106. Knaben entscheiden einen Rechtsfall.

[90] Ein Arm der Widau bei Tondern führt den Namen Renzau von dem kleinen Dorfe Renz, Kirchspiels Burkall. Wo die Ufer ziemlich hoch und steil sind, fiel einmal ein Mann hinein, und er wäre ertrunken, wenn nicht einer, der in der Nähe arbeitete, sein Geschrei gehört und herbeigeeilt wäre: der hielt ihm eine Stange entgegen, und der Mann half sich daran heraus, stieß sich jedoch ein Auge dabei aus. Darum erschien er auf dem nächsten Thing, verklagte seinen Retter und verlangte von ihm Buße für das verlorne Auge. Die Richter wußten nicht, was sie aus der Sache machen sollten, und sie verschoben sie aufs nächste Thing, um sich inzwischen darauf zu besinnen. Aber das dritte Thing war schon da und der Hardesvogt war noch nicht mit sich einig. Mißmütig setzte er sich auf sein Pferd[90] und ritt langsam und nachdenklich auf Tondern zu, wo das Thing damals gehalten ward. So kam er nach Rohrkarrberg und dem Hause, das da noch steht, gerade gegenüber lag ein Steinhaufe, darauf drei Hirtenknaben saßen und was Wichtiges vorzuhaben schienen. »Was macht ihr da, Kinder?« fragte der Hardesvogt. »Wir spielen Thing«, war die Antwort. »Was habt ihr denn für eine Sache vor?« fragte er weiter. »Wir halten Gericht über den Mann, der in die Renzau fiel«, antworteten sie. Da hielt der Hardesvogt sein Pferd an, um auf das Urteil zu warten. Die Jungen kannten ihn aber nicht, weil er ganz in seinen Mantel gehüllt war, und ließen sich nicht stören. So ward es also für Recht erkannt, daß der gerettete Mann an derselben Stelle wieder in die Au geworfen werden solle: könne er sich dann selbst retten, so solle er Ersatz für das Auge haben; könne er es aber nicht, so hätte der andre gewonnen. Ehe der Hardesvogt weiter ritt, langte er in die Tasche und gab den Jungen ein gutes Trinkgeld und ritt dann fröhlich nach Tondern und entschied, wie die Hirtenknaben getan hatten. Der Schurke konnte sich wirklich nicht allein retten und mußte darum ertrinken; und so gewann der andre seine Sache.

Auch bei Rapstede haben einmal Knaben eine schwierige Sache geschlichtet. Ein Schneider und ein Bauer, die beide nichts anders hatten als eine elende Kate, schlossen einmal einen großen Handel von so und so viel Tonnen Korn und zu dem und dem Preise ab, obgleich der Schneider wußte, daß der Bauer kein Geld, und der Bauer wußte, daß der Schneider wohl eine Nadel hätte, aber kein Korn. Das Korn stieg bald im Preise und der Bauer bestand nun vor Gericht darauf, daß der Schneider es ihm liefern solle. Die Richter wußten nicht, ob sie einen solchen Handel gelten lassen sollten. Da haben Knaben wieder das Urteil gefunden, daß alles ungültig sei, weil beide gegenseitig als Nachbarn ihre Umstände gekannt hätten, und daß beide noch dazu strafbar seien, weil sie einen solchen betrüglichen Handel geschlossen hätten.


Durch Herrn Fries in Apenrade und Herrn cand. theol. Meßdorf in Rapstede.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 90-91.
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