XVIII

[115] Sang- und klanglos fand ich mich zu meiner Hütte. Schräg gegenüber, wo die Straße sich ins Verschwinden bog, sah ich van den Dusen in die seine schlüpfen. Er schien unterdrückt aufgeräumt, mit seiner Nase witterte ich eine Art Unternehmungslust in ihm. Checho, der mich aus der Hütte begleitet hatte, ließ mich an irgendeiner Stelle im Stich. Das beschäftigte mich vorläufig; obwohl es mich nichts anging, war ich doch im Augenblick so zerstreut, dieser ganz gleichgültigen Sache eine abnorme Wichtigkeit zu widmen. Ein leises Mißvergnügen in mir fischte, ohne Köder, irgend etwas anderes wurmte mich; nun wurmte es mich, daß Checho fortlief – hopp, da fischte es mit diesem Wurme!

Die Sterne hingen voll am Firmament. Sie hingen so dicht, daß sie sich gliederten, und flüchtige Verbindungen blitzten zwischen ihnen auf. Wie metallische Glutspäne kräuselten sie sich, durch die ein Atem geht.

Checho war in meinen Augen ungezogen; war es etwa manierlich, fortzulaufen? Sonderbar, daß alle Leute sofort an gutem Ton einbüßen, was sie an Laune gewinnen. Wo konnte – na, war es nun Checho, den ich meinte, oder war er es nicht – wo konnte er nur hin sein? Ich rang mit einem Gedanken, einer Vermutung, die ich schon einmal aufgestellt haben mußte. Aha, sieh mal her, da war ja Aruki; sie war allein, ihr Mann war noch nicht zu Hause, steckte vielleicht bei der Hexe Zana oder einem anderen Frauenzimmer. Indes pflegte Aruki ihr Baby, sang zwischen den Zähnen und dachte an weiß Gott was Trauriges. Ich hatte nichts mehr übrig für sie und war voller Hohn für ihre weibliche Fülle. Auch Checho half ihr nicht über den schwermütigen Abend hinweg; auch er mußte endlich daraufkommen, daß zierliche Magerkeit das eigentliche Ideal für einen indianischen Helden bedeute. Geschah ihr recht; nun da es zwischen Checho und ihr aus war, hatte sie nichts mehr von ihrer früheren Unerreichbarkeit; auch ich war sozusagen eine Art Held meiner Rasse und hatte meinen Geschmack zu pflegen; man hatte da doch gewissermaßen Verpflichtungen. Wir rächen uns stets an unseren Träumen; wir verraten stets unsere eine Sehnsucht an die andere. Daß ich[115] nach dieser Seite hin also gleichsam frei wurde, war für mich erfreulich. Es gab mir einen regelrechten gesunden Stoß und zugleich sah ich blendend klar.

Hol's der Kuckuck, man sollte kein Mandioka saufen, wenn man es nicht verträgt. Nun hatte Slim sich mit dem Häuptling gerauft – Slim. Das fiel mir ein, und wie ein Berg saß es mir am Herzen. Und was tat nun Slim weiter? Um es nur gleich zu gestehen, Slim war auch der Wurm, der unterirdisch mein Bewußtsein benagte, gespenstisch an meine Laune pochte und mit einem formlosen Blick meine Zufriedenheit beäugte, wann immer sie sich einstellen wollte. Ich frug vergeßlich, wo denn nun dieser Checho hin sei und was er treibe, und war höchst erbost über sein ganz unverständliches Benehmen – aber eigentlich meinte ich mit alledem nur Slim. Wenn man überlegte, wie das alles gekommen war, diese ganze Niederlage, die mich jetzt so beunruhigte! Ich erinnerte mich, daß van den Dusen betrunken sein mußte. Hochrot war er gewesen und sichtlich echauffiert. Hm, und nicht einmal Slim hatte davon vertragen. Ich dagegen hatte eine gute Schule hinter mir. Es war nicht die erste Zecherei, die ich siegreich überstanden hatte, was wäre da anderes zu wollen? Ich hatte Nerven, wohlverstanden Nerven. Ich konnte Gift wie Käse essen, meine Nerven kamen großartig hindurch. In mir stak der ideale Nervenmensch, meine Wachsamkeit bestand über meine Vergiftung hinaus. Je schaler der Geschmack im Munde, desto überlegener das Gehirn. Je schlaffer der Magen, desto strenuoser das Bewußtsein. Ich beseitige Krankheiten durch die Diagnose, ich heile Unstimmigkeiten mittels Analyse. Etwas Fortschrittlicheres läßt sich kaum denken. Prosit, Slim! Sie sind überholt, Ihre Nerven sind mit Ihnen durchgegangen. Man rauft sich nicht, wenn man voraussichtlich den kürzeren zieht. Mit Purzelbäumen ist das anders. Das ist ein platonisches Vergnügen, zumal wenn niemand zusieht. Übrigens, waren Sie schon jemals so tapfer, ins Feuer zu steigen? Haben Sie sich jemals freiwillig am Rücken schmoren lassen? Ich bin wie ein Satan hindurchgeritten, die ganze Hütte war auf, als ich meinen feurigsten Feuertanz tanzte. Meine Haare sind versengt. O wie furchtbar hell es um mich war! Immerzu, Slim. Aber Mandioka ist zu süß und hinterläßt einen faden Geschmack, wie, finden Sie nicht?

