Peter Hille

gestorben am 4. Mai 1904

[170] Berlin ist die zivilisierteste Stadt der Welt; daran wird es liegen, daß es so wenig Kultur kennt. In Berlin hat das Bequemlichkeitsbedürfnis der Weltstädter sich alles Praktische schon längst nutzbar gemacht. Die Möglichkeiten der Beförderung und Beleuchtung, der Behausung und Ernährung sind fabelhaft; alle Verkehrseinrichtungen funktionieren mit größter Sicherheit in Häusern, Straßen und öffentlichen Anstalten; tadellos ist die Ordnung in allen geschäftlichen, privaten und allgemeinen Beziehungen, aufs beste pulsiert die Gleichmäßigkeit in den Verwaltungen wie in den Familien. Auf der anderen Seite: völlige Verständnislosigkeit gegen alles, was im funktionellen Getriebe nicht mitrollt, was den praktischen Bedürfnissen, der Bequemlichkeit und dem Nutzen der Gesamtheit nicht dienstbar ist; die äußerste Fremdheit gegenüber allem Zwecklosen, allem Eigenleben, aller Kultur.

Der bemerkenswerteste Ausdruck der Kultur ist die Kunst, soweit sie nicht bestellt, dem Unterhaltungs- und Vergnügungsbedürfnis der Menge nicht angepaßt ist, soweit sie um ihrer selbst willen da ist und um des Künstlers willen, der sich in ihr mit der Welt und seiner Zeit auseinandersetzt. Ich möchte so sagen: soweit sie lyrisch ist. Der Lyriker als Berliner Bürger: schon die Vorstellung ist komisch, ist eine contradictio in adjecto. Nein, ein Lyriker – welcher Kunst er immer frönt – kann kein Berliner sein, überhaupt kein Weltstädter und kein Bürger, mag sein Schaffen noch so stark beeinflußt sein von den Eindrücken, die seine Seele aus dem flutenden Strom der Großstadt aufgesaugt hat. Zeit und Leben, alles, was um ihn wirkt und quillt, ist dem lyrischen Künstler Mittel und Reiz zum Gestalten; er ist immer Phonograph, Grammophon nur jenen, die seine Töne hören können, die seine Farben sehen, die seine Schwingen zittern fühlen.[170]

Vor drei Jahren starb ein Lyriker, ein Dichter, der seine Zeit und seine Umgebung, dieses nüchterne, zweckvolle, poesiearme und kulturfremde Berlin, tief erlebte und genoß; der dem Instrument, das er aus dem klanglosen Holz seiner Zeit und der salzlosen Luft des Raumes, in den er gestellt war, baute, Weisen entlockte, die zeit- und raumlos sind, golden tönen über dem Atem von Menschen, für die sie nicht erklangen, nicht geformt wurden.

Nur selten vernahmen die Berliner etwas von Peter Hille. Wenn verehrende Freunde seinen Namen ganz laut in den Weltstadtlärm riefen, dann sah man vergnügt auf den sonderlichen Mann herab, der zerzaust und ein wenig abgerissen daherging, ein schmutziges Notizbuch in der Hand, in das er fast unaufhörlich schrieb: Gedanken und Einfälle, Stimmungen und Randglossen über das, was er erblickte, erhorchte, ertastete; der jede Seite mit dem Bleistift sechsmal überquerte und sich um die spöttisch Blickenden nicht kümmerte, die von den Schönheiten nichts ahnten, die der Dichter für seinen persönlichen Bedarf aus ihrer Häßlichkeit hob. Und dann sprach man von ihm, als die Nachricht von seinem Tode durch die Blätter ging. Was erfand man nicht für Mordgeschichten, um sein Sterben interessant zu machen! Ermordet sollte er sein, und ganz mysteriöse Dinge sollten es veranlaßt haben, daß man ihn eines Tages mit blutendem Kopf ohnmächtig auf der Bank eines Berliner Vorortbahnhofes auffand. Die guten Leute, die sein Leben nie als ein tiefes, herrliches Geheimnis empfunden hatten, witterten hinter seinem Tode geheimnisvolle, poetisch-gruselige Umstände. Und doch war für jeden, der nicht mit des Dichters Sinnen fühlt, sein Tod so nüchtern, so unsagbar nüchtern! Ein fünfzigjähriger Organismus, geschändet von allen Entbehrungen, allen Strapazen materieller Not, war verbraucht. Auf der Heimfahrt von Berlin nach Schlachtensee, wo ihn Fremde zuletzt versorgten, brach er zusammen, die Lungen versagten, er schleppte sich auf einer Zwischenstation aus dem Zug, fiel und zerschlug[171] sich den Kopf. Man setzte ihn auf eine Bank. Da wurde er gefunden. Man brachte ihn nach Groß-Lichterfelde ins Krankenhaus, und dort starb er. Das ist alles.

