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[632] 9. April 1927.

Gerichtssaal in Dedham.

Thayer und die übrigen Richter stehend am Tisch. Davor die Verteidiger, zur Seite Sacco und Vanzetti unter Bewachung. Publikum, darunter Rosa.


THAYER. Der am 17. Juni 1926 eingebrachte Antrag für Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die am 14. Juli 1921 zum Tode verurteilten Italiener Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurde am 25. Oktober 1926 vom Gerichtshof von Dedham verworfen. Die Berufung der Verteidiger gegen diesen Entscheid wurde dem Obersten Gerichtshof vorgelegt. Der Oberste Gerichtshof hat am 5. April 1927 die Berufung wegen der Revision des Prozesses zurückgewiesen. Somit, Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, verkünde ich Ihnen das rechtskräftige Urteil: Sie werden verurteilt, die Todesstrafe durch den elektrischen Stuhl zu erleiden innerhalb der Woche, welche beginnt am Sonntag, dem 10. Juli, im Jahre des Herrn Eintausendeinhundertundsiebenundzwanzig.

Dies ist das Urteil des Gerichts. Setzt sich.

ROSA stürzt vor. Das Urteil der Welt wird euch richten!

THOMPSON führt sie beruhigend auf ihren Platz zurück. Wir geben den Kampf nicht auf.

THAYER. Den Verurteilten steht das letzte Wort zu.

SACCO. Ich bin kein Redner und überlasse es meinem Freunde Vanzetti, ausführlich zu sprechen.[633] Nur das will ich sagen, daß ich in der Geschichte nichts Brutaleres kenne als dieses Gericht. Ich weiß, daß sich hier zwei Klassen gegenüberstehen und daß zwischen diesen beiden Klassen immer Kampf sein wird. Wir gehören dem Volke an, Sie aber verfolgen, tyrannisieren und töten das Volk. Wir versuchten, das Volk geistig zu entwickeln, Sie nähren den Haß zwischen den Völkern. Weil ich zur unterdrückten Klasse gehöre, nur darum stehe ich hier vor Ihnen. Sie sind der Unterdrücker, Richter Thayer, das wissen Sie selbst. Sie kennen mein ganzes Leben, Sie wissen, warum ich hier stehe und warum Sie mich zum Tode verurteilen. Meinen Genossen Vanzetti haben Sie zweimal verurteilt, für Bridgewater und für South Braintree, und dabei wissen Sie genau, daß er unschuldig ist. Zum Zuhörerraum. Ich danke euch allen, meine Genossen, die ihr sieben Jahre für mich und Vanzetti eingetreten seid. Ich erkläre nochmals: Der Richter Thayer weiß, daß ich nicht schuldig bin, niemals schuldig war, weder heute noch je.

VANZETTI. Ich erkläre, ich bin unschuldig an dem Verbrechen von South Braintree und ebenso andern von Bridgewater, für das ich fünfzehn Jahre Zuchthaus erhielt. In meinem ganzen Leben habe ich niemals gestohlen, niemals getötet, niemals Blut vergossen. Nicht allein, daß ich nicht gestohlen, nicht getötet habe – ich habe mein Leben lang, seit ich meinen Verstand gebrauchen kann, dafür gekämpft, daß das Verbrechen auf der Erde ausgerottet werde. Nie habe ich nach Bequemlichkeit und guter Stellung gestrebt, denn ich finde, daß ein Mensch den andern nicht ausbeuten soll. Ich habe gekämpft, wohl auch gegen die Verbrechen,[634] die sogar Gesetz und öffentliche Moral verurteilen, vor allem aber habe ich die Verbrechen bekämpft, die vom Gesetz und von der Kirche geheiligt werden: die Ausbeutung und die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Und wenn es einen Grund gibt, daß man mich hier als Schuldigen verurteilt, so ist dies der Grund, kein anderer.