Ich empfand mich intensiv wach. Laue Wellen kamen vom Djungle und von der Savanna her, kühle feuchte Stöße vom Felsenbach. Ein ehernes Klingen, das schwärmende Lärmen der Zikadenchöre, schien unter den tiefhängenden Horizont gepreßt, aus dem ein[116] weißes Feuer, in Myriaden von Kombinationen gleich denen der Lärmschläger, zuckte. Dies war beruhigend, dies läuterte. Aber Slim hatte nicht sich allein, er hatte uns alle in die Patsche geritten. Was war das für eine Idee, mit dem lästerlich langen Kerle anzubinden, dieses Mädchens wegen – wo blieb Slims Überlegenheit? Unser Prestige, mein Prestige war es, das er verspielte. Er hätte uns nicht mitreißen dürfen. Uns. Die menschliche Gesellschaft darf nicht durch die Handlungen eines Einzelnen gefährdet werden. Und ich war das Gewissen dieser Gesellschaft. Wenn ich überlegte, wie Slim sich da erhob, in seiner ganzen Glorie als großer und starker Mann, seine imposante Figur im Feuerkreise aufpflanzte, so fühlte ich, wie sich die Seele der Welt vor Scham zusammenkrampfte. Ich selbst kam hier gar nicht in Betracht, obwohl auch ich – aber die Gesamtheit war verletzt. Was mußten sich die Indianer gedacht haben! Die saure Empfindung ungebrauchter Muskeln, die in allen aufstieg, war Takt, nichts als menschlicher Takt gewesen. O ich kannte ihn gut, wie er aufsteigt, langsam und sauer wie eine böse Regung; aber er war eine gute soziale Regung. Männer beneiden einander um jede Art von Aktivität und sei's nur die einer Ohrfeige. Es war nicht schön von Slim und höchst unlauter, daß er gegen das Programm auftrumpfte. Man konnte das Mißbehagen verstehen, das durch den Trupp ging, als Slim seine eigenen Heldentänze unterlegte. Es war, mitten unter der feinen Leistung Zanas und ihres Bruders, ein Schlag ins Wasser. Nein, Slim – au!

Mein Rücken schmerzte; ein zähes Kneifen machte ihn widerstandsunfähig und steif. Um Gottes willen, mein Rückgrat war doch nicht um ein gut Stück kürzer geworden? Es waren doch am Ende nicht zwei Wirbel ineinandergerutscht? Das also war das Ende dieses abenteuerlichen Tages, Slim bekam Prügel und ich würde hinfort nun oder doch eine Zeitlang mit dem schneidigsten Hexenschuß der Welt durch das Leben wandeln, immer vorausgesetzt, daß da noch zu wandeln war!

Mit wundem Rücken zog ich eine Matte vor die Tür und legte mich unter die Palme. Es war nach Mitternacht und die Moskitos lagen jetzt zu Tausenden auf den Blättern und Blumen des Djungles oder tanzten über einer der lauen Pfützen seitlich am Flusse, in denen sich ein Stück Mond spiegelte. Über mir funkelten große fette Sterne und kleine, die wie Dreiecke aussahen und an den Scheiteln richtig zu explodieren schienen. Zwischen den hervorragenden entstanden mittels drahtiger Linien rohe Figuren, klotzige mythische Gebilde. Der Gesang der Zirpen ebbte auf und ab. Eine einzige in der Nähe, die[117] mit rätselhaften Umzügen bald von hier, bald von dort zu tönen schien, konnte alle anderen übertrumpfen. Aber wenn sie schwieg, stieg an allen Ecken und Enden der Welt ein metallisches Brausen empor.

Aus dem Djungle drangen tierische Schreie. Das Dorf selbst war heute abend lebendiger als sonst. Gestalten huschten die Wege entlang. Ein kleines Wesen bewegte sich mehrmals in meiner Nähe auf und ab. Es mußte ein Weib sein. Was wollte es? Ich wurde neugierig. Dann verwünschte ich es, weil es dick und ältlich schien, und es verschwand, als hätte es meinen Unwillen gefühlt. Ich mußte an Zana denken. Aruki, die süße, nun die profane Geliebte von ehemals tröstete wieder ihr Kind. Mit trauriger Stimme winselte sie sich und ihm ein gemeinsames Leid vom Leben vor. Tja, wozu war dies Leben gut? Wozu lag ich hier in diesem indianischen Neste auf der faulen Haut, statt in gepflasterten Straßen zu wohnen, zu arbeiten, mich zu ärgern und zu lieben? Das gewöhnlichste Ärgernis mit etwas mehr Komfort wäre ein Labsal gewesen. Hier aber war ich ausgeschaltet. Hier war mein Platz nicht. Kummer schloß mir die Augen und ich wünschte den Schlaf, zu vergessen.

