Künstlerpflicht

[181] Der Entwicklung der Kunst zur Offenbarung zukünftiger Menschheit muß die Entwicklung der Künstler zu Menschen vorangehen.

Das Verhängnis des Künstlers ist seine Vereinsamung, seine selbstgewählte Abschließung von den Dingen des Volkes. Hier ist der schmerzlichste Grund der Kulturarmut dieser Zeit, hier die Mitschuld der Künstler an dem Entsetzen, das wir durchleben. Denn der Künstler, der sich in sein Atelier oder in sein Büro einsperrt, stellt sich damit nicht über die Mitwelt, sondern außerhalb der Menschheit. Er entzieht das geistig-seelische Gut seiner Künstlerschaft der Wirkung auf das Weltgeschehen.

Bisher waren die Künstler Besondere ohne Zusammenhang mit allen – und waren noch stolz darauf. Es kommt[181] ihnen aber zu, ihr Besonderes zu benutzen zur Bereicherung aller. Wer in Wahrheit Künstler ist, wird seine Weisheit und sein Pathos fruchtbar zu verwenden wissen, sofern er nur auch Mensch ist.

Sache des Künstlers ist zuallererst Gemeinschaft. Sein Mittel, Gemeinschaft herzustellen und auszuüben, ist die Kunst. Schafft eine Kunst geistige Verbrüderung unter den Menschen, so schafft sie das Beste, was unter Menschen sein kann: Volk.

Volk muß noch geschaffen werden. Was heute besteht, ist sein Surrogat, ist Staat. Staat ist Krieg, Haß, Verfolgung, Zwang, Gesetz. Volk ist Friede, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Ausgleich, Kultur. Der Künstler stelle sich, sein Werk, seine Idee, sein Leben in den Dienst des Volkes, so wird der Inhalt des Volkes Kultur und Schönheit sein.

Dies ist die Aufgabe der Künstler in den kommenden Tagen: durch die Mittel ihres Geistes, also durch ihre Kunst, Völker aufzurichten und die Grenzen zwischen ihnen zu zertrümmern. Um es zu können, müssen die Künstler leidenschaftlich teilnehmen am Erleben der Welt, mit Leidenschaft selbst Menschen sein. Die Künstler müssen sich verantwortlich wissen für alles, was die Erde erschüttert. Ihr Werk muß teilhaben am Ursprung aller Ereignisse. Ihr Werk sei ihr Gewissen, ihr Gewissen aber sei geleitet vom Willen zum Wesentlichen.

Wenn einmal die Künstler ihren Platz gefunden haben werden unter den Menschen, wenn ihr Schicksal eins geworden sein wird mit dem Schicksal aller, dann werden die ewigen Wahrheiten, die vergiftet und geschändet sind, ohne bei den Geistigen und den Künstlern Schutz zu finden, wieder aufstehen und wahr bleiben, die ewigen Wahrheiten, deren Namen Friede und Gemeinschaft sind.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 181-182.
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