1.

[168] Ein armer schwächlicher Mann ging nach einem Hofe, um sich Arbeit anweisen zu lassen. Der Herr ward mit ihm einig und wies ihm Korn an, das er abdreschen sollte. Da ging der Mann aus, sich einen Macker zu suchen, und traf bald einen Menschen, der ihn fragte, was er suche. Der Arme sagte, was er wolle, und der andere versprach zu kommen. Am andern Tage ging er auf dem Hof und wartete auf seinen Helfer; als dieser kam und seinen Dreschflegel an den Eckständer setzte, fing der an zu knacken. Darauf fragte er den Armen, ob er abwerfen oder dreschen wolle. Der Arme wollte lieber abwerfen, und wie er damit anfing, drosch der andre sogleich ab und rief sogar bald: »Das ist ja, als wenn die Hühner was vom Boden scharren, ich muß nur selber abwerfen.« Der Starke stieg also hinauf, drängte sich in eine Ecke und schob alles Korn auf einmal vom Boden hinunter, begann darauf wieder zu dreschen und in ein paar Schlägen war alles abgedroschen.

Als nun der Herr am Abend sah, daß alles abgedroschen war, gab er ihnen einen Verweis; denn sie hatten alles untereinander gedroschen, Hafer, Gerste, Roggen und Weizen. Sie sollten am folgenden Tage das Korn reinmachen. Da fing der Starke an zu blasen so, daß der Hafer hierhin, die Gerste dahin, der Roggen und der Weizen auch jedes an seinen Ort flog. Da schickte er den Armen zum Herrn und ließ sagen: »Das Korn ist rein; morgen wollen wir aufmessen; sollen wir nur soviel davon haben, als wir tragen können?« »Ja«, sagte der Herr, »soviel könnt ihr nehmen«. Und als sie am andern Tage dabei gingen, fragte der Starke den Armen, ob er auch einen recht großen Sack hätte. »Ich habe einen, der faßt wohl anderthalb Tonnen«, sagte der Arme, und der[168] Starke antwortete: »So habe ich doch noch einen größeren; erst wollen wir für uns soviel abnehmen und dann das übrige aufmessen.« Der Starke füllte also zuerst den Sack des Armen, steckte ihn dann in eine Ecke des seinen und schaufelte darauf alles Korn hinein, was nur da war. »So«, sagte er und nahm den Sack auf, »jetzt komm nur«, und sie gingen miteinander fort. Da bemerkte sie der Herr: »Das soll euch nicht glücken«, dachte er und ließ seine beiden wilden Stiere los. Als diese auf den Starken einrannten, ergriff er den einen beim Schwanz und hängte ihn über die linke Schulter, langte darauf nach dem andern und hängte den über die rechte. »Nun«, dachte der Herr, »laß sie nur gehen, sie können ja so nicht durchs Torhaus.« Als aber der Starke davor kam, bückte er sich, hob es in die Höhe und trug alles miteinander fort. »Wo willst du den Kram hin haben?« fragte er den Armen; »da steht mein Haus«, antwortete dieser und der Starke trug ihm alles dahin und schenkte ihm, was sie verdient hatten.


Durch Dr. Klander aus Plön. – Thiele, Danm. Folkes. II, 264.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 168-169.
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