Was war unter diesen Kannibalen zu holen, diesen Lebemännern von anderer Leute Schmerzen? Der Wust und Aufwand von Muskeln, Fleisch und Sinnlichkeit erdrückte mich. Ich wollte fliehen, ich sah braune Menschen auf vier Füßen hinter mir herjagen, sah sie nach Katzenart sich zum Sprunge rüsten. Einer saß mir im Nacken und fraß. Es schmerzte. Ich hatte ein deutliches Gefühl seines genußwütigen Gesichtes. Ich nahm alle Kräfte zusammen und schüttelte, schüttelte mich in einem konvulsivischen Grauen – da fiel es von mir ab. Der Schmerz schwieg, und sogleich fühlte ich durch die Erleichterung einen vehementen Schwung, ich krümmte mich zusammen und schnellte mich hinaus in den Himmel, frisch wie eine Schnuppe. In weitem Bogen flog ich über das All hinweg, in den Hüften geknickt, mit dem Gesichte vor aus. Links von mir stand ein fetter Stern; dann kamen andere und kamen so dicht, daß ein Zusammenstoß unvermeidlich schien. Wir stießen an; aber merkwürdigerweise spürte ich den Schmerz an meinem Rücken. Dies brachte mich auf die Idee, daß ich eigentlich nach rückwärts flöge. Und es bestätigte sich. Kommt es denn so selten vor, daß man sich bei Gravitationen falsch orientiert? Jede Sonne kann das erzählen. Ich habe für diese Indifferenzen das schöne Symbol des Wasserrades gefunden. Ich flog also mit meinem Hinterteil voraus; vielleicht stand ich aber auch irgendwo im Unendlichen, und das gesamte Weltall rotierte gleichförmig an[118] meinem Rücken vorbei. Die Sterne, dummes Silbergeklingel und steife, eingedörrte Krötenbälge traten, so oft sie anstießen, beim Steiß in meinen Körper ein, verursachten ein sprödes Krachen und nahmen ihren juckenden Weg mit demselben trockenen Schnalzton wieder beim Hinterkopfe heraus. Auf diese Weise absolvierte ich so ungefähr das ganze Firmament, es rieselte zart und raspelnd wie eine Ameisenstraße durch meine Wirbelsäule hindurch. Unter mir gab es plötzlich hohe Häuser, eine gepflasterte Straße heimelte mich an. Und obwohl ich einige Meilen hoch darüber hinschwebte, war es doch, als ob ich mich mit meinen Augen in Menschenhöhe über dem Niveau der Straße befände. Zum zweiten Male mußte ich die Ansicht über meine eigene Lage wesentlich ändern. Es stellte sich heraus, daß ich in der Tat mit dem Kopfe nach unten, die Beine hoch oben in der Luft, durch eine Straße dahinpfiff. Mein Rumpf war so unermeßlich ausgedehnt, daß ich beinahe die Fühlung mit meinem Kopfe verlor. Ich erkannte, daß ich sozusagen im Handstand durch die Luft segelte und mein Kopf, der nicht mehr mir gehörte und mit einer Unzahl von Sternen belastet war, die dort nicht mehr herausfanden, mir den Dienst versagte. Eine ungeheure Sehnsucht befiel mich, auf dieser Straße, die mir bekannt schien, haltzumachen. Ich wollte die rechte Hand ausstrecken. Es ging schwer, es ging zäh, sie schrumpfte plötzlich zu einem tauben Handschuh zusammen, aber im nächsten Augenblicke wußte etwas in mir Rat: wie ein brennender Siegellacktropfen fiel, gleichsam bestellt, ein winziger weißer Stern zur rechten Zeit auf meinen Handschuh, schlüpfte dort auf eine merkwürdige Weise hinein und beschwerte ihn tüchtig. Jetzt war es wieder eine Hand. Sie berührte mit einer stumpfen Empfindung den Boden. Es war weicher Asphalt, der sich aber sofort härtete, als ich mit dem Rücken derb darauf zu liegen kam. Noch ruderte ich halb rücklings halb kopfab die Hauswände der leeren Straßen entlang, keine Seele war da, die sich in meiner hilflosen Lage um mich gekümmert hätte. Noch schossen die Sterne wie Raketen die Leiter meiner Wirbel hinunter; am stärksten war das Bombardement an der linken Seite, wo ein ganz großer, fetter, gräßlicher Kerl immer wieder ganze Serien von Verwandten durch mich hindurchsandte. Da kam ich endlich in Fühlung mit der Straße, lief eine Weile auf dem rechten Arme eine Strecke Weges weiter und krachte dann kopfüber hin. Es war plötzlich fürchterlich helle. Bautz, da lag ich, und alle Sterne, die in meinem Hintern aufgespeichert waren, explodierten wie ein Schwarm Funken um mich her.[119]

Da fühlte ich mich vom Leben vollständig besiegt, denn ich entsann mich, daß es acht Uhr morgens war und daß ich in die Schule mußte. Ferner, daß ich meine morgendliche Träumerei am Straßenpflaster in ungebührlicher Weise ausdehne. Ich fühlte mich tief geknickt, ohne Lebenslust, ohne das Schwergewicht eines Charakters, wie ich dalag, jenseits des Lebens, ganz nördlich von den einfachsten warmen Regungen, ohnmächtig, nur einen Finger zu rühren. Um aber meine Niedergeschlagenheit nun noch zu begründen, kam ein schlankes Mädchen des Weges daher. Sie war braun und hübsch, und ich schrie ihr zu: »Hallo, Zana, wie geht's?« Sie hatte einen dichten Schleier mit Fasern und Punkten vor dem Gesicht, so daß die Schatten davon auf ihrem Teint fleckten. »Ach, Zana«, sagte ich voller Sehnsucht, »nehmen Sie doch einmal den Schleier von Ihrer Tätowierung ab.« Sie sah recht rot an den Wangen aus, aber sie tat nicht, als ob sie mich gehört hätte. Sie ging weiter und ließ mich elend zurück. Heftig suchte ich mich zu bewegen, die seltsame Last meiner moralischen und körperlichen Pein zu sprengen. Angestrengt dachte ich nach und suchte mit den Augen nach meinen einzelnen Gliedern, die sich von mir losgelöst zu haben schienen. Meine ganze Konzentration legte ich in diesen Blick. Da wurde es mir bewußt, daß ich mich in einem Dämmerzustande befand, der zwei Tiefen besaß.

