285. Gnade bei Gott.

[191] Vor reichlich hundert Jahren stand an der Kirche zu Ries ein Prediger mit Namen Herr Peter. Der war fromm und gottselig und seine Ehefrau desgleichen. Gott aber suchte sie heim mit vielem Kreuz. Die Frau bekam einen bösartigen Krebsschaden in der Brust, und bald nahm ihr Leiden überhand und die grimmigsten Schmerzen ergriffen sie. Der fromme Prediger tröstete sie nach besten Kräften, wachte, redete und betete mit ihr ganze Nächte hindurch, aber doch gab es Augenblicke, wo sie im Übermaße des Schmerzes an Gott verzagte und sich verlassen glaubte. Nach langen Leiden verschied sie endlich. Der treue Gatte trauerte sehr um ihren Tod, aber noch mehr lag ihm der Kummer am Herzen, seine Frau möchte um ihres schwachen Glaubens willen nicht Gnade vor Gott gefunden haben. So saß er einige Zeit nach ihrem Tode einmal Sonntags nach gehaltener Predigt in seiner Sakristei und gedachte gesenkten Hauptes wiederum, wie oft, schwermütig der lieben Verstorbenen. Da, indem er[191] aufblickt, sieht er zu seinem Erstaunen sie vor sich stehen, angetan mit einem weißen hellschimmernden Gewande. Sie lächelte ihm freundlich zu und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, er solle nicht länger sorgen, denn sie habe Gnade gefunden. Seit dem war der gute Prediger völlig beruhigt; wohl gedachte er oft der Entschlafenen, aber er grämte sich nicht mehr.


Durch Herrn Petersen in Soes.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 191-192.
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