XIX

[129] Am nächsten Tage schien die Sonne so hell wie je zuvor. Wilde Gerüchte durchsprengten das Dorf. Der Gott war in der letzten Nacht von seinem Standplatz in der Hütte, den er nun schon seit langem nicht mehr verlassen hatte, gen Himmel aufgefahren. Er hatte ungeheuerlich gesprochen, hatte zu Herzen gehend geböht und getutet und war in die sternenhelle Nacht hinaus verschwunden. Vor den Augen der großen Jäger war es geschehen. Als er wiederkam, hatte er mit den Weißen gerungen und sie mit Unterstützung Luluacs furchtbar besiegt. Er hatte die »helle Haut« mit unauslöschlicher Verachtung und Überlegenheit ins Feuer geworfen. Zana hatte getanzt wie noch nie. Es waren Zeichen, und große Dinge mochten bevorstehen. Es war ein guter Tag für eine indianische Seele. Aber für die Nerven war es ein unerklärlicher Tag, denn alles kam sich unerklärlich[129] vor. Es war einer jener Tage, an dem Frauen mit ihren Männern zetern und die beiden Geschlechter ihre Rollen getauscht zu haben scheinen, weil sie mißvergnügt über die Abwesenheit ihrer natürlichsten Sehnsucht sind. Ein kalkweißes dürres Sonnenlicht füllte den Raum, ohne von den Dingen Schatten zu werfen. Das Geschwätz war obenauf. Überall aus den Hütten ertönten aufgeregte Stimmen, die Männer waren träumerisch und faul und die Weiber führten das große Wort. »Nein«, sagte ich zu van den Dusen, indem ich ihn mit einem neugierigen Blicke ansehen mußte, »seh' ein anderer, wie er aus diesem Dilemma herauskommt, ob er sich für Glauben oder Zweifel, für Mystik oder Pferdeverstand entscheidet. Ich habe von dieser Nacht genug.« Da warf er mir einen rätselhaften Blick zu und ich begann zu zittern und wußte nicht, warum. Es kam durch die Schwäche in meinen Gliedern, die von Schmerzen zermürbt waren. Und dann dachte ich gründlich und sonnig über manches, über soviel, ja soviel Sachen nach.

Meine Nerven blieben sachlich und ohne Verschwommenheit. Es war ein durchaus vernünftiger Tag; und ein allgemeines Naturgefühl erlebt fremde Zonen ungefähr mit dem Eindrucksvermögen des Eingeborenen. Ich habe die Dämonen der Exotik nie kennen gelernt. Als ich diesen Morgen erwachte, empfand ich Haß, nichts als wilden Haß gegen die gleißenden Schauer, die von oben kamen, gegen das ungemünzte lautere Triefgold, gegen die Trivialität dieser steten steifen Blondigkeit des Raumes. Es war heiß, sehr heiß; aber die poetischen Schwülen und Feurigkeiten dieses Daseins, die uns die Dichter vorgeredet haben, suchte ich vergebens. Stimmung, dies ist keine Stimmung in gebundener Form, ein fertiger Sinn von ein paar netten anschaulichen Sätzen. Stimmung ist vielmehr eine Unsumme Kleinigkeiten, mit denen man je nach Anlage vertraut ist. Väterliches klopft mir im Reisen auf die Schulter und fremde Länder sind mir oft allzu verwandt. Ich entdecke mit Entsetzen, daß die Welt draußen so ist, wie ich bin, aber nicht sein möchte; eine milde Ähnlichkeit mir entgegenbringt, die mich überrascht; während die Heimat strenge zu mir ist und stets anders als ich. Ich ziehe aus, um den Helden zu finden; die vollständige Neuheit und Andersartigkeit auf dem Gebiet des Menschlichen; aber ich entdecke stets wieder den einen und denselben, und nun muß ich schon annehmen, daß hier auch alle Heldenhaftigkeit beschlossen liegt. Die Kreatur in mir, die so allmächtig und stark ist, kehrt in alte Jagdgründe zurück. Broadways, Boulevards und Ringstraßen sind exotisch, seltsam und mystisch bewegt. Aber der Äquator[130] ist eine schnurgerade gemütliche Empfindungspassage. In den Rippen der Kordilleren hat man ungefähr die Hemmungen, Sorgen und Symptome von Laune wie in der Gloria der grandiosen Porphyrleiche der Dolomiten. Und der wirkliche Weltmann empfindet die Anwesenheit der Pittoreske wenig, ob sein Zug von einer Schar verhungerter Tramps mitten in der texanischen Prärie zum Stillstand gebracht wird, im Whitechapel zünftige Taschenzieher ihn nach allen Regeln der Kunst in einem Erdgeschoß an den Kamin knebeln, oder halbwüchsige Pülcher in einer Vorstadt Wiens mit dem Feitel bedrohen. Whats the difference? würde Slim gesagt haben, und das war die erlösende Haltung.