Sieben Jahre haben wir jetzt im Gefängnis zugebracht. Was wir in diesen sieben Jahren ausgestanden haben, das kann keine menschliche Zunge schildern. Aber ich stehe vor Ihnen und zittere nicht, erröte nicht, erblasse nicht, bin weder beschämt noch geängstigt. Mit den Beweisen, die einem amerikanischen Geschworenengericht zu unserer Verurteilung genügten, hätte man, hat Eugen Debs gesagt, nicht einmal einen Hund für überführt gehalten, daß er Hühner totgebissen habe. Auf der ganzen Welt gibt es keinen befangeneren, keinen roheren Richter als Sie, Richter Thayer. Man hat uns entrüstet vorgeworfen, daß wir gegen den Krieg waren. Unsere Überzeugung ist, daß der Krieg ein Verbrechen war, und heute, nach zehn Jahren, glauben wir das noch viel fester, denn jetzt erst übersehen wir vollständig die Folgen und Wirkungen des Krieges. Hier, am Fuße des Galgens, will ich es der Menschheit zurufen: Alles, was man euch versprach, war Lüge, Illusion, Betrug, Verbrechen. Sie versprachen euch die Freiheit – merkt ihr was von Freiheit? Sie versprachen euch den Wohlstand. Merkt ihr was von Wohlstand?

Noch eins laßt mich sagen: Ich wünsche keinem Hunde das, was ich erleiden mußte für[635] Dinge, an denen ich kein bißchen Schuld trage. Ich mußte es leiden, weil ich ein Radikaler bin. Aber mein Recht wurzelt in mir – und Sie könnten mich zweimal hinrichten; gäbe es so etwas wie eine Wiederkunft, ich lebte dasselbe Leben noch einmal, das ich gelebt, täte genau dasselbe wieder, was ich im Leben getan habe.

THAYER. Die Verhandlung ist geschlossen. Mit den anderen Richtern ab.

ROSA. Nicola – nein, du wirst nicht sterben müssen!

SACCO. Tapfer sein, Rosa. Wir müssen tragen, was wir nicht ändern können. Niemals sollen sich unsere Kinder ihrer Eltern schämen müssen.

EIN ARBEITER. Noch drei Monate Frist! Wir werden kämpfen!

EIN ANDERER. Der Sturm unsres Protestes muß zum Orkan werden!

EIN DRITTER. Verliert den Mut nicht, meine Freunde!

VANZETTI. Unser Mut ist nicht zu brechen. Muß es sein, so werden wir auch zu sterben verstehen. Wir haben nicht vergebens gelitten und tragen unser Kreuz ohne Jammern. Die Zeit kommt, wo die Arbeitsbrüder der Welt keinen Krieg mehr gegeneinander führen werden. Dann werden keine Kinder mehr hinter Fabrikmauern siech werden und der Sonne und den grünen Feldern entzogen sein. Der Tag ist nicht mehr weit, da es Brot geben wird für jeden Mund, ein Dach über jedem Haupt und Glück in jedem Herzen.

EIN ARBEITER. Wir danken euch, Sacco und Vanzetti. Ihr leidet für uns – so werden wir für euch auf der Schanze stehen.

POLIZEIKOMMISSAR. Genug jetzt. Verlassen Sie den Saal!


Polizisten drängen die Arbeiter zum Ausgang.


ROSA zu Thompson. Gibt es denn jetzt keinen Weg mehr?[636]

THOMPSON. Gouverneur Fuller muß eingreifen.

SACCO. Wenn das Proletariat nicht eingreift – –

EINE FRAU ruft vom Ausgang. Habt ihr keine Aufträge für uns, Genossen? Können wir euch einen Wunsch erfüllen?

VANZETTI. Verschafft meiner Schwester Luigia das Reisegeld nach Amerika. Ich möchte sie noch einmal umarmen.

STIMMEN AUS DEN ARBEITERN. Das versprechen wir dir, Genosse Vanzetti.

KOMMISSAR. Vorwärts! Vorwärts! – Führt die Gefangenen ab.


Die abgehenden Arbeiter stimmen die

Internationale an.


Vorhang.


Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 632-637.
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