241. Die Wahrheit ohne Herberge.

[162] Ein abgedankter Soldat zog von Tür zu Tür und bat um ein Obdach; aber niemand nahm ihn auf. Zuletzt kam er zu einer Hütte, wo ein hinkender Mann und eine verwachsene Frau wohnten. Er klagte ihnen seine Not und bat sie um ein Unterkommen für die Nacht. Verwundert fragten ihn die beiden Alten, wie so viele reiche Leute ihn hätten abweisen können? »Ja«, sagte der Soldat, »ich bin der Mann, der allzeit die Wahrheit sagt; und Wahrheit findet keine Herberge, ist ein Sprichwort.« Da meinten die beiden Leute ein christlich Werk tun zu können, und führten ihn in die Tür. Als der Soldat aber nun fragte:


Mien krumme Fru un hinken Mann,

Wo schall ik mien Ranzel uphang'n?


da wurden die beiden gleich so böse, daß sie ihn wieder zur Tür hinaus wiesen. So mußte der Soldat die Nacht im Freien zubringen und läuft vielleicht noch herum, wenn er seine Gewohnheit, die Wahrheit zu sagen, nicht abgelegt hat.


Mündlich aus Marne.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 162.
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