Traun, ich war ausgebrochen, um das subjektive Land, die subjektive Stimmung und den subjektiven Menschen zu sehen, wobei es sich natürlich immer um mein eigenes hübsches Subjekt handelte. Aber ich entdeckte nichts, das gerade für mich dagewesen wäre; denn es war alles für mich da, und statt des wunderbaren duftigen Landes entdeckte ich einen allgemeinen und gewöhnlichen alten Planeten, die Erde. Wie ich hier wieder einmal in meiner Hütte lag, unruhig dem tropischen Morgen trotzend, der mit einer schnurrenden Lebensäußerung des geweckten Djungles anhob, unterschied ich deutlich das wirkliche Ergebnis meiner Forschungsreise vom herkömmlichen; ich hatte nicht Brasilien, auch nicht den brasilianischen Kaiser entdeckt, sondern die brasilianische Seele des Planeten. Was war meine ganze Reise bisher mit ihren Abenteuern, denen der gewünschte schöngeistige Zug des Heldenhaften empörend mangelte, anderes gewesen als ein kurzer Abriß gattungshafter Erfahrungen? Wohin anders reisen wir, als nach rückwärts in unser eigenes Gedächtnis? Mit erhellterem Kopfe sah ich mich in die Chancen unmündiger Zustände tauchen, in wilde Ureigentümlichkeiten und Katzbalgereien, in die Moräste meines Blutes und des pflanzenhaften Glücksbetriebes. Und langsam reifte die Genesis wieder zu mir heran, ein Doppelgänger der Entwickelung entstand durch die Spiegelungen meines Gehirns in einem höheren Kreise, einem unsinnlichen Mittel, in einem anderen Phantoplasma. Mein Gehirn machte noch einmal den ganzen Weltprozeß durch, veranstaltete eine brennpunktkleine Neuausgabe von ihm. Aber während es die Entwickelung spiegelte, reifte es sie aus. Man muß nicht nur des Kurzen dorther kommen, woher man eigentlich des Langen kommt, sondern muß auch darum wissen, darum irren, ja, vielleicht sogar darum lügen. Was ich tat, war zweierlei in einem, soviel war klar. Ich tat eine Reise mit sinnlichen Erlebnissen, halb banaler und halb[131] bedeutsamer Art; und tat eine Reise der abstrakten Erkenntnis, unter der jeder geographische Boden schwand und ein Fleck des Planeten so gut war wie der andere. Und ohne daß ich selbst geschult und tatkräftig die Fäden in der Hand hielt, bloß, indem ich mich mir und dem Leben hingab, schlug sich das Leitmotiv in der Verquickung der Wirklichkeiten endlich nachdrucksvoll durch. Von der Zelle bis zur Selbstbespiegelung: dies ist ein langer Weg, ist der Amazonenstrom der Menschenseele, ist ein brasilianisches Urwald- und Flußsystem des Gemütes!

Beobachtung, bitte, das ist mein Haupttrumpf, ist Postulat. Der Schöpferische sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet in die Weltdinge hinein, und siehe da, sie werden unter seinen Sinnen wirklich. Man könnte diese Formel auch umkehren, sozusagen eine zyklische Vertauschung vornehmen, und an ihrem Werte wäre nichts geändert. Man könnte nämlich sagen, alles Erkennbare sei bereits als Masse vorhanden, und die Analyse sei nur die rüstige Pickel, die den Abbau betreibt. In dieser Form gibt es der selbstverständlichen Ansicht Ausdruck. Aber hier setzt ein anderer Gedanke ein. Von zwei Auslegungen wird die reichere und unbestimmtere die bessere sein. Und die reichere war offenbar jene, nach der mein Drang sich neigte. In jenem höheren Kreise der Vernunft, wo die stoffliche Welt ein vertauschbarer Schein war und nur ihre Wirkung als Gedanke zählte, waren beide Auslegungen überholt und das alte Symbol vom Wasserrad fand seine Anwendung. Innerhalb des einmal bevorzugten Phantoplasmas konnte man sich an die Norm oder an das Paradox halten. Das Paradox war richtiger, so oft es sich als fruchtbarer erwies. Wahrheit war Fortbildungsfähigkeit, Stillstand allein war Lüge. In meinem Falle war, wie schon so oft, das Paradox auf meiner Seite, es war von Leuchtkraft für ein ganzes Jahrhundert, und, war es auch vorläufig wie alle Ergebnisse des Denkens, so ging doch eine mächtige Freude von ihm aus für alle, die guten Willens waren. Es erfordert Kraft, einen Widerspruch auszudenken, ohne ihn zu löschen oder zu reimen. Ich war nicht in jeder Stunde trefflich, meine eigenen geistigen Höchstleistungen nachzuahmen. Es gehörte der Gewaltakt dazu, und er war oft unratsam, wenn die Kräfte nur zur Norm reichten. Was aber bewies dies? Daß zum hochnormierten Denken nicht bloß die Unrichtigkeit genügte, sondern daß auf die Beziehungen, die im Phantoplasma gegeben waren, Rücksicht genommen werden mußte: sie mußten überwunden, nicht umgangen werden.