Peter Hille ist verhungert, ganz regelrecht verhungert; nicht, wie mancher andere Bettler, durch ein plötzliches Aufhören der Lebenszufuhr, nicht von heute auf morgen, sondern im jahrzehntelangen bitteren Kampf seines schwachen Leibes gegen die Bedürfnisse des Lebens, deren Befriedigung ihm vorenthalten war. Vorenthalten von der Gesellschaft, die ihn umgab, die ihn nicht bemerkt hatte im Getöse der Weltstadt, aber an seinem Grabe nun plärrte: Seht doch, ein Dichter ist tot, ein Dichter! Und die romantische Geschichten wob über sein Ende, die ihr die Schuld an diesem Tod abnehmen sollten.

Soll ich die Leute entschuldigen, die besten Herzens diesem qualvollen Siechtum zusahen? Es liegt mir nicht, zu sagen: sie können nichts dafür! Um so schlimmer! Entschuldbar sind nur die Taten, die bewußt geschehen, an denen Geist und Hand mitwirken, die gewollt sind und kämpfend verübt werden. Stumpfheit und Blindheit, blödes, verständnisloses Zuschauen ist nie entschuldbar. Der Fluch solchen Handelns an Peter Hille, an seinem besten, seinem reinsten Geist, fällt ohne Gnade, fällt bleischwer auf das deutsche Volk, auf seine »Gebildeten«.

Gewiß: Peter Hille selbst wußte nicht, was ihm Böses geschah. Er litt an besseren Leiden als an denen des Leibes. Er merkte kaum, wie gemein er mißhandelt wurde. Er hat die Qualen, die man ihn dulden ließ, nicht vergolten mit der Verhärtung seiner Seele. Er ging unbeirrt unter den Menschen, die ihm das Brot entzogen, und hob Schönes aus ihren Häßlichkeiten, Schönes, von dem sie selbst nicht wußten. Auch nicht deshalb wird sein Tod zur Anklage, weil er noch viel Wundervolles hätte dichten, uns viele Reichtümer hätte hinterlassen können, sondern, weil er das Leben liebte, selbst unter den Nöten, die man ihm auflud.[172]

Wie fremd, wie fern war Peter Hille seinen Zeitgenossen! Wie liebte er sie, er, der in ihnen die Menschheit verkörpert sah! Sein tiefstes Erleben lag in anderer Zeit. Im Kern seines Wesens fühlte er sich ins Mittelalter gehörig, in jene herrlichen Tage Michelangelos und Dantes, wo die Kultur eine Heimat, die Kunst eine Stätte hatte. Seine Erscheinung war wie aus einem Märchen, der gütige Weise mit dem lächelnden Kindesauge, dem unschuldigen Knabenkörper, den reinen, weißen streichelnden Händen und dem mächtigen Denkerhaupt mit dem großen Bart. Still und heiter ging er durch lärmende Straßen und glaubte sich in einsamen Gefilden, umgeben von Engeln und Genien.

