287. Die Male des Mütterchens.

[193] In einem Wäldchen bei Hadersleben lebte vor nicht gar vielen Jahren ein altes Mütterchen, das an beiden Handgelenken ein paar dunkelrote Reife hatte. Wenige hatten diese unnatürlichen Male gesehen, aber man erzählte davon diese Geschichte.

In ihrer Jugend diente sie auf einem Bauernhofe zwischen Tondern und Hadersleben. Einmal war sie, als es schon spät war, erst zum Melken hinaus aufs Feld gegangen. Da hörte sie mitten in der Arbeit im nahen Gebüsch ein Geräusch; in dem Glauben aber, es sei ihr Bräutigam, blieb sie ruhig und melkte fort, ohne umzusehen. Plötzlich fühlte sie sich von zwei kalten knöchernen Händen an beiden Armen gefaßt und eine hohle Stimme rief: »Bete ein Vaterunser!« Mit bebenden Lippen stammelte sie das Gebet; als sie geendigt, stand ein kleines Männchen in altmodischer Tracht vor ihr und sprach mit derselben Stimme wie vorher: »Du sollst Dank haben; denn nun kann ich Ruhe finden. Ich war verflucht, so lange umher zu irren, bis das Gebet einer reinen Jungfrau mich erlöste. Komm morgen wieder, und dein Lohn soll dir werden.« Damit verschwand die Erscheinung. Voller Schrecken kam das Mädchen in das Haus ihres Brotherrn und erzählte, was ihr begegnet sei. Die Furcht vor dem Kleinen war bei ihr so groß, daß sie erklärte, sie werde um keinen Preis wieder dahin gehen. Da unternahm der Herr am andern Abend an ihrer Statt den Gang. Was ihm aber da begegnet und was er gesehen und gehört, hat er nachher niemand erzählen wollen; aber sichtlich ruhte seit jenem Abend ein ganz besonderer Segen auf seinem Besitze.


Durch Fräulein D. Tamsen in Tondern.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 193.
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