Aufgepaßt! sagte ich mir, und mein Gesicht war vom Schmerz[132] des Nachdenkens qualvoll wie bei einem Weinenden zusammengezogen, gleichsam auf sein Mindestmaß reduziert. Aufgepaßt, Beobachtung ist Postulat. Forschung ist Konstruktion. Ich trete den Beweis an. Wir haben an der Hand einer emsig betriebenen Beobachtung mit einer Anzahl von Weltbildern und Weltgefühlen abgewirtschaftet, die früher bombenfest Gemeingut waren. Sie gestalteten das Leben weder sicherer noch unsicherer als heute. Was man nicht wußte, machte nicht heiß. Was aber heiß machte, wußte man um so inniger. Gott war so viel wert wie ein Universitätsprofessor. Kulturen ohne Psychologie des Ichs und seiner Objekte verankerten das Menschenkind in seiner Wohlfahrt nicht schlechter als die unbeschränkteste Aufklärung. Dies beweist, daß durch unsere Analyse, unsere Skepsis und unsere Aufklärung nicht Dinge entdeckt wurden, die früher übersehen waren, sondern daß die Beobachtung selbst Ungeheuerliches hervorbrachte. Der Gedanke des Fortschrittes als des Abbaues einer goldhaltigen Mine ist das Geschöpf einer fortschreitenden Kultur, einer Seele mit einer Bewegung und einer Dimension mehr. Aber die Dimension ist erst durch die Seele da, der Fortschritt erst durch die Kultur; sie schreitet fort, aber sie ist nicht selbst ein Fortschritt zu anderen Kulturen. Daß Moki durch die Lüfte fliegt, ist nicht mehr und nicht weniger sicher, wie daß unsere Aviatiker sich die Knochen brechen. Aber wir beobachten diesen letzten Umstand mit Hilfe von Zeitungsreportern, und darum ist er wirklich. Nun aber kann man, und dies ist höchst mystisch und schwindelerregend, Beobachtungen mitteilen, man kann eine ganze Versammlung, ein ganzes Publikum beobachterisch infizieren, wie übrigens beobachtet wurde. Und so könnte man wohl auch einem Indianer einreden, daß soeben ein berühmter Aviatiker auf den Kopf gefallen sei. Und er würde sich diesem religiösen und kulturellen Ereignis wohl kaum entziehen können. Alle beobachten es, und nun beobachtet er es desgleichen. Man könnte vermuten, daß die Beobachtung ein Dichter ist, der sein Buch aus dem eigenen Kopfe abschreibt. Je besser der Beobachter, desto größer das Plagiat seines Ichs. Ich sehe Moräste, Raubtiere und Jägermenschen nur darum, weil alles in mir nach der Gestaltung dieser Erscheinungen drängt. Ich finde dieses Prinzip in mir vor, und es wird mir der Schlüssel zur Außenwelt. Nun beobachte ich den Beobachter, ich falle ihm in den Rücken, ich recke und turne mich an meinem Gesichtswillen empor und betrete Schritt vor Schritt erst dämmernde, dann hartgestampfte Dimensionen ... Die gedankliche Abhängigkeit aber, die zwischen mir und der beobachteten Umwelt entsteht, wirkt auf mein[133] Wohlergehen zurück. Zwischen den transzendenten und den epidermalen Vorgängen besteht die wichtigste, nächste, nein, die einzigste Beziehung. Darum sind Gehirn und Eingeweide einander in der Formation ähnlich, und was dazwischen liegt, ist nur die Treibung und Verräumlichung endgültigerer und einziger Lebenswahrheiten. Dieses Zwischending mit den vielen möglichen Dimensionen habe ich das Phantoplasma getauft. Es ist in Paris anders als am Urwaldfluß, heute anders, als es vor Jahrtausenden war. Gehirn und Eingeweide aber sind die gleichen. Das kommende Phantoplasma aber, über dessen Günstigkeit vor anderen jene letzten menschlichen Tiefen allein Rechenschaft ablegen, die noch jüngst einer ästhetischen Lebensgarnitur den Vorzug geben, dieses zu erwartende Lebenssystem ist die Welt des Jäger- und Beobachtermenschen. Ich kreiere seinen Typus. Aber vor meinem Wunsch war die Botschaft schon in mir bereitet. Er wird mit dem Spiegel geboren werden. Und sein Kopf, diese nackte Spiegelfläche, dieses an sich Wesenlose, wirft sein verkleinertes und vergrößertes, sein vergröbertes und verdichtetes Bild auf alles, was ihm begegnet. Wozu reist dieses Geschlecht? Um den Menschen in sich zu erreisen. Man reist nicht in ferne Länder mit seltsamen Klimaten und verblüffenden Erlebnissen: täte man's, man wäre enttäuscht, nichts als Spießbürgerlichem und Ernüchterndem zu begegnen, zu dem man nie die Räusche gehabt hat. Aber der Weltmann, der Vorläufer des neuen Menschen, ist bei seinen Reisen auf andere als impressionistische Ausbeute bedacht. Scheinbar reist er rückwärts in seine Erfahrung, in die Weltgeschichte, in die Biologie und nimmt noch die Urzelle als Maske vors Gesicht. Aber auch dies ist schon ein alter, verjährter Standpunkt. Rund um ein Problem macht er sich Bewegung, und einer Figur zuliebe, die vielleicht erst in hundert Jahren mit beiden Beinen im Leben stehen wird, kreuzt er den Ozean. Er hat mörderische Duelle mit dem Paradox und verwendet Riesenkräfte an die Überwindung der Dimensionen. Denn er weiß, daß die Richtung, in der er denkt, halb ist. Geht das reine Denken nicht im Widerspruch vor sich, an jener höheren Grenze, die über den zureichenden Gründen der Phantoplasmen verläuft? Immer denkt er in die halbe Dimension, in Traum oder Wachleben, und nie in ihre höhere Einheit. Rund ist die Welt, und was ist oben, was unten, was links, rechts und hoch und tief? Längs der Beobachtung läuft er in wunderbare Urgründe zurück – aber, ahnt er, daß er nach vorwärts stürmt? Sein Hirn ist unantastbar spiegelblank. Die Vergangenheit? Verzeihung! Die Zukunft! Die Vergangenheit ist ein[134] Buch mit sieben Siegeln. Das Gedächtnis zeigt in die Zukunft. So ahnt er die Zusammenhänge, die innerhalb des Phantoplasmas zu liegen scheinen, als eine Abschichtung von Instanzen, deren niedrigste das Phantoplasma selber ist. In ihr macht er sich eine Vergangenheit, daß sie ein Gleichnis seiner Zukunft sei. Birgt er Widersprüche in sich, der Mann, die ihm ein Kind nachrechnen könnte? Ein Kind vielleicht, doch ein Erfahrener, Erfahrteter wohl nicht. Was tut's? Die Hygiene des Denkens gibt ihm Kraft, Lust und Recht. Zum prämiierten Denken gehört der Widerspruch. Ahnt man eine späte ungestückelte Dimension, in der das Physische sich transzendental äußert? Die Zeit ist als vierte Dimension entlarvt. Gibt es keine fünfte, und kann man jene nicht bewegen? Ha, ich probier's! Ich stemme mich mit beiden Schultern gegen die Zeit, ich suche sie aus ihrer Bahn zu drängen, ich fordere mich zum Gewaltakt heraus. Eine Linie, aus sich selbst gedrängt? Eine Fläche, gut! Wenn ich nun denke – ich ahne es schon! – und zu gleicher Zeit dawider denke – hurra, da haben wir's! Denken ist zeitlich. Wenn ich nun denke und zugleich dawider denke, so verschiebe ich die Zeit in einer höheren Anschauungsform, die nicht Zeit ist. Die Zeit wird senkrecht zu sich selbst gebracht. Ich erhalte eine neue Dimension. Der Block Zeit hat sich gerührt, er schweigt zitternd, eine Dämmerung von Ruck, ein Hauch von Erfolg ist es gewesen. Paßt auf, wir kriegen die Zeit noch herum! Können Sie um die Ecke sehen? Wir aber, wir denken um die Ecke. Wir denken in Winkeln, Kanten und Kristallen. Und wir werden es, verlassen Sie sich darauf, dahinbringen, daß wir sozusagen in Dodekaedern denken, wo der Gedanke zu gleicher Zeit einen ganzen Korb von Malen gegen sich verschoben hat! Uff, wie es anstrengt!