Ich dachte exakt, aber ich erlebte zweideutig. Es war die Trance, das große seelische Ereignis der Tropen. Ich wußte über meine geistige Anwesenheit Bescheid, aber ich vermischte die körperlichen Grundlagen, ich war imstande, zwei Räume ineinander zu schieben. Es ist ein entsetzlicher Abgrund von Tiefe, der sich hier auftut. Ich war imstande, zu denken, daß das Bild der Sinne im Verhältnis zum geistigen Zustande absolut gleichgültig sei; aber ich vermochte mitsamt der enormen Anstrengung von Gehirn und Willen nicht, dieses Bild zu beeinflussen, ich kam buchstäblich nicht vom Flecke. Mein Dasein blieb in diesen Minuten trotz außerordentlicher geistiger Leistungen ein nur verhältnismäßig Wirkliches.

Ich befand mich in diesem Augenblicke auf der Straße einer großen Stadt. Aber diese Wirklichkeit ignorierte ich. Ich war gezwungen, eine Vision zu er leben, die ich leugnete. Mühevoll leugnend nahmen meine angestrengten Augen eine grüne Spitze aus, die sich hypnotisierend bewegte. Langsam erinnerte ich mich, daß sie einem Palmblatte ähnlich sah. Ein Fräulein Zauner oder Zana – der Klang haftete mir nur flüchtig im Ohr – war wieder da. Sie hatte[120] ihre Würde abgelegt, jetzt frotzelte sie mich und schwang die Palme wie ein Gassenmädel über mir. Meine Sehnsucht nach diesem Mädchen war grenzenlos. Es stand zu meiner Linken, irgendwo an ihm, auf einem Stengel hinterm Ohre oder in seinem Haar, schwankte eine pralle weiße Rose. Das Mädchen sagte nichts, aber es zirpte mit einem berückenden Laute so unaufhaltsam süß und furchtbar, daß sich meine Eingeweide vor Leid zusammenzogen und Tränen mir die Augenwinkel herabrannen. Wie das wollüstige Zirpen, so waren die Tränen schwer, schwer und rund, und ich konnte jede einzelne nachrechnen, konnte ihr förmlich mit den weinenden Augen nachblicken. So scharf und vielseitig war meine Beobachtungsunrast und die Spannung meiner Phantasie. Den kleinsten und intimsten Dingen konnte sie sich mit der Bewußtseinsfalle zuwenden. Die Schauer dieses Zustandes, eine Mischung von Lust und Qual, unbegrenzter geistiger Freiheit und körperlicher Starre, wurzelten in einem Gefühl zartester Lauterkeit. Zana, kleines Grillenweib! träumte ich schluchzend. Aber mein Geist blieb indem hart bei der Wirklichkeit oder bei etwas, das er als solche empfand. »Bitte, Fräulein Zana«, sagte ich in seinem Sinne und sehr sachlich, »ich halte Sie für kokett. Ihr gemusterter Schleier mit seinen Teintwirkungen ist ein Nachkomme der indianischen Tätowierung. Geben Sie sich keine Mühe. Ich liebe Sie nicht. Zieren Sie sich nicht mit dem Schirm, ich weiß schon, daß es keine poesievolle Palme ist. Sie verwenden schrecklich alte Mittel, um mich zu fesseln. Ich verabscheue Ihre Pikanterien.« Mein Herz brach, als es so log. Aber es log mit den Wahrheiten meines Geistes. Er verwertete sie praktisch, benützte sie zu einem an und für sich simpeln Manöver, indem er auf den Weiberfang ging. Ha, was war es mit den geistigen Wahrheiten? Waren sie vielleicht überhaupt nur das Rüstzeug der geschlechtlichen Überlegenheit? Machte ich hier, von einem Frauenzimmer an die Straße gefesselt, diese Aperçus nur zu dem Zwecke, um ein Gegengewicht zu haben, wenn das Mädchen mit den Tupfen im Gesicht prahlte? Liebe macht geistig und ehrlich. Aber der Geist und die Ehrlichkeit sind so viel wert wie das Rouge einer Mädchenwange. Heiha, wie ich denken konnte; aber auch dieses Denken, das sich selbst bedenkt, ist nur ein Schleier, mit dem man etwas Wichtigeres reizvoll ornamentiert. Körperlich ausgeschaltet lag ich da als idealer menschlicher Organismus. Die selige Frage des Organs gestaltet sich zu einer profunden Erkenntnis. Während ich dem Mädchen nachsah, das dahineilte, ging es mir blitzschnell durch den außerordentlich klaren und angeregten, Kopf, daß Beobachtung[121] ein nicht unwesentlicher Bestandteil der Lust und eine geradlinige Äußerung tierischer, ja vegetativer Funktionen sein möge.

