Vision

[103] Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,

wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,

welcher eines nahen Schlotes Bauch

schwer entklimmt.


Und der Rauch formt vor dem roten Schein

weiche Arabesken und Figuren.

Wunderlich zerfließen die Konturen

querluftein.
[103]

Was die Menschenhand am Ofen drunten

um des Brotes willen schafft und flicht,

zieht vorbei im abendhimmelsbunten

Schemenlicht.


Hämmer fallen auf geglühten Stahl.

Flammen schlagen, und der Motor brüllt,

wo man schwarze Eisenmäntel füllt,

ohne Zahl.


Traurig bleibt der Wandrer stehn und sieht,

wie das finstre Werk in grauen, langen,

schlimmen Wegs bewußten Wolkenschlangen

nachtwärts zieht.


Giftig spaltet sich die Schlangenhaut.

Schwerter züngeln und Kanonenmünder

runden sich und bersten, Hundertpfünder –

ohne Laut.


Pferdeleiber winden sich, und Hände

greifen langgefingert jäh ins Leere.

Durch die Reste wüster Waldgelände

stelzen Heere.


Steil und spitzig stoßen Bajonette

auf und nieder. Türme steigen, kippen.

Tanzend, wiegend schlingt sich eine Kette

aus Gerippen.


Fäuste wachsen, krallen sich um Kehlen.

Dürre Körper sinken unter Hieben.

Vor dem roten Schein im Rauch zerstieben

Menschenseelen.
[104]

Nacht verschluckt die nebligen Gebilde.

Ruhlos walkt der Schlot der Waffenschmiede ...

Wann wird Tag? O wann erwacht der milde

Weltenfriede?

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 103-105.
Lizenz:
Kategorien: