519. Der Flöter.

[353] Vor etwa vierzig Jahren fand sich auf einem Hofe im Kirchspiel St. Margrethen, der in der Nähe der Elbe lag, ein Spuk sehr sonderbarer Art ein. Viele Leute aus der Nähe und Ferne haben sich davon überzeugt, und die Kinder des damaligen Hofbesitzers leben noch jetzt: die Sache ist noch in gutem Andenken. Zu Süden des Hauses im Kohlgarten, wo auch einige Obstbäume stehn, ließ sich zu einer Zeit ein Wesen hören, das sich durch beständiges Flöten kundgab. Bald näherte es sich dem Hause und allmählich drängte es sich ein. Das Haus ward nun seine gewöhnliche Wohnung, und auf dem Boden, im Keller, in den Zimmern, überall ließ der Flöter sich hören. Zuweilen machte er auch auf der Nachbarschaft Besuche. Die Leute wurden ganz vertraut mit ihm; wollten die Kinder im Hause oder Knechte und Mägde tanzen, so sagten sie nur: »Spęl ins en Walzer so un so, oder nu Hopsa so und so«, und gaben nur die Melodie an; dann spielte er gleich auf. Wenn das Mädchen im Keller war bei der Milch, so sagte sie oft: »Spęl mi ins enen, mien Jung, du schast ok en Appel hebben!« Dann war ihr der Apfel gleich aus der Hand weg und das lustigste Stückchen ward aufgespielt. Niemand konnte das wunderliche Wesen zu Gesichte kriegen, wenn es gleich lange Zeit auf dem Hofe sich aufhielt und es sich, sobald einer ihn nur aufforderte, auch sogleich hören ließ. Zuletzt aber ward der Flöter immer zudringlicher, und oft zeigte sich seine üble Laune. Er konnte in einer Nacht alle Fenster einschlagen, brach in Küche, Keller und Kammer und stellte alles auf den Kopf, und Mittags, wenn die Leute bei Tisch saßen, machte er mit unsichtbaren Händen die Schüssel vor ihnen leer in einem Nu. Wenn sie dann nach ihm schlugen und ihn auf alle Weise verfolgten, so oft sie glaubten, ihn eben in einer Ecke fest zu haben, so pfiff er ihnen zum Hohn schon in der andern. Er war zuletzt nicht mehr mit ihm Haus zu halten. Der Bauer sprach allenthalben den Wunsch aus, daß einer sich finden möchte, der ihn von der Plage befreie; er wollte ihm ein gut Stück Geld geben. Endlich erbot sich ein Mann aus Wilster, den Pfeifer[353] ihm in seiner wirklichen Gestalt oder als Pudel zu zeigen und zu vertreiben. Der Bauer aber sagte, er wolle gar nichts sehen, hier habe er zehn Taler, er soll nur machen, daß der Unhold fortkäme. Durch sonderbare Sprüche und Zeremonien hat der Mann nun den Geist fortgeschafft und keiner hat darnach im Hause wieder gepfiffen.


Mündlich aus St. Margarethen.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 353-354.
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