Altonaische Romanzen
I

[80] Sonntagabend wars. Mit Dröhnen

scholl der Glocken schwer Gebrumm.

Eine Schar von höheren Söhnen

stand, bestrickt vom Reiz der Schönen,

rund um eine Jungfrau rum.

Der galantste dieser Leute

war ein junger Refrendar.

Auch war da ein Pharmazeute,

während einer Knaben bleute

und der vierte Fähnrich war.

»Komm, o holdestes der Wunder,

komm mit mir«, rief der Jurist.

»Ich hab prächtigen Burgunder,

der für jeden Elendsplunder

alleweil das Beste ist.«

Rief der Apotheker: »Lenzen-

blümlein wonnigstes, o hör!

Folge mir, ich will kredenzen

aus den duftigsten Essenzen

dir den köstlichsten Likör.«

Leise (denn die andern schrien)

sprach der Lehramtskandidat:

»Komm zu mir! Mit Poesien

will ich dein Gemüt umziehen.

Komm, o folge meinem Rat!«[80]

Der Soldat in der Kaserne

wohnt so sturmfrei nicht wie die –

und er schnarrt: »Bei Mondschein gerne

seh ich solche Augensterne.

Machen wir 'ne Kahnpartie!«

Doch die Maid mit heißen Wangen

stand verlegen, schamhaft da.

Nein, sie ließ sich nicht mehr fangen –

davor hatt sie schweres Bangen:

Einmal war sie schon Mama.

Nun, das Kind war früh gestorben.

Da der Vater nichts besaß,

wär es auch wohl sonst verdorben.

Jetzt von vieren gar umworben,

stand sie da und wußt nicht, was.

Doch mit immer engern Klammern

hat das Kleeblatt sie umhegt,

und sie fühlt ein menschlich Jammern,

bis sie aus den Herzenskammern

jenes Spinnweb fortgefegt.

Endlich lispelt sie: »Ja freilich,

eine Bootfahrt macht ich gern –

doch mit allen! Unverzeihlich

wäre sonst mein Handeln, weil ich

niemals geh mit einem Herrn.«

Darauf ist man eingegangen,

nahm ein Boot und stieß vom Land,

ruderte mit langen Stangen,

bis die Glocken leiser klangen

und des Ufers Rand verschwand.

Silbern schien der Mond und helle,

wie er's nur am Sonntag tut,

und beleuchtete die Stelle,

wo der Kahn, von mancher Welle

sanft gewiegt, im Wasser ruht.

In dem Boot war unterdessen

trotz der Jungfrau Widerspruch[81]

alle Züchtigkeit vergessen;

ja, man riß ihr ab vermessen

von dem Kleid das Übertuch.

Keiner fragt, ob sie nicht friere,

und es blieb nicht bei dem Schal.

Sie benahmen sich wie Tiere,

die Kumpane, alle viere –

ohne Anstand und Moral.

Keiner von den vieren scherte

sich um seiner Holden Not.

Keinen quält's, daß sie sich wehrte

und verzweifelt aufbegehrte; –

ach, sie schämte sich halbtot.

Was geschah, das übermittl ich

schamhaft nur durch diesen Strich: –

Alle waren unerbittlich,

keiner wußte mehr, was sittlich,

taktvoll sei und tugendlich.

Das war eine böse Bootfahrt

für die Jungfrau. Ob sie schrie,

half ihr nichts, und ob sie rot ward.

Ärger als die ärgste Todfahrt

deucht ihr diese Kahnpartie.

Aber gleich am andern Tage

lief zum Staatsanwalt die Maid,

daß sie dem ihr Unglück klage

und der Richter Sorge trage,

daß gerochen werd ihr Leid.

Und so wurden denn die frommen

Jüngelinge vorgeführt,

wurden allesamt vernommen,

daß sie zu der Strafe kommen,

welche solcher Tat gebührt.

Doch es zeigt in langer Rede

der galante Refrendar,

daß kein Grund zu dieser Fehde,

daß sie eine sei wie jede,[82]

die schon mal ein Kind gebar.

Diese Rede hat gebrochen

jeden Groll vor dem Gericht.

Alle wurden freigesprochen:

Eine Maid, die schon in Wochen

war, verdient was Besseres nicht!

Als neun Monate vergangen

und vorbei das neue Wehn,

trug die Jungfrau ein Verlangen,

von dem Kind, das sie empfangen,

sich den Vater anzusehn.

Und sie trat mit ihrem Kinde

bittend bei den vieren ein.

Doch man hieß sie gehn geschwinde,

trieb sie fort in alle Winde –

keiner wollt's gewesen sein.

Denn die Alimente hassen

alle voller Reu und Scham,

und in allen Bildungsklassen

sieht man jedermann erblassen,

der in solche Lage kam.