Seine Kunst war rein und tief. Ganz Dichter, ganz Bildner, schaute er ins Leben. Jeder Gedanke formte sich ihm zum Symbol, jeder Satz zum Vers, jede Empfindung zum Reim. Sünde war ihm ein fremdes Wort, Häßlichkeit ein fremder Begriff, Moral ein fremdes Gefühl. Lauter und keusch wie das Quellwasser war sein Empfinden, groß und schön die bildhafte Umdeutung seiner Gedanken. Was er sah, dachte, fühlte, formte sich ihm spontan zum greifbaren Wortbild. Es gab nichts Abstraktes für ihn. Jeder Bewegung, jeder Stimmung, jedem Gefühl und jedem Genuß gab er Worte von sichtbarer Wesenheit.

Ich will keine langen Proben seiner Kunst geben. Wer sie kennenlernen will, lese seine hinterlassenen Werke. Eine kurze Probe nur aus der »Brautseele«:


»Der zweiten Keuschheit

köstliche Müdigkeit ruht

in dem wieder

niedergeschwiegenen Blut,

bis des Lebens innige Anmut

wieder höhersteigende Kräfte gewinnt

und weiter sich spielt

nach des Lebens lieblicher Weise.«
[173]

Ich zitiere diese Zeilen nicht als letzte Höhe seines dichterischen Könnens; nur als Probe der innigen Keuschheit seines Empfindens und als Beispiel für die tiefe innere Gereimtheit seiner Worte.

Schönheit war Peter Hille alles; und Schönheit, Dichtung und Leben war ihm Eins. Und doch sah er auch die grausamen Abgründe, an deren Rand man ihn stieß. Und doch kannte auch er Minuten der Bitterkeit, in denen er der Häßlichkeit Worte gab. Wie schmerzlich ist dieser Aphorismus:

»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer nicht arbeitet, soll speisen; wer aber gar nichts tut, darf tafeln.« Wie übel mußte man diesem Dichter erst mitspielen, ehe er solchen Satz fand. Wie oft stritt ich mit ihm über den Wert der Menschen Οἱ τλειστοι κακοὶ –: er wollte es nicht glauben, nicht sehen. Einmal schrieb er mir, als ich wütend gewesen war, weil ihn Leute in einem Kabarett verspottet hatten: »Ärgere Dich doch nicht über die Bande; lache doch über sie.« Zu kränken war er nicht.

Vielleicht hat er recht gehabt. Dem Künstler unserer Zeit, dem Fremden, Leidenden bleiben nur zwei Möglichkeiten, sich abzufinden. Einer kämpft an gegen die Frevel der menschlichen Ordnungen, baut sich ein Ideal der Wirklichkeit, wird Sozialist und Anarchist und hofft auf die Tage, die keinen Hunger mehr kennen werden und keine Not des Leibes. Er stellt sich bewußt in Gegensatz zur Gesellschaft, verbündet sich den Ausgestoßenen und Benachteiligten und eint seine Empfindungen zum Gefühl des Hasses gegen Staat und Gesellschaft, in dem Wunsch nach Rache. Der andere geht, wie Peter Hille, still seines Weges, liebt Leben und Liebe und dichtet Schönheit in die Menschen, die ihn verhungern lassen ...

Noch ist nicht die Zeit, Anekdoten von Peter Hille zu erzählen. Erst mag die Welt die Augen öffnen für das Vermächtnis, das er hinterlassen hat. Nur eine kurze Episode will ich berichten. Vielleicht wird mancher mehr darin finden als eine Anekdote. Wir waren zusammen im[174] Lesezimmer der Neuen Gemeinschaft. Peter Hille hatte sein Notizbuch vor sich liegen und den Bleistift in der Hand. Der Kopf lag ihm schwer auf der Brust. Nach langem Schweigen blickte er plötzlich auf, legte die Hand feierlich auf den Tisch und sagte ernst und stark: »Eben habe ich den Sinn meines Lebens gefunden. Ich bin: also ist Schönheit.«

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 170-175.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Lotti, die Uhrmacherin

Lotti, die Uhrmacherin

1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.

84 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon