XX

[143] Hier wurde ich von Checho gestört. Ich erhob mich von der Matte und meinem Lager aus Palmstroh, trat vor die Türe und sah in die gleißende Vormittagssonne. Draußen stand Zana. Ich blickte sie ruhig und mit kalten Augen an. In der Ruhestellung erschien ihre kleine Gestalt mager und unschön. Sie konnte mir nichts anhaben. Ich hatte meine Seele verloren, sozusagen um einer Djungleseele willen aufgegeben; nun hatte ich sie wiedergewonnen. Ich hatte meine Pace in mir; ich wußte, da draußen, ungefähr wo die Sonne seit morgens herkam, wartete eine Gesellschaft befrackter Herren und pompöser Damen auf mich. Ihrer Art konnte ich mich anschließen. Wir hielten Seancen, versetzten uns in die Trance und konzipierten den neuen Menschen. Wir hatten die Pace, die neue Pace, und jeder einzelne von uns hatte das Heil. Das Gift der Analyse war zu Räuschen gewendet. Alles Glück der Zukunft mußte darin liegen, daß man mit den Trieben seiner Neugier in Frieden lebte ...

Die magere Gestalt der braunen Tänzerin rührte sich nicht; auch dann nicht, als ich, aus der Türe tretend, mich an ihr vorbeizwängen mußte. Sie sah mich mit flaumigen Blicken an. Während ich mit einem plötzlich emporbrausenden Energiestrom meinen Blick streng und zwingend auf die schmalen firnisbraunen Ovale zu stürzen suchte, die sie mir tierisch wie eine elastische Kraft entgegenhielt, und ich vergeblich gegen diesen verfilzten Blick aufzukommen suchte, drängte ich sie behutsam mit der Hüfte beiseite. Da geschah etwas Unerwartetes. Sie lehnte sich mit dem ganzen wesenlosen Gewichte ihres leichten Körpers gegen mich und versperrte mir den Austritt, stemmte sich mit ihren kräftigen Muskelchen dagegen, das ganze Persönchen lang Jauchzen und Triumph wie ein kleines Raubtier, das zur Übung seines Spieltriebes jede entgegenkommende Bewegung bereitwillig als Aufforderung deutet. Jenes abtötende Gefühl, der Schmerz der Beherrschung, befiel mich wieder wie damals, als wir den entzückten Müttern zuliebe die Anhänglichkeit ihrer Bengels duldeten. Die Unkraft dieses Angriffes, der mit einem Bruchteil des Elans, den ich selbst als gegenwirksames Mindestmaß hätte verwenden müssen, erfolgte, benahm mir meine neugewonnene Energie. Wir sind der Kleinheit einer Aufgabe nicht gewachsen, weil wir uns Schwierigem angepaßt[143] haben. Wäre hier Luluac selbst gestanden, ich hätte mich besinnungslos auf ihn gestürzt, so blitzschnell und schlagsicher waren meine Fäuste, in die Wut das Blut gepreßt hatte. Die Gefahr hätte ich in diesem Augenblicke sehnlichst gewünscht und ohne Umschweife ins Auge gefaßt. Das Ärgernis aber fand mich schwach und verlegen. Ich gab nach und zog mich in die Hütte zurück, wo Checho an unserem Gepäck hantierte.

Aber was war das? Kaum sah Zana, daß ich den Kampf aufgab, als sie sich trotzig wie ein Gassenjunge in den Nacken warf und den Dingen ringsumher Fratzen schnitt. Es galt nicht mir, es galt den Dingen, die es mitangesehen hatten, wie ich sie beleidigte. Mit feiner Wut reagierte sie auf die Erniedrigung, die in meiner Ablehnung lag. Nun würde ich sie versöhnen, wußten wir beide. Und lächerlich, wie die Situation war, fiel auch die Sühne aus, rachesüchtig frischte ich den bitteren Humor des Augenblickes auf. Hurtig griff ich nach einer der großen Bouteillen Eau de Cologne, die Checho soeben aus einem Pack des Holländers zwischen Wäschestücken herausgeschält hatte. Der Zerstäuber saß noch von Rio her daran. Ich drückte den Ball und sprühte das Zeug dem Mädchen gerade ins Gesicht. Und nun schien es, als ob Zana doch noch ans Ziel ihrer Sehnsucht gelangen würde. Sie wollte etwas Gutes erfahren und sie erfuhr es. Als sie die Kühle des Äthers auf ihrer Haut spürte, erschrak sie, schrie leicht auf und trat Rückzug gegen die Türe hin an. Aber das kühle Feuer ging in ein wohltuendes Prickeln über. Ein Sturzbad von Kühle war auch für eine hartgesottene Tropenbewohnerin keine üble Sensation. Sie hielt die wohlriechenden Hände vor die Nase und schnupperte den fremden, blütenhaften Duft mit verständigen Zügen ein. Einen Augenblick später hatte ich sie wieder auf dem Halse. Ich mußte mich ihr mehrmals entwinden und hüllte sie von allen Seiten in einen tauigen Duft, wie sie, ausweichend und nach mir greifend, das Gesicht schützend gegen die Brust drückte. Schließlich riß ich den Zerstäuber samt der Kapsel weg und duschte sie in schiefen, schleunigen Quellgüssen mit dem letzten Inhalt der Flasche. Lachend zerrten wir uns beide über das Gepäck und die Strohlager der Hütte hin und her. Sie faßte mich beim Rocke, beim Arme, und suchte mir stürmisch wie ein Mannsbild das Gelenk auszudrehen. Sie mühte sich, eigensinnig auf die Zehen gestemmt. Immerhin, es schmerzte, so daß ich böse wurde und rauh nach ihren eigenen Gelenken griff. An diesen hielt ich sie kategorisch im Abstande von mir weg. Sie wand sich, verzog ihr Gesicht und ringelte den nervigen, geblähten[144] Hals mit dem Kopfe über die Achseln, Brüste und den Nacken hin nach meinen Pulsen, schob die bloßgelegten Kiefer, tragend wie eine Viper, über den eigenen Leib hinaus gegen die Angriffsstellen vor. Jede Bewegung ihres Systems, das unabänderlich auf die beiden Berührungspunkte an ihren Knöcheln eingenietet war, kostete sie heftigen Schmerz. Hals und Kopf quollen über den Achseln förmlich vor wie über den Rand eines Gefäßes, brodelnd vor Wut und Haß wie das Schaumgekröse einer giftigen Flüssigkeit. In diesem Augenblicke hörte sie auf, Mensch zu sein. In ihren Gebärden war das dämonisch Formlose und Voraussetzungslose der von engen Instinkten bewegten Masse. Sie war ein wesenloser Körper mit einem einzigen stumpfen Bewußtsein, der Selbsterhaltung. Als in ihren entstellten und zu unmöglichen Vorstellungsformen zerlegten Leib plötzlich das jähe, züngelnde, flatternde Leben kam, war es so gespenstisch, wie wenn ein faltiger Lumpen wutentbrannt über sich selbst hinausstürzte. Es lag etwas von dem Haß des Frühorganischen und Elementaren in ihrem Treiben, ein katzendumpfes Reagieren, gleichsam ein linienlanges, direktes Dasein, eine formlose, primitive Seinserstreckung. Ihr Kopf wawerte erbost und nach Auswegen suchend zwischen den Achseln, während ich durch den schmerzhaften Druck auf die Nerven ihrer Handgelenke die Muskeln ihres Rumpfes steif und schachmatt erhielt. Es dauerte eine Weile, ihre Augen versanken in einer Art von Überanstrengung oder höchster Wonne in bläuliche Schatten, als sie diese plötzlich weit aufriß und mit einem namenlos schmachtenden Blicke auf mich richtete. Zugleich fühlte ich ihre Muskeln erschlaffen. Sie seufzte tief. Ihre Knöchel lagen willenlos in den Ringen meiner Hände, an deren Innenflächen ich es prickeln fühlte. Unter der glatten Haut des Mädchens schmiegten sich milde die strähnigen Sehnen und zarten Knochen des Armes in das sensitive Fleisch meiner Daumenballen. Ich stand von Entzückung ergriffen. Aber noch immer lauerte es hinter ihrer Süßigkeit wie eine Drohung, mir mit einem Biß an den Bauch zu springen, und so hielt ich sie von mir ab, wie sie so zu mir herstrebte. Checho stand schräg hinter meinem Rücken über das Gepäck gebeugt; ich sah ihn nicht deutlich; nur ein unscharfes und gebrochenes Bild fing sich von ihm am äußersten Ende meines Sehfeldes. Trotzdem wußte ich genau, daß er uns beiden den Kopf zuwandte. In seinem Gesichte mußte ein Lächeln liegen, das Unwillkommenes ausdrückt. Ich spürte dieses Grinsen mir im Nacken brennen. Meine Reizbarkeit war in diesem Augenblicke peinlich und ich fühlte mich geniert. Aber da war ich auch schon, bevor ich noch einen[145] Entschluß gefaßt hatte, zurückgesprungen. Ich hatte zugestoßen. Zana taumelte gegen die Türe. Ich brach zurück, Chechos gebückte Figur floh in meinen Sehkreis. Da war das Lächeln, peinlich und neidvoll. Zana schrie auf. Hinter ihr auf dem lehmgelben Grunde des Türausschnittes stand ein hoher Schatten. Slim bückte den Kopf, trat ein und schob Zana unwirsch vor sich her. Sie zeigte sich bockig, er aber schlug eine Lache auf. Ein paar Worte bewirkten, daß sie sich an die Wand drückte. Slim stand hart und hoch im Raume und füllte ihn mit einem großen, kalten Dasein aus.