Fräulein Zanas Abgang rührte mich. Ein knapper Rock fesselte sie über den Knöcheln. Sie konnte nicht ausschreiten, sie ging hastig und mit kurzen, humpelnden Schritten. Ihre Halbschuhe trugen Schnallen und Maschen. Da erkannte ich es wieder, wie ich es vor vielen Jahren erlebt hatte. War Zierlichkeit eine Ableitung, eine Verkleinerung, eine Korrumpierung von Grausamkeit? Der Sinn des Brutalen, Beschränkenden, Verstümmelnden schürzt die Falten am Körper des modernen Weibes, ringt verlangend in den Formen der Bekleidung, sprengt sich leer und inhaltslos, müde vom vergeblichen Bitten im sehnsüchtigen Schein des Tuches an, alte Lüste zu verbildlichen. Alles was der Mann einst hatte, prangt heute als starre Formel in der Toilette unserer Dame. Alles was der Mann einst an Männlichkeit vergab, näht, stickt und flickt sie sich heute nach Eigenbedarf. Sein Körper ist nicht mehr durch Muskeln interessant; sie aber trägt den Fetisch verwirrender Verschlungenheit, wie ihn der nackte Mann bot, nun zahm und zahnlos selbst mit sich herum. Und liebt, wie sollte es anders sein, den Halspelz wie einen Bizeps, den engen Rock, der Formen wirft, wie eine tastende Hand, das Korsett wie die gewaltige Umarmung, die einst die natürliche Schönheit ihrer Hüften und Brüste genoß, und schreitet mit dem schlanken Schuh den alltäglich gewordenen Phallustanz. Wild, grausam, geil prangt die Pracht unserer Weiber, seit nicht mehr Männer, nur Tuch und Leder ihrer Sehnsucht antworten. In den ursprünglichen Gewaltakten vom Opferblick gekitzelter Urmenschgatten sah ich die Eltern unserer Moden. Und so wandelte auch das Mädchen lieb und voll versteckter Demut in ihrem Gefängnis, trug es mit sich die Straße entlang und empfand sich prachtvoll. Ihr Rock brachte die doppelte Sattelung ihres Leibes über den Hüften und an den Knien zur Geltung. An den Knien wogte die Kontur ihres Rumpfes mit einer großartigen Schwingung zurück. Dieser Engpaß beschloß die schnittige Mulde ihres Schoßes. Sanftmut und Ergebenheit stiegen aus warmen Formen, folterten durch eine laue, entnervende Zärtlichkeit, die sich zwecklos in ihnen zu verschwenden schien. Das Tuch liniierte die Geheimnisse dieses Mädchens. Mein Kopf barst von uralten Empfindungen, entlegene Eigentümlichkeiten und Liebhabereien aus Kinderzeit fielen mir nachträglich ein. Schönheit, war es das, was wir als Fixes, mystisch geregeltes Göttliches anbeteten oder: Pietät gegen gute Erfahrungen?

In der langen Straße einer großen Stadt geschah es, daß mich[122] die Sehnsucht nach dem Weibe ankam. Ich sah das Mädchen wandeln. Plötzlich begriff ich unseren Urzustand und erfaßte unser Verhältnis als eine primitive Frage erwünschter Gewalt diesseits von Sitte und Benehmen. Und nun geschah etwas, dessen Sonderbarkeit mir deutlich zum Bewußtsein kam. Der böse Palmzweig, den das Mädchen mit den schadhaften Stöckeln über mir geschwungen hatte, wurde eine vollständige und wirkliche Palme. Etwas Neues und Zusammenhängendes baute sich um mich auf. Ich begrüßte es mit einem schwachen Schimmer von Wiedererkennen. Es erlöste das Gemüt wie Langvertrautes; vage Bilder von Urgefühltem reiften langsam herauf: und da, mit einem Schlage war es da, hatte ich einen Namen und nannte es: Tropenlandschaft. Ich lag mit dem Rücken unter einer Palme. Das Kreuz schmerzte mich, so daß ich Bewegungen unterließ. Meine rechte Hand lag schwer unter mir, sie war gleichsam eingeschlafen und hing leer herab. Links über mir glomm in einem wilden Gewimmel von Sternen ein großer prallweißer Planet mit intensivem Lichte. Er stach nach meinen Augen, bändigte mich mit seinem Strahl wie jener lange Muskel, die Schlange. Er übte einen erstarrenden Einfluß aus. Er bannte mich, und ich träumte schwer, aber mein Scharfsinn blieb wach und kritisierte den Traum. Ich sah mich in einer Tropenlandschaft vor einer triangulären Hütte liegen, die aus Palmstroh bestand. Meine Augen waren rund aufgeschlossen und gebrochen: ich gewahrte sie mit Entsetzen wie etwas Fremdes; in ihnen saß kalt und fett ein weißer Stern und fraß sich wie ein metallischer Wurm, wie eine weißglühende Entzündung in den aasigen Glanz der Augäpfel ein. War ich tot oder war ich krank, daß ich so dalag und die Zeichen fiebernder Verwesung ihren Glanz in meine Augen bohrten? War es Erinnerung oder war es Vorzeichen? Oder war es Symbol, war alles nur Symbol für einen inneren Zustand? Ich dachte normal und schnell. Dieser Zustand entbehrte trotz einer leisen Qual, trotz Schauder und Zweifel nicht der Seligkeit. Ich war vor Glück erfroren, war in einem frostigen Wohlsein gelähmt. Ich ahnte die Tatsache Trance. In diesem Zustande waren die zwei Tiefen der Seele, Traum und Untraum, verschiebbar, und alles war Traum, alles war Wirklichkeit. Die Welt der Logik, das Phantoplasma, das Bild gewordene System der zureichenden Erklärungen war zwiefach. Es pendelte zwischen zwei Rhythmen, davon jeder bloß der Umschwung des anderen war. Was ich hier dachte, konnte ich auch dort denken. Derselbe seelische Verlauf konnte ein verschiedenes Phantoplasma, sei's Traum, sei's[123] Wachleben, unterlegen. Phantoplasma, so nannte ich diese Entdeckung, die ich in meinem höchsten entkörperten Augenblicke, in der Trance, entdeckt habe.

