4.

Der Zauberleuchtturm

[782] Des Zauberers sein Mägdlein saß

In ihrem Saale rund von Glas;

Sie spann beim hellen Kerzenschein,

Und sang so glockenhell darein.

Der Saal, als eine Kugel klar,

In Lüften aufgehangen war

An einem Turm auf Felsenhöh,

Bei Nacht hoch ob der wilden See,

Und hing in Sturm und Wettergraus

An einem langen Arm hinaus.

Wenn nun ein Schiff in Nächten schwer

Sah weder Rat noch Rettung mehr,

Der Lotse zog die Achsel schief,

Der Hauptmann alle Teufel rief,

Auch der Matrose wollt verzagen:

»O weh mir armen Schwartenmagen!«

Auf einmal scheint ein Licht von fern

Als wie ein heller Morgenstern;

Die Mannschaft jauchzet überlaut:

»Heida! jetzt gilt es trockne Haut!«

Aus allen Kräften steuert man

Jetzt nach dem teuren Licht hinan,

Das wächst und wächst und leuchtet fast

Wie einer Zaubersonne Glast,

Darin ein Mägdlein sitzt und spinnt,

Sich beuget ihr Gesang im Wind;

Die Männer stehen wie verzückt,

Ein jeder nach dem Wunder blickt

Und horcht und staunet unverwandt,

Dem Steuermann entsinkt die Hand,

Hat keiner acht mehr auf das Schiff;

Das kracht mit eins am Felsenriff,

Die Luft zerreißt ein Jammerschrei:

»Herr Gott im Himmel, steh uns bei!«

Da löscht die Zauberin ihr Licht;

Noch einmal aus der Tiefe bricht

Verhallend Weh aus einem Mund;

Da zuckt das Schiff und sinkt zu Grund.
[783]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 782-784.
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