Stammtisch-Eroberer

[271] Es war die ekelhafte Zeit der ersten Kriegsmonate. Die hysterische Verrücktheit aller Bevölkerungsschichten hatte sich auch bis auf verschwindende Ausnahmen den Kreisen der Künstler und Dichter mitgeteilt, die sich selbst so gern als den geistig überlegenen Teil der Menschheit aufspielten.

Ich hatte mich daran gewöhnt, schweigend zuzuhören, wenn wieder mal die große patriotische Walze lief. So stand eines Abends in der Torggelstube die belgische Frage zur Erörterung. Der leider bald darauf verstorbene Anglist Professor Sieper stand mit seiner Meinung allein, daß die von Bethmann Hollweg selbst zugesicherte Rückgabe Belgiens nach dem Kriege eine Selbstverständlichkeit sein müsse. »Das wäre noch schöner!« schrien die andern und überboten einander in der Aufzählung politischer, militärischer, wirtschaftlicher, kultureller und moralischer Gründe, die die dauernde Einverleibung Belgiens ins Deutsche Reich zwingend erforderten. Als sich der nationale Lärm ein wenig gelegt hatte, nahm auch Frank Wedekind, der bis jetzt wie ich schweigend dabeigesessen hatte, bedächtig das Wort: »Ich bin freilich ebenfalls der Meinung, daß Belgien von Deutschland annektiert werden muß.« Ich war nun doch erbost und fragte gereizt: »Sie auch? Das überrascht mich denn doch stark.« – »Aber natürlich«, rief Wedekind. »Ich bitte Sie, wenn wir Belgien wieder herausgeben, sieht ja alle Welt, wie wir dort gehaust haben!«

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Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978.
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