würken, als die innern; und doch gibt der Mensch jedem sichtbaren Eindruck, selbst der Verzerrung durch die Pocken, Zahnlücken etc. physiognomischen Sinn. Das menschliche Gesicht ist nämlich eine Tafel, wo jedem Strich transzendente Bedeutung beigelegt wird; wo geringer Krampf aussehen kann wie Spötterei, und eine Schmarre wie Falschheit. Eben so hindert Widerstand von außen, Zähigkeit der Teile, allen pathognomischen Eindruck.

4) Jeder Bewegung der Seele korrespondiert in verschiedenen Graden von Sichtbarkeit, Bewegung der Gesichts-Muskeln, daher sind wir geneigt, auch ruhenden Gesichtern, die jenen bewegten ähnlich sind, die Bedeutung der letztern beizulegen, und dehnen daher die Regel zu weit aus.

5) Selbst den dauernden Spuren ehmaligen pathognomischen Ausdrucks auf dem Gesicht, von dem noch das wenige sichere abhängt, das die Physiognomik hat, ist nur in den äußersten Fällen zu trauen, wo sie so stark sind, daß man die Leute gezeichnet nennen möchte, und auch alsdann nur, wenn sie in Gesellschaft mit andern Kennzeichen stehen, die schon eben das weisen; da bestärken sie freilich. Umgekehrt kann man gar nicht schließen: wo diese Züge nicht sind, ist keine Bosheit. Bei den Gesichtern der gefährlichsten Menschen konnte man sich oft nichts denken, alles steckte hinter einem Flor von Melancholie, durch den sich nichts deuten ließ: Die[290] Muskeln hängen solchen Leuten oft wie eine Gallert am Kopf, in welcher man so vergeblich Bedeutung sucht, als organischen Bau in einem Glas Wasser. Wer das noch nicht bemerkt hat, kennt den Menschen nicht. Die Bösewichter werden immer unkenntlicher, jemehr sie Erziehung gehabt haben, jemehr Ehrgeiz sie besitzen und je wichtiger die Gesellschaft war, mit der sie umgingen. Stärkere pathognomische Züge sind nicht ein Zeichen von stärkerem Laster, sondern größerer Brüchigkeit der Muskeln, größerer Ungezogenheit und roherer Sitten. Da ferner diese Verzerrungen oft nur scheinbar pathognomisch sind, und durch andere Ursachen entstanden sein können, so sieht man wie vorsichtig man in Schlüssen aus pathognomischen Zügen auf moralische Häßlichkeit sein müsse; moralische Schönheit im Gesicht zu lesen ist nicht so schwer. Auch sind Zaghaftigkeit und Leichtsinn, bei herrschender Neigung zur Wollust und Müßiggang, gar dem Unheil nicht gemäß gezeichnet, das sie in der Welt anrichten: hingegen sieht Entschlossenheit seine Rechte gegen jeden, er sei wer er wolle, zu verteidigen, und Gefühl des entschiedenen Wertes seiner selbst, auch der paucorum hominum homo, zumal bei nicht lächelndem Mund, oft trotzig, und daher manchen sehr gefährlich aus.

