Vor der Vergeltung

[133] Habt ihr es vergessen? Wir wissen es noch,

wie ihr beugtet vor uns den Nacken,

wie eure Hoffart sich winselnd verkroch,

erwartend den Tritt unserer Hacken.

Weh uns, uns Siegern – wir traten nicht zu.

Wir glaubten den Schwüren der Treue.

Wir scheuten den Blutsaum an unserm Schuh,

wir schonten geheuchelte Reue.

Und staunend, noch zweifelnd, wagtet ihr zag

– und es glückte – den Blick zu erheben.

Da saht ihr, unser Vertrauen war echt,

die Freude, die auf unsern Zügen lag,

war die Lust, zu formen ein neues Geschlecht,

ein freies, ein glückliches Leben.

Jetzt mischtet ihr im verborgenen Gift

aus altverstaubten Phiolen,

berieft euch auf tote Satzungsschrift

und tratet uns unter die Sohlen.

Ihr schontet uns nicht, ihr tratet zu

und tratet und tretet noch heute.

Durch Blutmeere watet euer Schuh,

doch eure Rache kennt keine Ruh,

und eure Rache will Beute ...

Ihr habt es vergessen, wir wissen es noch,

wie ihr eure Nacken gebogen,

wie eure Hoffart sich winselnd verkroch

und wie eure Schwüre gelogen.

Wir wissen es noch und vergessen es nie –

und wissen, die Stunde kommt wieder;

wir beugen euch wieder unter das Knie –

und glaubt uns, die Eide, die ihr schwört,

wir haben sie einmal gläubig gehört –

sie zwingen uns nicht mehr nieder.

Wir haben gelernt. Wir wissen Bescheid.

Ihr lehrtet uns Not und Haß und Leid[134]

und die Kraft, den Willen zu straffen.

Schon dämmert der Morgen im Nebeldampf.

Der Mittag bringt den Entscheidungskampf.

Auf Leben und Tod – zu den Waffen!

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 133-135.
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