Ich richtete mich auf. Vor der Tür lag der von unzähligen Tritten festgewordene Lehmboden im weißen Lichte. Als ich des bewußt wurde, kam mir der übellaunige Drang zu schreien. Ich spürte den Eigensinn bis in die Gliedmaßen, die nervös waren und jede einen anderen Plan zu haben schienen. Dabei stellte sich ein unbehagliches Gefühl der Zerstückelung ein. Ich dachte nach. Was war geschehen? Und glaubte, mich beruhigen zu können. Noch war ich im Vollbesitze meiner geistigen und leiblichen Güter. In der Hütte war alles in bester Ordnung. Es fiel mir ein, daß ich zusammenpacken könnte, denn nach all dem, was gestern vor sich gegangen war, würde Slim mit seinen Absichten nun wohl endlich Ernst machen! Hurra, da gab es dann doch wieder Abwechslung! – Dieser Ausdruck[135] eines Aufschwungs an Laune kam aber gleichsam etwas dünn heraus. Na, aber doch. Also? Tja – nein, es ging nicht. Da kam ich nicht herum. Und weil ich mich mit mir selbst nicht auskannte, traten mir boshafte Tränen in die Augen. Es war zwar nichts Besonderes los, aber meine Glücksfähigkeit war doch erheblich vermindert. Ich fühlte meinen Rücken; es stach noch heftig, in Flächen zuckte der Schmerz das Kreuz hinab. Es war die deutliche Erinnerung daran, daß ich mich vor Zana bloßgestellt hatte. Denn darüber konnte jetzt kein Zweifel mehr bestehen: mit peinigendem Gedächtnis erinnerte ich mich an den Gesichtsausdruck der verschiedenen Personen, die es mit angesehen hatten, und zwar mit einer Schärfe, die meine gestrige Dreistigkeit und Nonchalance in bezug auf meine Umgebung Lügen strafte. Durfte ich zugeben, daß ich um Zana litt? Ich litt. Aber es war nicht Liebeskummer, sondern Geschlechtsgram. Ich wußte mein Geschlecht beeinträchtigt, mein Selbsterhaltungstrieb in den Lenden war herausgefordert, und man bestritt mir meine Männlichkeit. Die Verneinung als Geschlechtswesen wird wie leibliche Tyrannei empfunden. Ich wollte toben, das Stroh herunterreißen, mit Checho anbinden. Ich war hysterisch.