6) Daß der Maler und der Dichter ihre Tugendhaften schön, und ihre Lasterhaften häßlich vorstellen, kommt nicht von einer durch Intuition erkannten notwendigen Verbindung dieser Eigenschaften her, sondern weil sie alsdann Liebe und Haß mit doppelter Kraft erwecken, wovon die eine den Menschen am Geist, die andere am Fleisch anfaßt. Malten oder schrieben sie für ein einziges Volk, oder gar für einen einzigen Menschen, so würde die Volks-Schönheit, oder das Gesicht der Geliebten, des Herzens-Freundes und des verehrten Vaters, noch sicherer die Tugend empfehlen. So entstunden italienische Christus-Gesichter. Sokrates, wenn wir ihn nicht näher kennten, würde ein ähnliches in der Römischen Schule erhalten haben. Es ist landesübliche Schönheit jener Gegend, ohne Spur widriger, und selbst nur bei schwachen Zeichen angenehmer, die sanfteste Gemütsstille nur wenig aufhebender Affekten. Von der andern Seite hat selbst Schwanz, Schwärze und Klaue dienen müssen, das Laster und die Bosheit für eine gewisse Klasse von Menschen zu zeichnen. Bei andern wählte der Maler feinere Farben und Zeichen, nach Maßgabe seiner Erfahrung. Holbein macht einen[291] schmierigen, häßlichen Betteljuden aus seinem Judas, das er doch wohl schwerlich war. Die schleichenden Betrüger, zumal die, die, wonicht mit einem Kuß verraten, doch küssende Verräter sind (ich habe ihrer mehrere gekannt und fühle es leider noch, daß ich sie gekannt habe); ferner die, die wie eine gewisse Art unbrauchbare Hunde jedermann schwänzeln, jedermann apportieren, und über jedermanns Stock springen, immer unglaublich treu tun und selten da sind, wenn man sie haben will; und endlich die, die alles tun, was derjenige will, der ihnen den Geldbeutel oder die Ketten der Finsternis oder die Peitsche über dem Kopf schüttelt, sehen freundlicher aus. Ich hätte den Judas schöner und gewiß mit einem frömmelnden Lächeln, auch die Haare um den Kopf geleckter gemalt. Vielleicht wäre ich von den wenigsten verstanden worden, aber die, die es gefunden hätten, hätten es mir desto herzlicher gedankt.

7) Tugend macht schöner, aber die größte Schönheit, die sie unter einem gewissen Himmelsstriche hervorbringt, ist so sehr von jener Winkelmannischen unterschieden, daß vielmehr bis ans Ende der Welt jeder ehrliche deutsche Bauer darin von jedem neapolitanischen Dieb übertroffen werden wird, und ihr Reiz bestehet so wenig in dem, was die Wollust so nennt, als das Glück, das die Tugend gewährt, in einer eisernen Gesundheit und einer Revenüe von 20 000 Talern. Laster macht allezeit häßlicher, jedoch bei übrigens gleichem Grad von Stärke, mit sehr verschiedenem Grad von Sichtbarkeit. Zuweilen ist es nur ein kleiner Zug, der sich erst beim genauen Umgang zeigt.

8) Talent und überhaupt die Gaben des Geistes haben keine Zeichen in den festen Teilen des Kopfs. Dieses zu beweisen, muß man den ausgesuchten Silhouetten von denkenden Köpfen, auch ausgesuchte von nicht denkenden und Narren beifügen, und nicht Gelehrten von sorgfältiger Erziehung, einen Dorf-Narren gegenüberstellen. Bedlam wird von Leuten bewohnt, die, wenn sie nicht wie versteinert vor sich hinstarrten, oder mit den Sternen lächelten, oder auf den Gesang der Engel horchten, oder den Sirius ausblasen wollten, oder mit untergesteckten Armen schaudernd zusammen führen, Respekt einflößen würden. Noch weniger wird sich aus der Form der Knochen allein schließen lassen. Um einen Kopf von jedem Skelett, der nicht monströs wäre, würde ein geschickter Künstler, ohne aus dem Wahrscheinlichen herauszugehen, eine Hülle von[292] Muskeln und Haut aus Wachs schlagen, und ihr Eindrücke geben können, jede beliebige Absicht dadurch zu erreichen.

9) Physiognomik ist also äußerst trüglich. Die wirkenden Leidenschaften haben zwar ihre Zeichen, und lassen oft merkliche Spuren zurück, das ist unleugbar, und daher rührt, das was die Physiognomik Wahres hat. Es ist aber auch dieses bei dem größten Teil des menschlichen Geschlechts so unsicher und schwankend, daß wir, wenn wir die Köpfe ohne Hut und Perücke, ohne Pflaster, Schminke, Schmarren, Kupfer, Finnen und Bewegung sähen, den Charakter mit eben so vieler Sicherheit herauswürfeln, als aus den Zügen erraten würden. In den Bewegungen der Gesichtsmuskeln und der Augen liegt das meiste, jeder Mensch, der in der Welt lebt, lernt es finden; es lehren, heißt den Sand zählen wollen.

