298. Das Gespenst mit dem Grenzpfahl.

[199] In den niedrigen Fennen zwischen Lindholm und Maasbüll, Amt Tondern, die im Winter meist unter Wasser stehen, tobte allnächtlich ein Gespenst. Es war ein Mann mit einem großen Pfahl auf dem Nacken, und indem es umherstürmte, schrie es beständig: »Wo schall ik den Paal daalschlaan? wo schall ik den Paal daalschlaan?« Die ältesten Leute hatten davon schon von ihren Eltern gehört und immer ging das Gespenst noch umher. Es tat keinem etwas zu Leide und jeder ging still vorüber; es bekümmerte sich niemand weiter darum. Einmal aber kamen zwei Nachbarn miteinander vom Markte zurück, und der eine war etwas betrunken. Als sie nun an die Stelle kamen und das Gespenst rief, fragte er: »Wat seggt de Kęrl?« »Um Gottes Willen, so schwieg doch«, sagte der andre, »he deit di niks.« »Ik will awer węten, wat he seggt«, erwiderte der andre mürrisch und rief das Gespenst an: »Wat seggst du?« Gleich stand es vor ihnen und schrie: »Wo schall ik den Paal daalschlaan? wo schall ik den Paal daalschlaan?« Vor Schreck plötzlich nüchtern faltete der Mann die Hände und antwortete: »In Gottes Namen schlaag em daal, wo he fröer staan hett.« Unter lautem Danke, weil es auf dieses Wort schon über hundert Jahr gehofft hatte, rannte das Gespenst nach einer Stelle, schlug den Pfahl da hinunter, so daß das Wasser weit über seinen Kopf und über den Pfahl hinweg stob, und war zugleich verschwunden.

Der Mann hatte nämlich bei Lebzeiten den Grenzpfahl verrückt und hatte damit umgehen müssen, bis jemand ihn anredete und dadurch erlöste.


Schriftliche Mitteilung. – Zwischen Maugstrup und Kjestrup, Amt Hadersleben, hat der Prediger, Herr Jacob, auch den Grenzstein verrückt; dafür muß er umgehen. Ähnliche Sagen werden sich überall finden. – Bechstein, Thüringische Sagen IV, 431. Wolf, Niederl. Sagen Nr. 428. Mones Anzeiger VIII, 223.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 199.
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