Was jetzt? Ich begehre zu wissen, warum man reist. Reist man vielleicht, um sich zu drücken? Es hat keinen Nutzen. Denn, lieber Hans, willst du auch in einem neuen Lande und unter andersartigen Menschen endlich das gesunde Verhältnis zu deiner Umgebung finden, verlierst du dich doch von neuem. Nimmt einer Reißaus, um in fremde Länder zu gehen, und schlägt sein Zelt in einem weltverlassenen Dorfe im Djungle auf: gleich tritt die Aufgabe an ihn heran, sich eine Position zu schaffen. Er sieht sich der tanzenden Phalanx der Bürger gegenüber, den geschlossenen Kreisen, den Würden und Schönheiten und Schmuckstücken, mit einem Worte: der Pace. Überallhin trägt er seinen inneren Menschen mit, für den es keine Geographie gibt. Und exotischer denn eine brasilianische Wildnis ist die Straße im Verkehrszentrum einer großen Stadt. Ein freier und glücklicher Mensch weiß in sämtlichen Gesellschaften der Welt die Gleichgewichtslage inmitten der Konventionen einzunehmen, ohne sich und sie zu stören. Ein schofler Kerl mit einem niederträchtigen Gemüte wird sich überall belauert finden, annehmen, daß er kaltgestellt wurde und daß seine würdige Person nicht ins richtige Licht gerückt ist. – Nun mag es Seelen geben, die überall als Gäste auftreten, nirgends mit anpacken, sondern sich hofieren lassen. Sie sind von mächtigem persönlichen Zauber, ihre Erwartungen sind hochgespannt und gleichsam[136] naschhaft; kein Land wird wagen, sie zu enttäuschen, und ihnen die seltensten Impressionen bieten. Diese gastierende Truppe von Weltreisenden reist ohne Persönlichkeit. Menschen, die nie bei sich sind, finden überall das andere. Wer aber in sich daheim ist, sieht überrascht, wie der Djungle ihm dieselben ewigen Notwendigkeiten mit freigebiger Hand vorstreckt und nichts anderes zu vergeben zu haben scheint. Er ist der Abkömmling jenes nordischen Geschlechts, dem man eine Horde Löwen entgegenjagte – die erschlugen sie mit ihren Knütteln und glaubten, es wären blonde Hunde gewesen. Und immer wieder werden, wenn die alten, rassigen Kulturträger faul werden und das Leben nur mehr zu einem aufregenden Zirkusspiel gestalten, wenn die Lust der Beobachtung greisenhaft zu kindischen Anfängen zurückkehrt und der Jägerinstinkt zur Behaglichkeit des Varietézuschauers verderbt, diese alten Knüttel in unserem Blute lebendig. Das Leben ist ein solcher Löwe und das Geschlechtliche und die fremden Länder und alle die bissigen Dinge, die man uns jüngst noch vorgesetzt hat. Dann ist es Zeit, dann tritt einer unter uns auf und verkündet die »blonden Hunde«, wir treten den Gegenständen unserer Beobachtung ehrlich Aug' in Auge gegenüber, stellen uns einer Wirklichkeit und schlagen die neuen Löwennamen hundetot.

Gesetzt, in einer europäischen Gesellschaft würde das Thema angeschnitten. Was ist's mit den indianischen Djunglen, hoho, erzählen, erzählen! – Meine Damen und Herren, es tut mir leid, daß ich Sie werde enttäuschen müssen. Mit den indianischen Djunglen ist es nämlich nichts. Es gibt sie kaum. Ich rate Ihnen zu irgendeinem Kohlenweiler, oder doch zu einem Kaffeehause. Man hat Ihnen die Tropen in einer falschen Tonung zur Kenntnis gebracht. Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten dort auf die Pantherjagd gehen; dort erdrosselt man das Raubtier genau mit einer Kette von Treibern, und das kommt auch bei uns in den besten Familien vor. Die Gefahren werden aufgerieben, und unter dem südlichen Kreuze hausen Sie langweiliger als unter der elektrischen Birne Ihres Hotelzimmers. Würde ich von dem Djungleleben erzählen, seinen Sitten und Situationen, Sie würden mich in Verdacht bekommen, ich triebe Spaß und erlaubte mir eine Satire auf Ihre Kosten. Fräulein Zauner – und hier verneige ich mich vor der Inhaberin dieses berühmten Namens und fordere die Herren und Damen zu einem dreimaligen Hoch! auf die verehrte Freundin und Künstlerin auf! – so, Fräulein Zauner würde es als eine persönliche Spitze empfinden, wenn ich von meinen Erlebnissen mit einer ihrer Kolleginnen im fernen Südwesten berichtete.[137] Und nun muß ich Ihnen in der Tat ein Geständnis machen. Ich bin nicht der Held und Abenteurer, für den Sie mich halten. Ich danke für Ihre zuvorkommende Meinung – aber ich muß zugeben, daß sie mich in eine schiefe Stellung drängt. Sie zwingt mir eine Geste auf. Und wenn Sie so fortfahren, dann wird es nicht lange dauern und ich werde mich selbst von dem, der ich in Ihren Augen bin, nicht mehr unterscheiden können. Denn die Wahrheit ist, daß ich auf meinen weiten Reisen, die ich gründlicher und tiefer zurückgelegt haben mag als mancher andere, nichts zugelernt, und, was wichtiger ist, nichts vergessen habe, wie einst die bekannten Berufskönige. Alle meine Kräfte und Sorgen, meine Leidenschaften und Hemmungen, sind legitim geblieben. Es ist mir nicht, wie Peer Gynt, dem Phantasten ohne Persönlichkeit, gegangen. Immer habe ich gewußt, wo mein Kaisertum unerledigt geblieben ist und wo die Arbeit und die Mission des Lüstebringers auf mich warten.

