1.

Vom Sieben-Nixen-Chor

[777] Manche Nacht im Mondenscheine

Sitzt ein Mann von ernster Schöne,

Sitzt der Magier Drakone,

Auf dem Gartenhausbalkone,

Mit Prinzessin Liligi;

Lehrt sie allda seine Lehre

Von der Erde, von dem Himmel,

Von dem Traum der Elemente,

Vom Geschick im Sternenkreise.


»Laß es aber nun genug sein!

Mitternacht ist lang vorüber –«

Spricht Prinzessin Liligi –
[777]

»Und nach solchen Wunderdingen,

Mächtigen und ungewohnten,

Lüstet mich nach Kindermärchen,

Lieber Mann, ich weiß nicht wie!«


»Hörst du gern das Lied vom Winde,

Das nicht End noch Anfang hat,

Oder gern vom Königskinde,

Gerne von der Muschelstadt?«


»Singe du so heut wie gestern

Von des Meeres Lustrevier,

Von dem Haus der sieben Schwestern

Und vom Königssohne mir.«


»Zwischen grünen Wasserwänden

Sitzt der Sieben-Nixen-Chor;

Wasserrosen in den Händen,

Lauschen sie zum Licht empor.


Und wenn oftmals auf der Höhe

Schiffe fahren, schattengleich,

Steigt ein siebenfaches Wehe

Aus dem stillen Wasserreich.


Dann, zum Spiel kristallner Glocken,

Drehn die Schwestern sich im Tanz,

Schütteln ihre grünen Locken

Und verlieren Gurt und Kranz.


Und das Meer beginnt zu schwanken,

Well auf Welle steigt und springt,

Alle Elemente zanken

Um das Schiff, bis es versinkt.«


Also sang in Zaubertönen

Süß der Magier Drakone

Zu der lieblichen Prinzessin;

Und zuweilen, im Gesange,

Neiget er der Lippen Milde

Zu dem feuchten Rosenmunde,[778]

Zu den hyazintheblauen,

Schon in Schlaf gesenkten Augen

Der betörten Jungfrau hin.

Diese meint im leichten Schlummer,

Immer höre sie die Lehre

Von der Erde, von dem Himmel,

Vom Geschick im Sternenkreise,

Doch zuletzt erwachet sie:


»Laß es aber nun genug sein!

Mitternacht ist lang vorüber,

Und nach solchen Wunderdingen,

Mächtigen und ungewohnten,

Lüstet mich nach Kindermärchen,

Lieber Mann, ich weiß nicht wie!«


»Wohl! – Schon auf des Meeres Grunde

Sitzt das Schiff mit Mann und Maus,

Und die Sieben in die Runde

Rufen: ›Schönster, tritt heraus!‹


Rufen freundlich mit Verneigen:

›Komm! es soll dich nicht gereun;

Wolln dir unsre Kammer zeigen,

Wollen deine Mägde sein.‹


– Sieh, da tritt vom goldnen Borde

Der betörte Königssohn,

Und zu der korallnen Pforte

Rennen sie mit ihm davon.


Doch man sah nach wenig Stunden,

Wie der Nixenbräutigam,

Tot, mit sieben roten Wunden,

Hoch am Strand des Meeres schwamm.«


Also sang in Zaubertönen

Süß der Magier Drakone;

Und zuweilen, im Gesange,

Neiget er der Lippen Milde[779]

Zu dem feuchten Rosenmunde,

Zu den hyazintheblauen,

Schon in Schlaf gesenkten Augen

Der betörten Jungfrau hin.


Sie erwacht zum andern Male,

Sie verlanget immer wieder:

»Lieber Mann, ein Kindermärchen

Singe mir zu guter Letzt!«


Und er singt das letzte Märchen,

Und er küßt die letzten Küsse;

Lied und Kuß hat ausgeklungen,

Aber sie erwacht nicht mehr.

Denn schon war die dritte Woche,

Seit der Magier Drakone

Bei dem edeln Königskinde

Seinen falschen Dienst genommen;

Wohlberechnet, wohlbereitet

Kam der letzte Tag heran.


Jetzo fasset er die Leiche,

Schwingt sich hoch im Zaubermantel

Durch die Lüfte zu dem Meere,

Rauschet nieder in die Wogen,

Klopft an dem Korallentor,

Führet so die junge Fürstin,

Daß auch sie zur Nixe werde,

Als willkommene Genossin

In den Sieben-Nixen-Chor.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 777-780.
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