Der Glockenturm

[45] Aus roten Dächern ragend strebt

der Kirchturm in den hellen Tag.

Von dunklem Erz die Glocke schwebt

in seinem steinernen Verschlag.

Und neben ihr hängt im Gestühl

ein Tau, vom Winde leis geschwenkt.

Kein Blick klimmt hoch und kein Gefühl.

Kein Mensch geht unten, welcher denkt,

daß dieses Tau in dem Gerüst,

von einer mutigen Menschenhand

geschlagen an der Glocke Rand,[45]

das Volk zu Taten wecken müßt. –

Da starren sie, gelangweilt, kühl:

das Tau, die Glocke und der Turm.

Mein Sehnen nur steigt ins Gestühl

und läutet Sturm.

Und läutet, bis der Glöckner stumm

den Weg sich zum Gerüste bahnt

und alles gläubige Publikum

zum friedlichen Gebete mahnt.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 45-46.
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