493. Ein Unnererschen gefangen.

[330] Einmal beschlossen einige junge Bauern, einen Unnererschen einzufangen. Obgleich manche von diesem Unternehmen abrieten, so konnten doch die übrigen der Lust nicht widerstehen. Die Unterirdischen kommen aber bei Tage nie und zur Nachtzeit nur selten zum Vorschein; es war die Sache auch keineswegs leicht. Sie ließen es bis zur Johannisnacht; da stellten mehrere von den Beherztesten sich auf die Lauer, um eins zu erwischen. Doch die Dinger sind flüchtig und ihre Schlupflöcher klein; fast wären sie alle entkommen, wenn nicht der behendeste der jungen Burschen noch so eben ein kleines Mädchen von den Unnererschen bei der Schürze gefaßt hätte. In vollem Jubel ward es zu seiner jungen Frau ins Haus getragen.[330] Die nahm die Kleine freundlich auf den Schoß und schmeichelte ihr; sie gab ihr Zucker und allerlei Leckerbissen und fragte sie darauf hin und her, wie sie heiße, wie alt sie sei und so weiter. Aber die Kleine weinte nicht und lachte nicht und sprach und brach nicht. So blieb es einen Tag wie alle; kein Laut war aus ihr durch Versprechungen oder Drohungen herauszubringen. Da kam einmal eine alte Frau, die gab ihnen den Rat, nur alles verkehrt anzufangen, das könnten die Unnererschen nicht vertragen und fingen gleich an zu sprechen. Da nahm die junge Frau die Kleine mit in die Küche und befahl ihr, den Torf zur Suppe sauber abzuwaschen, während sie das Fleisch zerhacke, um Feuer anzulegen. Die Kleine rührte sich nicht. Da nahm die Frau selbst den Torf und wusch ihn dreimal sauber ab. Die Kleine staunte, aber sie rührte sich nicht. Als die Frau nun auch das Fleisch zerhackt hatte und das Feuer damit anlegen wollte, da sagte sie: »Frau, ihr werdet euch doch nicht an Gott versündigen wollen?« – »Nein«, versetzte die Frau, »wenn du sprechen willst, will ich recht tun, sonst aber verkehrt.« Seit der Zeit sprach die Kleine; bald aber fand sie Gelegenheit zu entwischen. Als kurz darauf die Frau eine Tochter geboren hatte, lag am andern Morgen ein Wechselbalg in der Wiege. Die Unnererschen hatten das Kind geholt.


Volksbuch 1844, 92 ff. durch Storm aus Husum.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 330-331.
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