Denn zutiefst im Menschen liegt der Hunger nach Lust. Dieses Lustmotiv ist der Angelpunkt des gesamten vegetabilischen und animalischen Lebens. Es dürfte Ihnen kaum neu sein, dies zu erfahren. Aber neu ist Ihnen vielleicht das Folgende: Im Animalischen hat es sich, je höher der Typus steht, einen desto feineren und verwickelteren Apparat geschaffen, die Phantasie. Diese ist, obschon sie auf dem Prinzipe der Spiegelung beruht, der Träger aller Gestaltungs- und Schöpferkraft. Sie beobachtet und reflektiert und holt scheinbar aus dem Felsen des Bestehenden die Goldader der Erkenntnis; in Wirklichkeit härtet sie diesen Felsen, das Phantoplasma, erst mittels Erfahrung. Zu den ewigen Gesetzen einer ewig gleichen Natur, die sich an uns erfüllen, nein, deren Erfüllung wir wahrscheinlich sind, haben wir uns je einen Zirkel, ein System von Gründen erfunden. Aber diese Gründe sind nie triftig, auch nicht für unsere Existenz. So wie wir hier versammelt sind, so sind wir auch die geborenen Lügner und Heuchler, pathologische Schwätzer, die wir die Wirkungen fälschen, die wir aufeinander ausüben. Unser wirklicher Verkehr findet durch organische Teile des Körpers statt, die wir nicht kennen und kaum je kennen lernen werden. Wir beeinflussen einander durch Paniken. Wie grauenvoll abgesperrt und einsam wären wir für einander, wenn nur der Bewußtseinsakt allein uns vereinigen könnte! Und nun sehen Sie, die Dinge, die ich auf meinen Reisen erlebt habe, waren so fade, gemein und abgeschmackt, wie es nur je die Dinge unter Menschen sein können. Aber mir war es gegeben, für[138] eine kurze Weile in ein fremdes Phantoplasma zu reisen, einen fremden Lebensakt in mich einzuschalten und abzuspielen.

Da war ein Indianermädchen namens Zana, von kleinem ausgeprägtem Wuchs. Ich liebte sie, es war für mich Gesetz, daß ich sie liebte. Aber was wußte ich von ihr, was konnte ich von ihr wissen? Sie alle, die Sie hier meine Gäste sind, wären vor der fremden Welt so unklug, hilflos, voreilig oder planlos gewesen wie ich. Die kleinen Reibungen der vielen Ichs in einer gegebenen Nachbarschaft nehmen den Ablauf des Lebens ein hier wie dort und schaffen die Qual der Enge, dann die Linderung oder schmerzhafte Kälte der Trennung hier wie dort. Und ihretwegen vermeide ich die ausführliche Berichterstattung, daß niemand sich getroffen fühle. Denn meine Erlebnisse sind stets so gewesen, daß sie immer nur Anspielungen auf die Grunderlebnisse meiner und Ihrer Kultur wären.

Das Wesentliche bleibt überall unter den Gestirnen gleich. Alles, was Abwechselung in die Monotonie des Reisens bringt, ist die geänderte Anschauungsform, die vage Erinnerung an uralte Zustände; das fremde Phantoplasma. Niemand von Ihnen, wenn ich so die Tafel hinabblicke und mir die vollzählig erschienenen Typen unserer Kultur beim Namen nenne, wird sich von dem, was ich wirklich zu erzählen hätte, eine Vorstellung machen können. Ihre Anschauung ist zu einseitig, selbst zuviel höherer Djungle und zu organisch, als daß sich in ihr ein anderes weitaus primitiveres und unmittelbareres Phantoplasma spiegeln könnte. Wie kann ich Ihnen Existenzen des Djungles vor Augen rücken – vielleicht, sage ich, könnte ich eine schriftstellerische Lebensaufgabe daraus machen, ein Erziehungsproblem, eine Modernisierung Ihrer Vorstellung ins Werk setzen. Denn ich ahne voraus, daß sich Zukunft und Urvergangenheit berühren. Sie aber, meine Damen und Herren, befinden sich augenblicklich gleich weit von beiden entfernt. Und doch wäre es wert, jedermanns Aufmerksamkeit auf die wichtige Tatsache zu lenken, daß er vom Djungle abstammt und daß das moderne Leben alle die alten Tugenden von ehemals wieder in ihm zu entfesseln strebt.