Wieder also ging die Schöne

flehend vor das Amtsgericht

und verklagt die höheren Söhne.

Wieder sparte sie die Töne

echtester Verzweiflung nicht.

Ein Gesetzessammelsurium

lenkt jedoch des Rechts Gewalt,

und in diesem Corpus jurium

bietet die Exceptio plurium

selbst dem strengsten Richter halt.

Und so saß sie abgewiesen

mit dem Säugling ganz allein.

Ihre Tränen netzten diesen,

flossen strömend auf die Fliesen,

bohrten tief sich ins Gestein. –

Sonntagabend war es wieder.[83]

Seht, da ging sie mit dem Kind,

vorgesteckt ein Sträußchen Flieder,

leise lullend Wiegenlieder,

dahin, wo die Böte sind.

Und sie fuhr mit ihrem Kleinen

an denselben Fleck hinaus,

nahm das Kind an Kopf und Beinen,

und beschwert mit harten Steinen,

sprang sie aus dem Kahn heraus.

Freundlich nahm sie eine Welle,

tauchte tief sie in die Flut

und bedeckte schnell die Stelle.

Silbern schien der Mond und helle,

wie er's nur am Sonntag tut.


II

In Altona, wo jüngst vier junge Leute

man notzuchtshalber freisprach vor Gericht;

in dieser Stadt der Freiheit spielt auch heute

mein tiefbewegtes trauriges Gedicht.


Ein junges Mädchen ging mit einem Jüngling –

das war die Sünde, welche sie beging.

Und eines Tags ging er mit ihr ins Tingling-,

ins Tingeltangel-Tingelingeling.


Doch hinter ihnen schlich mit leisen Schritten

ein Auge des Gesetzes in Zivil;

denn hierzulande setzt man schlechten Sitten

und ungetrauter Liebe bald ein Ziel.


So ungehört im Kautschuk der Galoschen

folgt ihnen ins Lokal der Kriminal,

und für den Schandpreis von acht Silbergroschen

empört er sich ob ihrer Unmoral.
[84]

Der Jungfrau Namen kriegt er bald zu wissen,

auch ihren Stand – denn sie war Näherin –,

und diese Botschaft bracht er amtsbeflissen

dem Präsidenten von der Sitte hin.


Der nahm von diesem Umstand gleichfalls Kenntnis

und auch das vorgeschriebene Ärgernis

und engagiert für unsrer Maid Verblendnis

die altbewährte Göttin Nemesis.


Und sieh – der Paragraph der Rache fand sich

alsbald im Sittenkodex Altonas.

Der war zu brauchen, denn er roch so ranzig

wie alter, schimmelgrüner Harzer Kas.


Gestützt auf solcherlei Moralgesetze,

verfügt man übers Mägdlein die Kontroll,

ernannte sie per Strafmandat zur Metze,

als welche sie hinfüro gelten soll.


Doch daß die Kinder nicht zu frühe lernen,

wie Liebe manchmal talerweis entbrennt,

bringt man die Huren unter in Kasernen,

als welche man gemeinhin Puffs benennt.


Und unserm Mägdlein, dem die Absicht fern lag,

dem treuen Liebsten treulos zu entfliehn,

und das noch nie bei einem andern Herrn lag,

befahl man, in so 'n Ding hineinzuziehn.


Soll ich die Seelenqual der Ärmsten schildern? – –

Erlaßt es mir, da sonst das Herz mir bricht.

Denn eine solche Flut von Leidensbildern

fand selbst ein Henkersknecht erfreulich nicht.
[85]

Das Mägdlein fleht den Herrgott an um Gnade

und um Pardon für ihrer Lieb Gewalt;

alsdann in einem salzigen Tränenbade

schwamm eilends sie zum nächsten Rechtsanwalt.


Der nahm sich ihrer mit beredten Worten

und vielem Mut an vor dem Amtsgericht,

auf daß nicht hinter des Bordelles Pforten

dem armen Mägdelein ein Leid geschieht.


Jedoch was Recht ist, das muß Rechtens bleiben,

so lautete der Wahrspruch des Gerichts.

Wer Unzucht treibt, mag im Bordell sie treiben,

da helfen Jammern ihr und Tränen nichts.


Die Sache zog sich noch durch drei Instanzen – –

doch überall war der Beschluß egal.

Sie ward verdammt, fortan im Puff zu tanzen,

aus Gründen der gefährdeten Moral.


Und ihr, die doch bis dahin stets die Treuste,

die nie sich andern als dem Liebsten gab,

gewöhnen dieses jetzt Matrosenfäuste

und syphilitische Steuerleute ab. – –


So ward die gute Sitte doch gerettet

und auch gewarnt vor unzuchtsvoller Lieb,

und mit der Jungfrau Herzblut eingefettet,

rollt ruhig seines Wegs der Staatsbetrieb.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 80-86.
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