283. Das Gespenst am Brunnen.

[189] In einem Walde nicht weit von Westensee liegen zwei einsame Häuser, die einst ihr Trinkwasser aus einer jetzt versiegten Quelle holten. Längst war es bekannt, daß es da nicht geheuer sei. Einige behaupteten, es ginge um Mitternacht seufzend und händeringend da ein Weib umher, andre wollten sie butternd an einer Karne gesehen haben. Die meisten verlachten aber alles wie ein Märchen.

Einst diente nun in einem der Häuser eine Magd, die sich durch einen mehr als gewöhnlichen Mut auszeichnete. Sie hatte einmal bei dem Brunnen ein Stück Zeug vergessen, und da die Hausfrau überaus strenge war, so ging sie, als es ihr um Mitternacht einfiel, sogleich dahin. Hell schien der Mond durch die Bäume und ohne Furcht näherte sie sich. In der Ferne sah sie schon ihr Stück Zeug, aber als sie es auflangen wollte, wie erschrak sie, da sie eine weiße Gestalt mit gefalteten Händen vor sich stehen sah, und diese starr auf das Zeug hinblickte! Das Mädchen wollte entfliehen, aber die Gestalt winkte ihr, und wie sie sich zitternd wieder näherte, wies das Gespenst mit jammervollen unverständlichen Gebärden immer auf den Brunnen; das Mädchen wagte vor Furcht nicht zu reden und eilte bald so schnell sie konnte wieder davon nach Hause,[189] und verbarg sich in ihr Bett. Am andern Morgen sah sie bleich und elend aus und die Hausfrau fragte, was ihr fehle. Nach einigem Weigern gestand sie, was ihr in der Nacht begegnet sei. Die verständige Frau antwortete, daß das Gespenst keinen anreden dürfe, sondern sie hätte fragen sollen. Aber das Mädchen gelobte, daß sie sich ferner hüten wolle, um Mitternacht zum Brunnen zu gehen.

Aber in jeder Nacht war es ihr doch, als zöge sie eine unbegreifliche Gewalt dahin; lange widerstand sie. Endlich aber kam es ihr einmal nachts vor, als wenn es schon spät am Morgen wäre und sie Wasser holen müsse. Obgleich ihr eine innere Stimme sagte, du irrst dich, das Gespenst ruft dich, so ergriff sie doch Tracht und Eimer und ging. Da stand die händeringende Gestalt wieder und machte allerlei Gebärden. Das Mädchen faßte Mut und fragte: »Was willst du?« Da erheiterte sich schnell ihr trauriges Gesicht und das Weib sprach: »Nun hoffe ich Erlösung.« Sie erzählte dem Mädchen, daß ihre Eltern brave, aber strenge Leute gewesen wären, die vor hundert Jahren in demselben Hause gewohnt hätten. Sie sei zu Fall gekommen und vom Verführer verlassen worden; aber es sei ihr gelungen, ihren Zustand vor der Mutter zu verbergen. Hier am Brunnen hätte sie geboren, aber das Kind sogleich im Wasser ertränkt und die Leiche darauf unter der Schwelle der Stalltür vergraben. Seit der Zeit hätte sie jede Nacht ein Irrlichtchen gesehen, weil das Kind ungetauft gestorben sei und weder in den Himmel noch in die Hölle kommen konnte; darüber hätte sie keine Ruhe gehabt, weil sie ihre Sünde nicht bekannt und mit ins Grab genommen habe. »Nun mußte ich so lange an dem Ort der Übeltat wandern, bis jemand mich anredet und mein Bekenntnis anhört und verspricht, die Reste meines armen Kindes auf dem Kirchhofe zu begraben. Willst du mich nun erlösen?« fragte sie die Magd, »so gib mir die Hand.« Die Magd reichte ihr das eine Ende der Tracht und eilte nach Hause. Am andern Morgen meinte sie erst einen schweren Traum gehabt zu haben. Als sie aber Wasser holen wollte, fand sie an der Tracht die fünf Finger des Gespenstes tief eingebrannt. Nun sagte sie der Hausfrau alles, und es ward unter der Schwelle nachgegraben. Man fand da bald die kleinen Knöchlein, legte sie sorgfältig in einen Sarg und brachte ihn auf den Kirchhof von Westensee. In der andern Nacht stand das Gespenst am Bette des Mädchens, beugte sich über sie und sagte: »Jetzt bin ich erlöst; ich danke dir!« und damit verschwand es. Die merkwürdig gezeichnete Tracht ward nach Kopenhagen in die Kunstkammer geschickt, wo sie noch zu sehen ist.


Durch Herrn Schullehrer Bahr in Wrohe, Kirchspiel Westensee. – Bei der Sidselledsbro, nicht weit von Jägerup, Amt Hadersleben, ging auch ehedem eine Frau um, die ihr Kind ermordet. Ein Mann kam einmal des Weges und sah das Gespenst für seine Frau an, die ihm entgegen gegangen. Da das Gespenst stumm und ruhig blieb, griff er darnach und sagte: »Du sollst mir nicht entwischen, ich kenne dich schon!« Da bemerkte er, daß das Gespenst kopflos wäre. Vor Schreck stürzte er nieder und man fand ihn am andern Morgen betäubt da liegen.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 189-190.
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