Nun setze ich voraus, daß Sie alle meiner gewagten, aber äußerst gleichniskräftigen Behauptung zustimmen, wenn ich unsere Kultur in ihrem Hochstande eine solche der fünften Dimension nenne. Das ist ein Gleichnis, denn merken Sie wohl, auch ich spreche hier nur als ein Geschöpf des Phantoplasmas, und die realen Wirkungen, die ich mit Hilfe meiner Dialektik auf Sie auszuüben scheine, sind schlechterdings nichts anderes denn eine logische Umschmelzung von Vorgängen,[139] die unserer Aufsicht entrückt sind. – Hm. Geben Sie acht! Der Djunglemensch hat ein Phantoplasma. Es entrollt sich in der zweiten Dimension. Nur die tüchtigsten Köpfe unter uns begreifen die fünfte Dimension; diese eigentümliche Verschiebung des Denkens innerhalb der Zeit. das organisierte Denken, das, möchte ich sagen, sich zum anorganischen Denken verhält, wie der dualistische Geschlechtsakt zur Parthenogenese. Derer, die so denken können, sind ganz wenige. Der Djunglemensch aber kennt nicht einmal die vierte Dimension, die Zeit, den fortgerissenen Raum. Denn erst die Idee des Fortschrittes konnte den Begriff der Zeit vollständig mit einem Anschauungsmomente decken. Der Djunglemensch sieht kleine und große Organismen, junge und alte Kreaturen, er kennt ein Wachstum und begreift es als leibliche Wohlfahrt. Aber er kennt keine Schichtungen und keine Entwickelung. Er bleibt stationär von der ersten Minute seines Atmens bis zur letzten. Bilden Sie sich nicht ein, der Djunglemensch würde, wenn Sie als Vertreter einer reiferen Rasse bei ihm eintreten, ein Einsehen mit Ihrer Überlegenheit haben. Er hat die Zeit, die in Ihnen vorgespart liegt, nicht begriffen. Er lebt in der Ewigkeit, im seienden Raum, der ihm niemals unter den Füßen fortbewegt wurde zu einer höheren Existenzform, zu technischen Umgestaltungen oder geistigen Manövern. Nur wer die Ewigkeit verliert, entdeckt die Zeit – wir verloren und entdeckten.

Haust der Djunglemensch also in der dritten Dimension? Nein. In der zweiten. Sein Leben spielt sich in der Fläche ab. Er ist noch nicht einmal beim Raume angelangt. Mein Beweis ist kurz: er hat keine Tiefe. Sie werden behaupten, das sei ein Wortspiel. Und ich erwidere Ihnen, daß ich gelernt habe, meine Überzeugung aus Wortspielen zu holen. Die Sprache ist verläßlich, oh wie verläßlich! Alle Philosopheme und Weltanschauungen sind aus Worten geboren, die man später einmal als Irrtümer bezeichnet hat. Später einmal, das heißt zu spät. Sie kennen das Sprichwort vom Brechen der blühenden Rose, vom Schmieden des glühenden Eisens. Zurecht kommen zu einem Schöpfungsakt, nicht träge, sondern pünktlich sein, dabei sein – das ist alle Wahrheit! Denn sehen Sie, zur Richtigkeit gehört etwas anderes als Freiheit von Irrtümern: der Takt, die Pace. Nur Wahrheiten, die Pace haben, gelten.

Und die Gebilde des Wortes besitzen Takt. Aus ihnen entsteht dem, der dazu neigt, ein herrliches Phantoplasma. Der Djunglemensch jedoch hat keine Sprache in unserem Sinn: sie ist ihm nicht eine Anschauung höheren Ranges wie uns. Bei ihm sind noch die[140] primären Künste daheim: Musik, Tanz und Malerei, und sein Dasein, seine Wurzelexistenz spiegelt sich in ihren Erregungen. Er beobachtet sozusagen mit anderen Organen, als wir es tun. Seine Beobachtung ist zweidimensional. Er beobachtet in die Fläche. Wir beobachten in die Tiefe, in die Entwicklung und in die Inversion. Unsere Beobachtung erstreckt sich letzterdings auf uns selbst. Wir sind introspektiv, er ist grausam. Neugierig sind wir beide.