Diese stramme Kopfarbeit, für die ich sonst ungefähr die Konzentration einer Stunde berechnet hätte, wurde in wenigen körperlichen Sekunden geleistet. Denn das Mädchen hatte sich inzwischen erst einige Schritte entfernen können. Sein Entschwinden erweckte mich. Ich war wieder in der Straße zwischen den großen Häusern. Aber diese Schnelligkeit war gering zu dem Nichts an Zeit, mit dem sich die bildlichen Grundlagen meiner geistigen Erregung änderten. Diese Erregung war das einzige Solide und Dauernde während der ganzen Trance. Ich habe einen außerordentlich treu überlieferten Zusammenhang meiner Gedanken davon bewahrt. Mein Leib aber schien indessen doppelt vorhanden, ich fühlte zwei Leben mit derselben gemeinsamen, geistigen Spitze, ich lebte in der großen Straße und lebte in einem indianischen Dorfe; freilich ahnte ich im Grunde, daß die Stadt eine Realität, das Dorf aber eine, wenn auch heftig empfundene Vision war. Manchmal verschmolzen die Eindrücke; der eine war der, daß ich mich in einer städtischen Straße befände und mir gegenüber eine Figur, die ich intensiv als weibliches Wesen empfand, sich entferne. Plötzlich stand das Mädchen nackt da. Nein, es war nicht ganz nackt, sondern trug bis über die ominösen Knie schwarze Strümpfe und auf dem ein wenig schiefgelegten Kopfe einen pompösen Hut. Als ich mich mit den Knien beschäftigte, fielen die schwarzen Strümpfe fort. Die Knie sahen jetzt um ein gutes Stück harmloser aus. Der Hut mit der großartig wallenden Straußfeder machte gleichfalls eine Metamorphose durch. Das Kothurnprinzip, auf Schädel angewandt, das in diesem Hutriesen stack, vergrößerte den Maßstab der Figur, der weibliche Helm gab ein übertriebenes Zeugnis dämonischer Macht. Sein Nachfolger war ein mystisch und böse blickendes Geflecht, das nun das weibliche Haupt bedeckte, und Büffelhörner und Vogelschwingen spielten eine dräuende Rolle darin. Im Nu war auch dieser Standpunkt überwunden. Das nächste war jetzt ein kleines Gesicht mit schwarzen Strähnen bis zu den Achseln. Zwei reizende kleine Eberhauer durchbohrten die Oberlippe. Sie war im Verhältnis zur schmalen unteren, deren Fleisch sich wild und dunkelviolett durch die ein wenig narbige und verzerrte Haut preßte, voll und überreif wie platzende Beeren im Djungle. Da wußte ich, daß es das Gesicht der Figur war, die mir gegenüber an der Zeile der Strohhütten entlang mit dünnen Knien vorbeischlich und jetzt über den Grenzstrich[124] der Schatten ins bleiche Licht hinaustrat. Sie war in einen Panzer von weich fließendem Silber gehüllt. Ihre Füße schienen ein wenig schadhaft. Obwohl die Entfernung zu groß war, wußte ich, daß die Figur an ihren Knöcheln eine kleine strählige Schorfwunde haben mußte, wie sie entsteht, wenn die Gelenke zart sind und sich bei einem gewissen weiblichen Gange scheuern.

Die Figur entschwand. Unbehagen und Unsicherheit zerstörten meinen Gedankengang. Ich wollte zurück in die große Straße, aber es mißlang. Sie schien mir plötzlich ebenso unwirklich wie die Landschaft, die ich träumte. Und nun war mir aller Boden entzogen und ich fiel in eine blasse, unkörperliche Wirklichkeit. Alles, was mir da erschienen war, schien gar nicht vorhanden, und ich stand, während ich doppellebig träumte, auf einem Grunde, den ich nicht wahrnehmen konnte, einer dritten unbekannten Welt, die aber einen Rückhalt in meinen Sinnen hatte. Und was ich da träumte, träumte ich gar nicht. Ich hörte es. Ich hörte die Worte und sie schufen mir Sinne, die sie befriedigten. Es war alles die Erzählung eines merkwürdigen Fremden mit mystischen Augen, den ich Slim nannte. Er sah mich schwarz und ziehend an und ich näherte mich ihm schwankend, vom Festen gelöst. Außer uns beiden gab es nichts, die Welt, die Stadt, die Landschaft waren nur seine Erzählung. Er erzählte singend und weitschweifig, stieg eine unendliche steile Leiter von Bildern hinan, um in einer ekstatischen Höhe die Stimme seiner Weltlust voll ausklingen zu lassen, formte mit fortgerissener tatkräftiger Hand eine halbdunkle ewige Masse, um den Funken seiner Seele in ihr verzischen zu lassen. Seine Erzählung war ein einziges langes, wildes Lied. Und schon begann ich bohrend zu fragen. Wer war ich in seiner Erzählung? Wer war er selbst? War er außerhalb seiner Erzählung? Und ich gewahrte, daß er nur ein Stück seiner Erzählung war. Er war die Gestalt eines Buches, das ich las. Während ich es aber las, schrieb ich es, und ich schrieb es ab von meiner Seele mit Schaudern und Staunen und Neugier. Alles was ich träumte, war nur ein Buch, das ich schrieb, und es sollte alle die schwere Weisheit meiner Jugend tragen, sollte im kalten Kelch meinen formlosen, doch feurigen Wein kredenzen.

