619. Die Sündflut.

[481] Es war einmal ein Bauer, der ging zur Kirche. Der Herr Pastor predigte über die Sündflut und daß Noah in einem Kasten sich gerettet, er ermahnte auch seine Zuhörer zur Wachsamkeit. Als der Bauer nun nach Hause ging, so dachte er über die Predigt nach. Das Ding ging ihm gewaltig im Kopfe herum. Wie, dachte er bei sich, wenn nun abermals eine Sündflut käme? Dann sagte er laut: »Dat schall mi nich beschuppen« (anführen, überraschen). Er nahm seinen großen Backtrog, befestigte an jedem Ende einen Strick und zog ihn nun mit Hilfe seines Knechts auf den Boden, wo er die beiden Stricke um zwei Hahnenbalken schlang, so daß der Backtrog in freier Luft schwebte. Darauf trug er Butter, Brot, Wurst, Schinken und Speck hinein, und aus Vorsicht, daß ihn das vielleicht zur Nachtzeit plötzlich anschwellende Wasser im Bette nicht überraschte, schlief er jede Nacht oben in seinem Backtrog.

Der Bauer hatte aber eine hübsche Frau, die es nicht wenig verdroß jede Nacht allein zu sein. Auf der Nachbarschaft wohnte ein Schmied. Der erriet sehr bald ihre Gedanken und hoffte, das Spiel zu gewinnen. Er besuchte in der nächsten Nacht die Frau, allein trotz aller Bitten konnte er es nicht weiter bringen, als daß er ihr die Hand küssen durfte. Damit war er schlecht zufrieden. Doch er kam in der nächsten Nacht wieder, und auch in der dritten, aber konnte es immer nicht weiter bringen, als bis zum Handkuß. Da ging er ganz erbittert weg und dachte sich[481] zu rächen. Am nächsten Abend kam er wieder, und als sie ihm abermals bloß die Hand zum Kuß reichte, zog er schnell ein glühend Eisen hervor, das er in der linken Hand hinter dem Rücken gehalten hatte, und verbrannte der armen Frau die ganze Hand, indem er sprach: »Betriegst du mich, betriege ich dich.« Da fing die Frau gar ängstlich an zu schreien: »Wasser! Wasser!« Sie meinte wegen ihrer verbrannten Hand, aber der Mann oben im Backtrog meinte, daß die Sündflut käme und seine Frau schon ertrinken wollte, schnitt die Stricke ab, damit sein Schiff flott würde, und der Backtrog fiel, und fiel durch die Luke auf die Diele, und der Bauer, der darin war, brach den Hals.


Durch Herrn Schullehrer Bahr in Wrohe.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 481-482.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen und Lieder
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
Plattdeutsche Legenden und Märchen: aus: Karl Müllenhoffs Sammlung (1845): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
Legenden und Märchen von Ostsee und Schlei: aus: Karl Müllenhoffs Sammlung (1845): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
Sagen, Maerchen und Lieder der Herzogtuemer Schleswig, Holstein und Lauenburg