Letzte Gedanken

[252] Eugen hatte herausgefunden, daß er am besten alles sehen würde, wenn der Spiegel etwas schräg zurückgelegt auf dem Tisch stände. Er saß auf dem Schreibtischsessel davor, den Kopf im Nacken, den Leib vorgebeugt. – Nun faßte er die Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte das Messer unter der Kehle an. Er zog die Nasenspitze hinauf und drehte die Schneide des Rasiermessers fest herum; sie drang ihm tief in den Hals.

Eugen fühlte, wie das Messer seiner Hand entfiel, und sah, wie der Blutstrahl gegen den Spiegel schoß. Es ist nicht schlimm, dachte er. Nicht einmal sehr kalt am Halse. Wahrscheinlich erwärmt das Blut sofort das Messer. Aber kolossal viel Blut spritzt da heraus – und es sieht über dem Spiegelglas ziemlich hell aus.

Er merkte, wie ihm der Kopf langsam vornüber sank. Dabei fiel ihm ein, daß er beschlossen hatte, die Gedanken während des Sterbens genau zu kontrollieren. Das ganze Leben, hatte er irgendwo gelesen, soll ja im letzten Moment blitzschnell noch an einem vorüberziehen. Na, so blitzschnell, schien ihm, kamen die Gedanken eben nicht daher. Es war doch schon eine ganze Weile her, daß er sich den Hals durchschnitt. – Langsam, ganz langsam fühlte er den Körper in die Stuhllehne zurücksinken.

Es würde aber, zum Donnerwetter, bald Zeit werden, daß die Erinnerungen sich einstellten! ... Kindheit – Liebschaften – Examina – – wo anfangen? Eugen dachte angestrengt nach. Wie denn? Litt er plötzlich an Gedankenflucht? Lächerlich, wenn er grade in diesem interessantesten Augenblick seines Lebens sein bißchen Kontrollfähigkeit nicht beisammen haben sollte.

Mit vieler Mühe fiel ihm der Name Klumpatsch ein. Ein sonderbarer Name! Klumpatsch! Wie ein Mensch bloß so einen Namen haben konnte! Wird selbst schon ein rechter Klumpen Matsch sein![253]

Hem – wer ist denn der Klumpatsch überhaupt? Woher kenne ich ihn nur? Wie komme ich grade jetzt auf den Namen? – Muß ihn wohl mal gelesen haben – in einer Novelle vielleicht – – oder einem Märchen – – –?

Die Betrachtungen brachen plötzlich ab. Eugen hörte sich schreien. Es war ein gurgelnder dumpfer Schrei, aber doch übermäßig laut; er klang wie von weit her und als ob ihn ein schrill gellendes Echo zurückgäbe.

Seltsam lange dauert es, bis man seine eigenen Laute hört. Es muß also falsch sein, daß der Schall erst auf große Entfernungen nachklappt. Von mir zu mir ist doch keine Entfernung! Wahrscheinlich bewegen sich die Schallwellen aus der eigenen Stimme zuerst vom Menschen weg und werden dann auf Umwegen zu ihm zurückgetragen. Ein akustisches Phänomen, mit dem man sich mal beschäftigen sollte.

Beschäftigen – – ja: aber, Herrgott, die Zeit vergeht. Woran dachte er gleich? – Leben vorüberziehen lassen – – Erinnerungen –?? Erinnerungen – ja so, Klumpatsch!! Richtig.

Klumpatsch – wo war ihm der noch begegnet? In einem Kindermärchen – natürlich! Kinder – – Kinderstube – – – Teufel noch mal!

Eugen empfand ein kühles Gefühl im Hinterkopf und wurde wütend. Sitze ich denn hier, um mich mit Klumpatsch zu beschäftigen? Es wird wohl endlich Zeit, daß die Erinnerungen vorbeimarschieren? Also! – Eugen nahm sich zusammen. Vaterhaus – Kinderstube – Eltern – Freunde – – Uhraufziehen – – Das sind doch keine Erinnerungen! Dabei empfinde ich ja gar nichts – sehe nichts – erlebe nichts – –; das sind doch bloß Worte, künstlich herzitierte Worte.

Wortassoziationen! – Die Psychoanalytiker sind eigentlich nicht dumm. Das Wort ist primär – aus Worten werden Begriffe. –? – Mauthner – –

Mauthner – ja. Und Kant. Sprache und Vernunft. Andrerseits: denkende Tiere! Der kluge Rolf – – komisch![254]

Kant – Rolf – Mauthner – – verflucht! Dabei denke ich mir ja wieder mal gar nichts. Das sind doch alles bloß wieder Worte – Worte – – Worte? ... Ach was! Gedanken konzentrieren! Will doch sehen, ob ich die Erinnerungen nicht herkriege! – Vielleicht geht's mit einem Frage- und Antwortspiel. – Wie heißt mein Mädel? Lucie! – Richtig. Haare? Blond. – Augen? Blau, eigentlich mehr graublau. Graublau – jawohl, gewiß – nur weiter! – Hände? Hände – Hände sind etwas Merkwürdiges. – Lucies Hände – ja doch! Lucies Hände: Hände – Finger – – Klavierspielen – – –. Das Klavier müßte wahrhaftig gestimmt werden ...

So geht's nicht. – Was wollte ich denn – –? Erinnerungen! Noch mal von vorn: Olga, Röschen, Gertrud, Else – – Kuckuck!

Was sollen mir denn die Mädchen alle?! Lauter Namen ohne Sinn und Bedeutung. – Ich hab doch Erlebnisse genug. Sakrament! Warum denn nun lauter fremde Frauennamen? – –

Es scheint wirklich nicht zu gehen. – Übrigens sehr beachtenswert, daß ich alle Gedanken in Worten ausdenke! Daher muß ich so lange nach den Erinnerungen suchen.

Also noch mal, von Anfang an: – Kindheit – Schule – Eltern – Klumpatsch – – Klumpatsch – – – Esel!!

Ärgerlich, ich komme nicht über den blöden Klumpatsch weg! – – Lucie: L, U, C, I, E; L, U – Lu, C, I, E – Cie; Lucie! Lu-cie – Li-Zu; Lucie, mach dein Lid zu! – – Sehr gut! Ausgezeichnet!

Himmel, ich komme nicht weiter! – Ich Esel! Ich E–sel!!! – –. Eeee–sel! Eeeee–sälll!!! Ich E–hee – – sählll!! – Eeehhhhää – – sääh – – elll – – – – – – – – – – –

Eugens Wirtin hörte den Schrei und stürzte in sein Zimmer. Sie fand den jungen Mann mit verglasten Augen im Schreibtischsessel zusammengesunken und mit Blut über und über besudelt tot vor. Sie alarmierte das Haus, die Straße. Man schrie nach der Polizei, dem Arzt.[255]

»Er hat sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchschnitten«, sagte der Polizeileutnant.

Der Arzt stellte fest, daß der Tod auf der Stelle eingetreten sein mußte.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 252-256.
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