Dies Buch sollte den Titel Zana tragen. Die Lautfügung Zana klang wie ein Orchester fremder Musik, die ich visionär zu hören bekam. Ich fühlte mich schwach vor diesem Buche, aber ich besann mich, daß es in der Trance geschähe und gab meine Selbstkritik auf. Noch nie hatte ich Sätze von so wollüstiger Bedeutsamkeit gelesen.[125] Alle erschienen sie mir als runde und packende Griffe in mein Beobachterleben, die gewöhnlichsten Worte und Verbindungen waren mir unschätzbare Fundstücke, so übertrieben gehaltvoll, als hätte ich mich eigens um ihretwillen den Mühen jener Dinge unterzogen, die sie schilderten.

Wir waren eine Gesellschaft von Weißen aus aller Herren Länder und kamen in ein Dorf zu Wilden. Wir hatten zweideutige Erlebnisse, lächerliche Erlebnisse ohne Humor. Ich verliebte mich in Zana, die Priesterin und Künstlerin, immer mit dem dummen Gefühl, daß von rechtswegen noch etwas Romanhaftes passieren müsse. Aber alles Unheil, das wir anrichteten, war, daß wir uns nach Kräften blamierten. Zana, ach, ich hatte ein tiefes Verhältnis zu ihr und alle meine Sehnsucht war in ihr verkörpert. Sie war ein Exemplar mit gut erhaltenen Instinkten. Ich gab mir redliche Mühe, vor ihren Augen zu bestehen. Aber wir machten unsere Sache grundschlecht. Die Leute hatten bald heraus, daß wir charakterlos waren und den dringendsten Ansprüchen an Menschlichkeit kaum genügten. Wir konnten ja nicht einmal gehen, geschweige denn von anderem zu reden. Wie ich sie haßte und fürchtete, diese Gesichter von Müttern ungezogener Kinder, die uns mit gutmütigem Hohn auf die Füße stiegen und für unsere Kleidung mancherlei tiefgehende Neugier bewiesen! Es war der Stolz von Müttern, die eine Rasse geboren haben wollten, deren elementare Lebensregungen freudig zu begrüßen waren. Schon verkündigte sich in ihrem Getrampel der Takt, dem sie sich einreihen würden. Sie wuchsen auf zur Bildung, sie wurden groß und stark, sie formierten eine drohende wagende Kriegermasse. Im Sturmschritt tanzten sie vor ihren Müttern, ihren Frauen! Die Pace, die Pace, diese war es, diese besaßen sie und uns ging sie ab. Eingeborenenleben, lustvolle Verkrüppelungen, freudevoller Blödsinn des Daseins, all das ist höchst reizvoll und der Pflege wert. Und nun wußte ich auch, warum ich diese Geschichte aus dem indianischen Djungle schrieb. Ich hatte mich anzuklagen und zu rechtfertigen vor allen Zanamenschen, allen Menschen einer höheren Gattung, die den Kopf frei trugen und einen inneren Rhythmus, eine blutige Bestimmtheit mitbekommen hatten, Menschen ohne Masse, einfache Menschen, die ihre naiven Verrenkungen als schöne Krämpfe empfanden!

Ich horchte in meine Kultur hinaus. Sie war ein weiter Saal, durch die Menschen raunend schritten, kalt wie in einem Museum. Da war kein Takt, nur von den Galerien und Gängen, aus den Saalwinkeln und von den Türrahmen hörte ich ein Treten von Sohlen,[126] Sohlen, Sohlen. Der Zehengänger waren nicht viele. Nicht viele waren sprungbereit und straff. Sie huschten mit ihren Illusionen an den Seltsamkeiten und toten Formen hin, ohne sie zu halten. In atavistischen Kleidungsformen ohne Kraft, Symbolen, deren seelische Mächte gestorben waren, die den Körper zwängten und den Schädel öde verlängerten, komplimentierten sie sich aus dem Leben hinaus. Diesem Leben fehlten Grausamkeit und Würde, ein später Falter aus heroischerem Geblüte pendelte es mit feudaler Verruchtheit im Gleichgültigen. Mit den Schimmern vergangener Zwecke und dem Atem prahlerischer Genießlichkeit behaftet, leidensunfähig und eitel, finden wir die Kelche des Lebens blaß und leer von Honig. Aber dies ist nicht des Menschen Sinn und Schicksal. Der Mensch ist vom Katzengeschlechte, klein, schlau und beharrlich, reüssierend, sich steigernd. Die Beobachtung war sein; er war das scharfsinnigste und jägerischeste aller Wesen. Er hatte durch Beobachtung und schöpferische Betrachtung seine Maße ins Ungeheure geschraubt, während alle anderen Systeme in ihrer Größe zurückgegangen waren. Sein Wille war sein Schicksal. Seine Beobachtung seine Klaue. Mit seinen Wimpern marschierte er in Weiten, die die Erde nicht kennt. Mit dem Strahl seiner Augen leitete er Ströme, die ihn, er muß nicht wissen wohin, ins Gute reißen. Er ist eine schnelle und eine tüchtige Katze, er paßt scharf, und er versteht es, Wild zu sein. Gott hat ihm Augen gegeben, zu lieben und zu verdauen. Dem Drachen aber den Wanst.