Einen Augenblick, bitte. Ich muß zurückgreifen, um Sie mitzunehmen. – Was erlebt der moderne Reisende? Nicht nur die wunderbaren und abenteuerlichen Exzesse seines sensiblen Nervensystems, sondern auch die Worte und das Bewußtsein hierzu. Kommen Sie aber davon ab, gehen Sie noch um einen Grad weiter in Ihrem Denken, nehmen Sie eine Umstülpung, eine Inversion des zeitlichen Denkens in die fünfte Dimension vor und denken Sie sich zu diesem kolossalen verantwortungsvollen Bewußtsein einen bildnerischen Gesichtssinn, so haben Sie einen Maler, der scheinbar zu den Ursprüngen der Malerei zurückgekehrt ist, und der der Malerei gibt, was ihrer ist: die Fläche – und der trotz seiner Betonung des Physischen, trotz seiner urhaften Ausdeutung des Beobachtenden im Menschen als des Grausamen, der geistigste, wissenschaftlichste und ichgewandtste Figureur aller bisher gewesenen Künstler ist. Und Sie verstehen, daß ich somit wiederum nicht etwa Kelwa meine, den Djungleartisten, von dem ich Ihnen ein paar Brocken hingeworfen haben dürfte, sondern unseren verehrten Malererfinder und Freund: ich erhebe mich von meinem Sitze und toaste auf unseren Roroschkin, diesen Lionardo unserer Rasse, das gotische Genie, den Künstler jener letzten und jüngsten Dimension, in die wir eben eingetreten sind. Wir, die Beweger und Überwinder von Zeit, Logik und Denken ins höhere Denken! Vivat Roroschkin!

Sehr gut, meine Damen und Herren. Nun bitte ich wieder um etwas Ruhe. Ihre Zustimmung für mich und Ihr Jubel für Roroschkin freuen mich. Sie sind mir ein gutes Zeichen. Mag der Widerhall aus unserer fünften Dimension auch das Durchschnittsgemüt des heutigen Geschöpfes unserer Kultur betäuben, ich bin glücklich, daß ich doch wieder einen Takt sehe, der mit eisernen Klammern die Ichs umfriedet. Umfriedet! Die Kultur unserer Dimension ist sozusagen hochaufgeschossen, vieles, das sich der Djunglemensch organisch erhalten hat, wird von uns jetzt nachgeholt werden. Die Hauptsache ist, daß wir über die Beilegung dieses Versäumnisses einig sind. Wir müssen physischer werden – und schon sind wir es. Der Takt fliegt uns zu,[141] die Pace legt sich uns ins Schreiten. Noch gibt es Gelegenheit, noch können wir stark und glücklich werden. Ich verglich einmal den Laut aus unserem Kulturleben dem fernen unartikulierten Schleifen von Füßen vor den Vitrinen, Bälgen und anderen Velleitäten eines Museums. Aber ich höre das Signal. Wir geben eine Parole aus, scharen uns um den neuen Menschen, fügen uns langsam aber zunehmend aus allen Teilen der Weltwandelgänge in eine neue Pace. Kurz, wir geben diese Pace aus und verfestigen uns in unserem Phantoplasma. Neue Menschheitsgüter sind im Anmarsch. Es ist die höchste Lust, die Pace auszugeben!

Und um die Lust handelt es sich doch wohl, und wie ich von ihr ausgegangen bin, so kehre ich zu ihr zurück. Sie ist der Punkt, das Leben an und für sich, das Element aller Dimensionalität. Ihr Wesen ist in uns ein Spiegelapparat. In fünfmaliger Endlichkeit brechen sich ihre Strahlen. Denn jede Bewegung einer Dimension zu ihrer nächsthöheren ist eine rückbezügliche. Und sind nicht alle Anschauungen und Stufen der Beobachtung, ob sie jetzt im Phantoplasma des paradoxen Menschen oder jenem des Djunglemenschen wirksam sind, oder in jenem Phantoplasma, daß wir mit seiner vollständig anderen Ursächlichkeit Traum nennen, ein mehr oder weniger verschränktes System von Spiegeln? Alles was gespiegelt, bis ins Unendliche gespiegelt wird, alles, dem zu Zwecken Raum und Zeit und Höheres gebildet sind, ist die Lust. Ich habe sie in barbarischen Kulturen gefunden, reichen Systemen der Physis mit einer gebundenen Pace, und finde sie in der asiatischen Intellektkultur, zu der wir uns zählen. Über ein Primat kann hier die Entscheidung nicht gefällt wer den. Kultur ist Kultur und als solche unvergleichbar. Die Idee der Entwicklung ist erst innerhalb unseres Phantoplasmas gegeben. Keine andere Kultur wird den Fortschritt zugeben oder auch nur fassen können; es sei denn, daß sie verderbt und entselbstet ist. Nur das eine Bezeichnende ist gewiß: jene Kulturen sind physisch, diese ist intellektuell. Das Spiegelprinzip, die Beobachtung erstreckt sich bei jenen, welche die Tiefe und die Ferne nicht kennen, auf das nicht ins Innere gegliederte Äußere. Die Neugier ergötzt sich als Grausamkeit. Unsere Vivisektion aber heißt Wissenschaftlichkeit. Wir gehen in die Tiefe, kommen in die Dimension der Zeit, Bewegung und Schnelligkeit, und wenden uns gleichsam in der letzten Dimension des Paradoxen wieder nach außen: wir sind scheinbar positiv und physisch, scheinbar primitiv an Anschauung und schlichtdimensional geworden. Die Wahrheit ist, daß wir erst jetzt wieder zu einem endgültigen Ergebnis in[142] unserer intellektuellen Entwicklung gediehen sind. Der Geist ist tot; es lebe der Geist! Der Geist – – –

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 129-143.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon