326. Der Drache.

[221] Der Drache ist ein großes feuriges Tier mit einem langen Schweif, von der Größe eines Bese- oder Windelbaumes. Bald zieht er hoch, bald ganz niedrig eben über der Erde hin und schlüpft mitunter in ein Haus. Wenn zwei Brüder, indem sie miteinander fahren, einen solchen Besuch sehen, und nehmen sie dann ein Wagenrad ab, stecken es aber verkehrt wieder auf und fahren weiter, so kann der Drache nicht wieder zurück und das Haus muß verbrennen. Wenn einer ihn niedrig und in dunkelrotem Feuer glühend hinziehen sieht, so muß er sich unter ein Dach[221] stellen, den Hintern entblößen und die blanke Scheibe dem Drachen zukehren; dann entsetzt er sich, platzt und die schwere Geldladung, die er, wenn er so aussieht, immer mit sich führt, fällt heraus und macht den Finder zum reichen Mann. Er muß es aber ja nicht auf freiem Felde tun; denn dann bewirft ihn der Drache mit Unrat. Der Drache kommt zu den Leuten, die mit ihm in Verbund sind, gewöhnlich durch den Schornstein oder das Eulenloch. Er bringt ihnen nicht nur Geld, sondern auch Geldeswert. So sah einer aus dem Gute Neversdorf einmal, daß der Drache mit schöner Leinwand angezogen kam, die er einem reichen Bauern bringen wollte. Er stellte sich unter den Vorsprung des Daches, erschreckte den Drachen auf die angegebene Weise und erhielt so ein schön Stück Leinwand, weil der Drache damit nach ihm warf, aber ihn nicht treffen konnte. An demselben Orte sah ein andrer auch, wie der Drache bei einem reichen Bauern in die Eulenflucht hineinschlüpfte. Weil er dem Bauern nicht gut war, steckte er ein Wagenrad verkehrt wieder auf und das Haus mußte verbrennen. Die Sarauer Fischer sahen auch nachts den Drachen in das Haus des reichen Bauern Bartelmann ziehen, und alsbald stand das ganze Dach in Flammen. Vor zwei oder drei Jahren sah man in Pogetz, Sarau, Buchholz und Einhaus am Ratzeburger See in einer und derselben Nacht viele feurige Drachen in der Luft schweben.


Aus Lauenburg durch Herrn Kandidat Arndt, aus dem Gute Jersbek und der Gegend von Lütjenburg. – Reusch, Samland Nr. 37.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 221-222.
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