Kalender (1913)

[51] Januar: Der Reiche klappt den Pelz empor,

und mollig glüht das Ofenrohr.

Der Arme klebt, daß er nicht frier,

sein Fenster zu mit Packpapier.


Februar: Im Fasching schaut der reiche Mann

sich gern ein armes Mädchen an.

Wie zärtlich oft die Liebe war,

wird im November offenbar.


März: Im Jahre achtundvierzig schien

die neue Zeit heraufzuziehn.

Ihr, meine Zeitgenossen, wißt,

daß heut noch nicht mal Vormärz ist.


April: Wer Diplomate werden will,

nehm sich ein Muster am April.

Aus heiterm Blau bricht der Orkan,

und niemand hat's nachher getan.


Mai: Der Revoluzzer fühlt sich stark.

Des Reichen Vorschrift ist ihm Quark.[51]

Er feiert stolz den Ersten Mai.

(Doch fragt er erst die Polizei.)


Juni: Mit Weib und Kind in die Natur,

zur Heilungs-, Stärkungs-, Badekur.

Doch wer da wandert bettelarm,

den fleppt der würdige Gendarm.


Juli: Wie so ein Schwimmbad doch erfrischt,

wenn's glühend heiß vom Himmel zischt!

Dem Vaterland dient der Soldat,

kloppt Griffe noch bei dreißig Grad.


August: Wie arg es zugeht auf der Welt,

wird auf Kongressen festgestellt.

Man trinkt, man tanzt, man redet froh,

und alles bleibt beim Status quo.


September: Vorüber ist die Ferienzeit.

Der Lehrer hält den Stock bereit.

Ein Kind sah Berg und Wasserfall,

das andre nur den Schweinestall.


Oktober: Zum Herbstmanöver rücken an

der Landwehr- und Reservemann.

Es drückt der Helm, es schmerzt das Bein.

O welche Lust, Soldat zu sein!


November: Der Tag wird kurz. Die Kälte droht.

Da tun die warmen Kleider not.

Ach, wärmte doch der Pfandschein so

wie der versetzte Paletot!


Dezember: Nun teilt der gute Nikolaus

die schönen Weihnachtsgaben aus.

Das arme Kind hat sie gemacht,

dem reichen werden sie gebracht.


Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 51-52.
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