Beobachtung! Beobachte dich selbst und du nimmst zu! Unter deinem Blicke schwillt der Muskel. Du entwickelst dich von dir zu deiner Technik, von deinen Wünschen zu deiner Art, vom Vergnügen zur Lust, von deiner Hast zur Pace. Und die Pace ist gut. Haben wir sie verloren, so wollen wir sie uns wieder holen. Wir reisen. Wir bezwingen den Wilden, indem wir ihn sehen kommen. Und nun holen wir uns wieder, was wir für unser Gehirn eingetauscht hatten, aber wir geben den Tausch nicht auf. Wir behalten, was wir besitzen. Denn unser Gehirn ist unser Messer, eine feine Klinge der Beobachtung, die wir nicht vom Leibe geben. Es ist unsere Pupille in der Nacht, unsere Nüster wider den Wind, unsere Sehne zum sezierten Glied. Frigide Dichter, die Ruhe statt der Lust suchten und schwächliche Beobachter waren, haben uns die Analyse verleidet. Ein guter Beobachter aber freut sich seines Sehens. Er sieht nichts, das er nicht gerne sieht. Er sieht, auf daß etwas zu sehen sei. Denn der moderne Mensch ist jener, der solange hört, bis das Gras davon[127] wächst. Es geht ihm gut dabei und er legt sich darin auf den Rücken und singt in den Himmel, wenn es soweit ist.

Auf der anderen Seite aber sehe ich im Hintergrunde den Takt der Arrieregarde, das gerettete Überbleibsel und den Ruin von uralten Lüsten, die tanzende Phalanx der Bürger, eine Humpelmaschine, lustlos und verdrießlich. Fade verlängern sie den Hohlraum der Schädel mit steifen Bräuchen und verschönern ihre Frauen mit engen Symbolen, deren Gleichniskraft erlosch. Das frohe Treiben alter Wildheiten und die freudige Kunst der Verrenkungen zieht sich langwierig und unnütz durch die Gesittung. Ein schäbig gewordener Rhythmus zupft noch galvanisch an ihren Leichen, raunt noch verblaßte Musiken zu ihrem Tun und läßt sie hohlzahnige Lieder singen. Darum sollt ihr Verlorenen und Vergessenen den Bürger mit dem steifen Helm guter Mächte nicht schelten! Aber ihr, Wildlinge und Urwaldseelen, scheltet ihn doch, und lachet lustig, wenn die alte Phalanx tanzt. Denn eine neue Bürgerlichkeit muß kommen! Eine neue strenge Sitte und Zucht, harte Gesetze und frohe gottgewollte Abhängigkeiten! Lasset die Pace klappern und freut euch. Die Eingeweide lechzen danach und schon knurren euch die Geister hungrig ...

Stille war um mich her und ein weißes Licht. Strahlte so der Geist? Ich lag an der Grenzschneide zwischen Intellekt und Vegetation, ich fühlte, wie hart und lebendig hier alles war, fühlte diese Formen weißen Lichtes, die sich willig banden und lösten. Ich träumte, oh es war so gut, eine Wirklichkeit war's zwischen zwei Wirklichkeiten, höhere und gültigere Wahrnehmungen aus dem Lebensgefühle. Und ich kam innerhalb dieses Zustandes zu dem Schlusse, daß jede Wirklichkeit, je stärker, desto träumerischer sei.

Da nahte ich wieder, wenige Sekunden waren es, daß ich sie verlassen hatte, den bunten Schwärmereien des versinnlichten Traumes. Zana war an den Hütten vorbeigeschlichen. Ich schaute ins leere Sternenlicht. Draußen in der Savanne, gegen den Djungle zu, erscholl der Heulschrei einer brünstigen Hündin. Ein paar der Männchen im Lager schlugen an. Der Schrei der Hündin ging meinem traumbeschwerten Herzen aus irgendeinem Grunde nahe. Ich sah Zana, mit gefesselten Füßen in die Knie gesunken, die Arme hinterm Genick verschränkt. Da fühlte ich meine männliche Unzulänglichkeit. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: all diese Huld konnte mir gelten; auch mir, wenn ich ein anderer wäre, mit ebeneren Gliedmaßen und einer entsprechenden Haltung. Die Kleider, die mir[128] grotesk um den Leib hingen, mißfielen; ich ahnte Zanas abfällige Blicke darauf gerichtet. Man müßte – ha, es war ein vortrefflicher Gedanke, dieser Gedanke von den Kleidern. Im Traume merkte ich, daß ich leis und zufrieden vor mich hin lächelte. Mein Körper spürte ein gutes Wohlsein. Das Lächeln wurde breiter, es kam aus dem Hirn, aus den Eingeweiden, es nahm den ganzen Körper ein und löste sich endlich als klingendes Lachen aus meinem Halse los. Hallo? Eine Vorstellung war mir durch den Kopf geschossen. Ich sah in der Ferne einen Mann vorübergehen, den ich van den Dusen nannte. Ein guter alter Bekannter, eine geläufige Figur meiner Phantasie, ein Standard meiner kritischen Beschäftigungen, der Typus des Durchschnittseuropäers. Er kam aus einer Hütte, die weiter oben an der Wegbiegung lag. Seine Gestalt war feist und schwerfällig und bewegte sich verzagt vorwärts. Aber noch etwas war an ihr, das mich lachen machte, das mich zum Biegen brachte vor Lachen, tiefem, donnerähnlichem Lachen. Mein Rücken schmerzte, er krachte, sprühte vor rieselndem Schmerz, ich fand plötzlich, daß mein rechter Arm eingeschlafen war und zog ihn auf Umwegen zu einiger Tätigkeit heran. Der Himmel stand voller Sterne. Sie gingen in Paaren und koppelten und bildeten wurmstichige Monde. Ich lag am Rücken und schwelgte in der Schärfe, mit der ich sah und dachte. Da überkam mich das Lachen, ich lachte fanatisch – – – – – – – – – – – und drüben kam van den Dusen in einer weißblaugestreiften Badehose aus seiner Hütte. Ich hatte die Wirklichkeit geträumt!


Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 115-129.
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