Die Anmeldung

[269] Mein Freund Albert R. hat es dem Staat und der Kirche sein ganzes Leben lang bewiesen, daß er ihre Autorität weder anerkennt noch fürchtet. Der einzige Mensch, vor dem er je Respekt gehabt hat, ist seine übrigens engelsgute Frau, von der er daher nie anders als von seiner Regierung spricht.

Wir kamen spät in der Nacht von einer anarchistischen Gruppensitzung. Die Diskussion setzte sich auf der Straße fort, und als wir eine halbe Stunde vor Alberts Hause gestritten und gelärmt hatten, forderte er uns auf, mit hineinzukommen. Er betrieb damals eine kleine Gastwirtschaft, die aber schon stundenlang geschlossen war. Es wurde reichlich Getränk ins Wohnzimmer mitgenommen, und die Unterhaltung wurde unter alkoholischen Einflüssen immer lebhafter. Ein Genosse fuhrwerkte im Eifer des Gesprächs mit seinem Spazierstock in der Luft herum, und dabei geschah es, daß er in den schönen goldumrahmten Spiegel über dem Sofa hineingestikulierte.[269] Es gab einen leichten Knall, und mitten in der Spiegelscheibe klaffte ein Riß. »Na, ich danke, meine Regierung!« sagte Albert bloß. Dann wurde ein Kriegsplan ersonnen, wie es ihr mit einer frommen Lüge begreiflich gemacht werden könnte, und die Debatte ging weiter.

Morgens um sechs Uhr saßen wir noch beisammen; da ging die Tür auf, und die Regierung trat ein. Mißbilligend sah sie auf die Schwadron geleerter Flaschen und wollte schon schweigend an ihre Hausarbeit gehn, da fiel ihr Blick auf den Spliß im Spiegel. Ein Donnerwetter brach los: »Wer hat das getan?« Niemand, versicherten wir. Um vier Uhr habe es plötzlich geknackst, und als wir aufblickten, sei der Spiegel kaputt gewesen. Es sei ganz von selbst passiert.

Alberts Frau stand den weltlichen und außerweltlichen Mächten nicht so respektlos gegenüber wie ihr Gatte. »Um Gottes willen!« schrie sie entsetzt. »Dann ist jemand gestorben und hat sich gemeldet!« Sie war ganz außer sich, und wir bemühten uns vergeblich, sie zu beruhigen, ohne ihr aber die Wahrheit einzugestehen. – Etwas beklommen zogen wir ab.

An diesem Vormittage erhielt Frau R. ein Telegramm mit der Nachricht, daß um vier Uhr nachts plötzlich ihre Mutter gestorben sei.

Alberts Regierung erzählt heute noch allen, die dem Übersinnlichen mißtrauen möchten, wie sich ihre eigene Mutter in der Todesnacht angemeldet habe; ihr Mann, der doch wahrhaftig nicht abergläubisch sei, müsse es selbst bestätigen. Dann sagt mein Freund Albert weder ja noch nein; er grunzt nur.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 269-270.
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