Nützlicher wäre ein anderer Weg den Charakter der Menschen zu erforschen, und der sich vielleicht wissenschaftlich behandeln ließe: Nämlich aus bekannten Handlungen eines Menschen, und die zu verbergen er keine Ursache zu haben glaubt, andere nicht eingestandene zu finden. Eine Wissenschaft, welche Leute von Welt in einem höheren Grad besitzen, als die armen Tröpfe glauben können, die ihr Opfer täglich werden. So schließt man von Ordnung in der Wohnstube auf Ordnung im Kopf, von scharfem Augenmaß auf richtigen Verstand, von Farben und Schnitt der Kleider in gewissen Jahren auf den ganzen Charakter mit größerer Gewißheit, als aus hundert Silhouetten von hundert Seiten von eben demselben Kopf. Wer sagt, ich bin ein hitziger Kopf, wenn ich anfange, ist ein gutes Lamm; und der fromme Schwärmer, der jeden Augenblick ausruft, ich bin ein schwaches Werkzeug, würde sich unversöhnlich beleidigt glauben, wenn man ihm antwortete: das haben wir längst gedacht. Verschwiegenheit hat unzertrennlich verschwisterte Tugenden. Aus der Mätresse schließt man auf den Mann, wenigstens auf viele seiner Verhältnisse gegen uns. Wer gegen sein Gesinde gut ist, ist meistens im Grunde gut: man verstellt sich nicht leicht gegen Leute, die man für ihre Dienste bezahlt und von einem abhängen, die man der Ehre der Verstellung gegen sie nicht würdig achtet, und die man nicht fürchtet. Die guten Romanen- und Schauspieldichter, Le Sage und Shakespeare enthalten solche Züge, wie weggeworfen. Der letztere in Menge, aber ohne alle prahlhafte Hinweisung, daher man sie so oft übersieht. Aber was hilft das alles bei der schlausten[293] und gefährlichsten Klasse von Menschen? Nichts. Jede neue Attaque erzeugt eine neue Befestigungs-Kunst, die dem perfektibelsten und korruptibelsten Geschöpf immer einschlägt.

