47. Die beiden Brüder in Sundewitt.

[46] Auf der Philippsburg in Sundewitt wohnte einst ein Herzog, der das Gut besaß; er hatte zwei Söhne. Als er auf dem Sterbebette lag, ließ er sich von ihnen die Versicherung geben, daß sie das Gut nicht teilen, sondern miteinander besitzen und verwalten wollten. Der Jüngere zog später nach Kopenhagen, um zu studieren, während der Ältere auf dem Hofe blieb. Dort verliebte sich jener in ein Mädchen und verlobte sich mit ihr. Als sein Bruder die Nachricht erhielt, lud er ihn ein, mit seiner Braut auf den väterlichen Stammsitz zu ihm zu kommen. Gerne folgte der Jüngere diesem Wunsche; beide Brüder hatten sich immer lieb gehabt, und darum verlebten sie auch die Zeit auf dem alten Schlosse ganz glücklich. Ja, das Vertrauen des jüngeren Bruders war so groß, daß als er beschloß, vor seiner Vermählung noch eine Reise zu tun, er seine Braut auf dem Schlosse zurückließ. Während seiner Abwesenheit heiratete der Zurückgebliebene die Braut des Bruders, und als dieser heimkehrte, wurde sie verborgen gehalten und dem früheren Bräutigam für tot ausgegeben. Vor lauter Betrübnis mochte er nun nicht länger an dem Trauerorte weilen und begab sich wieder nach Kopenhagen. Kaum aber war er da, so erfuhr er den Trug seines Bruders. Aber nur mit List konnte er sich rächen. Er kehrte nach einiger Zeit auf das Schloß zurück und stellte sich ganz freundlich; aber insgeheim verbündete er sich mit den Bauern umher und überfiel endlich mit ihnen das Schloß, nahm den Bruder gefangen und ließ die treulose Geliebte in den Schloßturm einsperren. Bald gelang es aber dem Gefangenen, sich loszumachen, und er sammelte einen Anhang, um seine Gattin zu befreien. Aber als sie die Burg stürmten, traf ihn ein Schuß aus der Hand des eigenen Bruders. So blieb der Jüngere zwar Sieger, er konnte nun aber nie mehr an dem Ort des Greuels glücklich werden. Darum ließ er seine ehemalige Braut ermorden und das Schloß bis auf den Grund zerstören; er verteilte darauf unter seine fünf Knappen sein angeerbtes Land (daraus sind die umliegenden fünf Höfe entstanden) und begab sich hinweg und ist niemals wieder gesehen worden.


Fünfter Bericht der Gesellschaft für vaterländ. Altertümer. 1840, 11.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 46.
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