Das kleine Mädchen

[68] Am Wege ohne Falsch und Bös,

noch kindlich im Gewand

und erst seit kurzem amourös,

ein liebes Mägdlein stand.

Um Ohr und Schläfe quoll das Haar

in bräunlichem Gelock,

und senkrecht wuchs das Beinepaar

aus dem karierten Rock.

Ihr dunkles Auge spähte rasch[68]

die Straße quer und lang,

ob's einen Männerblick erhasch,

flog auf und nieder bang.

Und kam des Weges ein Kommis

und sah die Kleine stehn,

dann ward sie rot, dann zittert sie

vom Kopf bis zu den Zehn.

Doch wenn geziert ein feiles Weib

an ihr vorüberstrich,

dann schütterte der junge Leib

vor Neid und straffte sich.

Am Spätnachmittag ging sie heim;

ein schwerer Schatten fiel.

Sie fand der Sehnsucht keinen Reim,

dem Herzensdrang kein Ziel.

Und mit den Eltern saß zu Haus

sie um den Tisch herum,

da schämt sie sich die Augen aus

und wußte nicht, warum.

Doch erst, wenn es in dumpfem Takt

vom Kirchturm schlug zwölf Uhr,

dann stand sie vor dem Spiegel nackt

und drehte die Figur.

Es flog der Puls, der Atem dampft,

und wütend war die Faust

um die gestraffte Brust gekrampft,

in der es gor und braust.

Dann kam der Schlaf, der drückte sie

mit Träumen schwer wie Blei,

er führte Hure und Kommis

im wilden Tanz vorbei.

Und alle Sehnsucht dreht und wand

sich mit im Walzerkreis.

Die Morgensonne kam und fand

das Kind im Fieberschweiß.

Doch vor und nach dem Mittagsmahl

da stand sie wieder dort,[69]

wo sie den Träumen Nahrung stahl,

und wollte nimmer fort.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Das Leben floß. Doch ein Gebet

trat auf die Lippen ihr:

»O Gott, schick einen, der dort geht,

schick einen doch zu mir!

O nahm mich einer mit Gewalt!«

So hat sie stumm geklagt.

Sie war erst dreizehn Jahre alt,

und keiner hat's gewagt.

Mit fünfzehn war sie blaß und bleich,

war müde und verblüht

und hat sich um das Himmelreich

des Glücks nicht mehr bemüht.

Und als sie siebzehn Jahre war,

da kam ein Pharmazeut,

der führte sie zum Traualtar.

Wie das die Eltern freut!

Vier Kinderchen zeugt er mit ihr,

so ging die Zeit herum.

Die Kinder wurden alle vier

gesund, vergnügt und dumm.

Die gute Mutter blieb dem Mann,

dem eh'lichen Gemahl,

so treu wie's nur verlangen kann

die sittsamste Moral.

Nur manchmal, wenn der Bettgenoß

laut schnarcht, stand sie voll Leid

am Wege, wo das Leben floß –

im kurzen Mädchenkleid.

Dann hat sie's andern Tags gespürt,

als ob ein Fehl sie reut:

Der einzige, der mich je berührt,

ist dieser Pharmazeut!


Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 68-70.
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