Allein was auch sophistische Sinnlichkeit eine Zeitlang dagegen einwenden mag, so ist wohl der Satz gewiß, es ist kein dauernder Reiz ohne unverfälschte Tugend möglich, und die auffallendste Häßlichkeit, so lange sie nur nicht ekelhaft ist, vermag sich dadurch Reize zu geben, die irgend jemand unwiderstehlich sind. Die Beispiele dieser Art unter Personen beiderlei Geschlechts sind freilich selten, allein nicht seltner als die Tugenden die jenen Reiz hervorbringen. Ich meine hier vorzüglich die himmlische Aufrichtigkeit, das bescheidene Nachgeben ohne Wegwerfung seiner selbst, das allgemeine Wohlwollen ohne dankverdienerische Geschäftigkeit, die sorgfältige Schonung der Delikatesse anderer Personen auch in Kleinigkeiten, Bestreben jedem in Gesellschaft unvermerkt Gelegenheit zu geben sich zu zeigen, ferner Ordnungsliebe ohne kleinliches Putzen und Reinlichkeit ohne Geckerei im Anzug. Dem Verfasser sind Beispiele hiervon von Frauenzimmern bekannt, die wenn er sie hersetzen könnte, auch die häßlichsten mit Mut erfüllen würden. Was diese Tugenden würken, wenn sie sich zur Schönheit gesellen, wird jeder Leser leichter finden, wenn er in die Geschichte seines eignen Herzens sehen will, als ich es hier beschreiben könnte. Eben so kann das Laster, wo es biegsamen Stoff findet, in einem hohen Grade verzerren, zumal wenn dazu, bei roher Erziehung und gänzlichem Mangel an Kenntnis sittsamer Falten, oder gar an Willen sie anzunehmen, es nicht ein einziges Mal des Tages, in irgend einer Stunde der bezahlten Pflicht, Zeit findet die Risse auszuflicken. Diese Betrachtungen haben den Verfasser längst begierig gemacht, von einem gebornen Beobachter des Menschen, der dabei ein großer Zeichner wäre, und in einer großen Stadt gelebt hätte, denselben Knaben und dasselbe Mädchen auf zween verschiedenen Pfaden des Lebens vorgestellt zu sehen; und zwar sollte ihre Geschichte mehr durch Züge des Gesichts als Handlung gezeigt werden. Er glaubte damals schon, und der Beifall einiger Gelehrten, die lange vor ihm über diese Materien gedacht haben, hat ihn nachher in diesem Glauben bestärkt, daß die Ausführung dieses Gedankens des größten Künstlers nicht unwürdig wäre. Alles, was der Künstler je über Schönheit und Häßlichkeit bemerkt, und alle übrige Beobachtungen,[294] die er über den Menschen angestellt hätte, könnte er hier zeigen, und mit wie vielem Vorteil für die Tugend! Was Hogarth hierin geleistet hat, ist bekannt. Er war in den Verschönerungen nicht so glücklich als in den Verschlimmerungen. Die Ursache ist leicht einzusehen. Unter allen lebenden Künstlern, die mir bekannt geworden sind, wäre Herr Chodowiecki in Berlin, der einzige, der diesen Gegenstand auch für den geübtesten Beobachter des Menschen genugtuend auszuführen im Stand wäre. Seine kleinen Köpfe, vorzüglich einige im Nothanker, werden durch den Geist über dem man fast vergißt, daß es Striche sind, nicht bloß Unterhaltung sondern Gesellschaft; für mich wenigstens. Er lebt überdas in einer Stadt, wo ein Künstler, wenn er durch den Wink eines Fremden auf ein nicht ganz bekanntes Feld geleitet wird, durch eigene Beobachtungen, leicht alles Nötige bald nachholen kann, zumal wo der große Fond von Beobachtungen und die glückliche Anlage die neuern instinktmäßig zu haschen schon da ist, wie bei diesem Mann. Was er in diesem Feld selbst für einen Taschen-Kalender auf meinen Vorschlag getan hat, ist von allen die den Gedanken verstanden haben, mit dem größten Beifall aufgenommen worden. Schade nur, daß durch das häufige, nicht allemal ganz geschickte Abdrucken, die Kupferstiche endlich Veränderungen erlitten haben, die grade Herrn Chotowieckis und meiner Absicht entgegen waren. Die Undeutlichkeit der Züge, durch die die Tugend verliert, ist dem Laster vorteilhaft; wäre also noch länger fortgedruckt worden, so hätten beide Reihen, die aus einem Punkt entsprangen, bald darauf sich stark trennten, sich endlich wieder in einem Punkt vereinigt; und dieses wäre, wenn man den letzten Punkt nicht etwa von der Verwesung verstanden hätte, ein Satz mit Kupferstichen erläutert gewesen, die grade das Gegenteil lehren. Hier sind ähnliche Kupferstiche weggeblieben, dort wurden sie als eine Erläuterung eines einzigen Satzes zur Zierde des Almanachs gebraucht: hier hätten sie nicht erscheinen können, ohne auch andern Sätzen, die es mehr bedurften, ähnliche Erläuterungen beizufügen, wozu jetzt die Zeit viel zu kurz, und überhaupt der Aufsatz noch zu unvollkommen war.

Fußnote

1 Leibniz


Quelle:
Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Band 3, München 1967 ff., S. 256-295.
Erstdruck: Göttingen 1778.
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