Vom Tode

[179] Was wir Ehrfurcht vor dem Tode nennen, die Mischung von Schauder, Beklemmung, Wehmut und Jenseitsgefühl, die wir beim Hinsterben eines Mitmenschen empfinden, sollte uns deutlich bewußt sein als Ehrfurcht vor dem Leben.

Die Trauer um einen Toten ist die Bejahung seines Lebens, ist das Bekenntnis zum Diesseits als allein Erlebniswertem. Die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode ruht immer nur auf Glauben oder Spekulation. Keinem, der in der Überzeugung von Seelenwanderung, Wiedergeburt, Fortwirkung irgendwelcher Art Trost und Sicherheit findet, soll Skepsis oder gar Spott begegnen.[179] Aber alle, die zu innerer Klarheit über ihren Verbleib nach dem Abscheiden gelangt sind – das gilt auch für die Gläubigen mit dem Kindertraum von Himmel und Paradies –, sollten sich erinnern, daß diese Klarheit ihr Glaube und daher ihr Eigentum ist, nur für sie gültig und als sichere Wahrheit nur von ihnen beansprucht und also nur auf sie selbst anwendbar.

Kriegszeiten, Epochen, in denen der Tod über alle Vorstellung Opfer empfängt, verführen viele zu leichtfertiger Einschätzung des Lebens. Sie beruhigen ihre Bedenken und ihr Grauen mit der Erinnerung an die eigene Zuversicht auf ein Weiterleben nach dem Tode. Sie begehn schweres Unrecht an denen, die ihrer Weisheit nicht glauben, die für sich zu keiner Lösung des düstern Rätsels kommen konnten, die des natürlichen Ablaufs ihres Lebens bedurft hätten, um überlegen und ausgesöhnt die überstandene Welt mit einer neu beginnenden vertauschen zu mögen. Ja, der Trost der eigenen Seele wird Grausamkeit gegen die fremde, weil er das Mitgefühl am fremden Leid verdrängt und den Sterbenden eines Teils der Trauer beraubt, auf die er um seines Todes willen Anspruch hat.

Natürlich ist von keinem Menschen zu verlangen, er müsse dem Tode jedes andern Menschen nachtrauern. Das Sterben einer Person beschäftigt niemanden in höherem Maße, als es ihr Leben getan hat. So ist uns der Tod der meisten Menschen völlig gleichgültig. Aber wir sollten uns hüten vor einem summarischen Bedauern, wenn das Los eines gewaltsamen Endes viele zugleich trifft. Es ist eine Frivolität, zu klagen: Schrecklich! In der oder jener Schlacht sind wieder zehntausend Mann gefallen ... und dabei die Zahl der Leichen statt die Summe der zerstörten Schicksale zu meinen. Einmal zehntausend ist leicht zu denken; der Phantasie wird dabei keine Aufgabe gestellt. Zehntausend mal eins aber ist ein Gedanke von furchtbarem Gewicht, denn er enthält die Vorstellung von zehntausend Einzelerlebnissen mit aller Qual jedes[180] Betroffenen, mit allen Tränen und Klagen, die jedem der zehntausend nachweinen – nicht der zehntausend Mann, sondern der zehntausend Männer. Hat uns das Leben dieser Menschen bekümmert und bewegt, so haben sie ein Anrecht darauf, mit allen Empfindungen, die das Ereignis des Todes erweckt, betrauert zu werden. Der Tod kann nicht korporativ erfaßt werden. Daher kann keine Trauer aufrichtig sein, die ihren Schmerz an der Zahl weidet.

Je größer unsre Achtung vor dem Leben ist, je stärker unser eigener Lebenswille uns zwingt, den fremden Lebenswillen anzuerkennen, um so ehrfürchtiger werden wir das Phänomen des Todes begreifen: als Mahnung des irdischen Lebens, bis zu seiner Grenze lebendigen Geistes zu sein und die Aufgaben des Lebens zu erfüllen. Welche Aufgaben jenseits der Grenze gestellt sind, ist das Geheimnis, das der Tod dem Leben verborgen hält. Wer da glaubt, das Geheimnis des Jenseits enträtselt zu haben, der stört mit seinem Glauben vom Tode nicht das Diesseits, dessen Recht das Leben ist.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 179-181.
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