»Morgen reisen wir«, sagte er ruhig und stellte sich neben Checho zum Gepäck. »Das Luder kommt mit. Sie weiß es schon.«

Lieblich wie Entspannung legte es sich über mich. Ich sah auf Zana. Ihre braunen Ovale schaukelten mich elastisch an wie Tierblicke. Wie ein Schleier umwand mich das Grauen der Hoffnung.

Eine Viertelstunde, nachdem Slim die Indianerin weggeschickt hatte, schritten wir durch das Dorf. Vor Kelwas Hütte fühlten wir uns angehalten. Aus dem umfriedeten Vorhof ertönte Lärm und Zanken. Eine spröde Rachenstimme hatte die Führung. Hier war nicht alles in Ordnung. Auch sonst zeigte sich an den Männern, die auf den Wegen des sonnversengten Dorfes dahinschlichen, eine gewisse Ducknackigkeit. Die Weiber hatten ihre reizende Demut abgelegt und schalteten mit öder Gleichmütigkeit um das Wohl der Familie. Das Leben schien um einen Grad gewöhnlicher und leerer; der Nimbus des Exotischen war gefallen und ich spürte eine kräftige Gleichgestelltheit mit dieser mich sonst beherrschenden Umgebung. Ha, hatte ich endlich den richtigen Ton in mir angeschlagen und die eigene Pace gewonnen? Stellte sich endlich die alte Siegerlaune ins Gleichgewicht und würde ich nun dennoch zu meinen Eroberungen gelangen? Morgen brechen wir auf! Nun, da ich wieder mit einem Bein in der Ferne, im Reisen, in seinen Mühen und seiner Arbeit stand, erwachte mein gutes Selbstgefühl. Die Weibergeschichten waren abgetan – was etwa noch Angenehmes von dieser Seite zu erwarten war – ich dachte an Zana und war fröhlich gestimmt – konnte als wünschenswerte Zugabe mitgenommen werden. Denn nun ging es wieder los. Los, los, los! Vielleicht entdeckten wir den Schatz – einen richtigen Schatz. Und dann wartet auch ein Abenteuer nach dem anderen fidel auf uns. – Also, was sagte Slim da zu dieser Xantippe von Künstlersgattin? Ich stieß mit dem Kopfwirbel in die Richtung des Lärmes hin.

»Jerusalem!« schrie Slim auf, »das Nest ist verkatert! Hier sehen Sie den originären und wirklichen Katzenjammer. Wenn dieses Katzenpack[146] einmal in vollster Seligkeit dahingesponnen hat, dann kollert's ihm den nächsten Tag genau so im Rückenmark wie dem dekadentesten Boulevardier. Auch hier ist die Aufnahmsfähigkeit für das Glück nur eine beschränkte. Sie werden noch Sehnsucht nach der gemäßigten Zone kriegen, Johnny. Das wirkliche Glück, das der Organismus braucht, spiegelt sein Bewußtsein, und sei es noch so niedrigstehend, nicht wider. Darüber und über seinen Konsum ist nichts bekannt. Auch der Katzenjammer ist eine Art Lebensfreude. Die Demut und die Selbstverachtung und die Krankheit sind zur Befriedigung just so nötig wie die geraden Kräfte. Diese Kessel- und Röhrensysteme aus Zellgewebe, die Sie da herumunken und tuten und aus allen Löchern der Qual des Lebenmüssens pfeifen hören, sind heute ungefährliche Leute. Ich habe damit gerechnet. Männer und Weiber tauschen für eine Weile ihre Reize – es liegt vielleicht eine weise Regel aus dem Haushalt der Natur dahinter verborgen. Wie gesagt, ich wußte, daß es so kommen würde und habe meinen Plan gemacht. Heute sind sie mürbe. Heute bekommen wir die Expedition zusammen – und Zana geht mit. Wenn wir bis morgen vor Tagesanbruch nicht aus dem Dorfe raus sind, wird es uns übel bekommen. Denn gestern abend – hätten wir eigentlich verspielt. Es war nicht nötig, daß Sie Purzelbäume schlugen. Sie haben uns lächerlich gemacht. Sagen Sie, was ist Ihnen eigentlich eingefallen? Ich glaube, Sie vertragen das Mandioka nicht?«

