1.

[766] Tochter des Walds, du Lilienverwandte,

So lang von mir gesuchte, unbekannte,

Im fremden Kirchhof, öd und winterlich,

Zum erstenmal, o schöne, find ich dich!
[766]

Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,

Ich weiß es nicht, noch wessen Grab du hütest;

Ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,

Ist's eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.


Im nächtgen Hain, von Schneelicht überbreitet,

Wo fromm das Reh an dir vorüberweidet,

Bei der Kapelle, am kristallnen Teich,

Dort sucht ich deiner Heimat Zauberreich.


Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne;

Dir wäre tödlich andrer Blumen Wonne,

Dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,

Himmlischer Kälte balsamsüße Luft.


In deines Busens goldner Fülle gründet

Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet;

So duftete, berührt von Engelshand,

Der benedeiten Mutter Brautgewand.


Dich würden, mahnend an das heilge Leiden,

Fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden:

Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtszeit,

Lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.


Der Elfe, der in mitternächtger Stunde

Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,

Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu

Neugierig still von fern und huscht vorbei.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 766-767.
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