»Nun, da irren Sie aber gründlich«, platzte ich ärgerlich heraus. Zuerst hatten seine Worte meinen Humor geweckt. Seine Ausdrücke für eine Erscheinung, die mir menschlich nicht fremd war, schienen zutreffend. Aber daß er damit gerechnet hätte, glaubte ich nicht. Das war aufgelegte Prahlerei. Jedenfalls war er schlau, es so auszulegen. Ich durchschaute ihn. Er war smart, der Amerikaner. Sein war die Tat, die kräftige Aktion, mein aber waren Spürsinn und das aufgeweckte Bewußtsein. Er hatte eine Menge Ideen geäußert, die von mir waren; er war beeinflußbar. Weiß der Kuckuck ... Er verstand es, sich einen Anschlag in die Hand spielen zu lassen und dann weiter zu konzentrieren. Ein bißchen beklemmend war es. Soll man, während Slim sich für meine Idee begeistert und mir die Bedenken durch den Kopf schießen, mit einem Empfindungsresultate enden, das nahe an die Verachtung Slims streift? Nein, es empfiehlt sich, auf kleine Genugtuungen zu verzichten. Vor Größenwahnsinnigen und Plagiatoren verleugnet man seinen Selbsterhaltungstrieb. »Was glauben Sie wohl«, sagte ich, »ich bin Senior einer deutschen Burschenschaft.[147] Mensch, Sie wissen nicht, was ein solcher Kerl vertragen kann. Allen Ernstes; ich nehme solche Reden krumm. Sehen Sie denn, ich bin treuherzig: bitte, lassen Sie das. Kleine Beleidigungen sind schwer zu übergehen. Also, wenn wir gut Freund sein sollen –«

»Well«, sagte der Amerikaner und fügte wie beiläufig hinzu, während er sich Mühe gab, über die Strohpalisade in Kelwas Hof zu blicken, »Selbstpersiflage oder Selbstübertreibung sind auch eine Methode, um eine neue Situation zu überbrücken ... Übrigens schwört der Dutchman, der auch von keiner trinkschwachen Rasse ist, in ganz der gleichen Weise auf seine Gurgel. Und nun sehen Sie sich den Kerl mal an. Heute nacht hat er sich verpflichtet gefühlt, den Indianer zu spielen. Er hat im Djungle irgend etwas angestellt. Zana scheint irgend etwas dabei zu tun gehabt zu haben; aber – –«

»Van den Dusen?«

»Yes, Sir. Aber das weiß ich: das Mädchen rührt mir keiner an! Ich habe eine Patrone für ihn im Lauf!«

Slim hatte breite Knochen und ein solides Gestell. Was geschah, wenn ich ihm an die Kehle sprang? Ich habe gegen Drohungen nichts einzuwenden. Aber Abgeschmacktheiten und Übertreibungen gehen mir wider den Strich. Nun konnte ich einem Unvorbereiteten, auch wenn er kräftiger war als ich, mit der nächsten Bewegung den Kopf eingeschlagen haben. Slim, Slim, das war nicht nur unverschämt, das war auch dumm. Im Grund gab es ja kein Mittel gegen mich, sobald ich mich ernst nahm – »Ja, Donnerwetter«, rief ich, »was ist denn los mit ihm? Wo ist er denn?«

»Er liegt in seinem Bau und ist lebensüberdrüssig, denn der Djungle hat ihn nächtlicherweise geschunden. Vielleicht war es auch das Weibsbild. Er ist verrückt. Wir wollen ihm nachher einen Besuch abstatten.«

Da hatte mir Slim seine Überlegenheit kurzerhand klargemacht und das Mädchen verboten, bevor ich noch Atem geschöpft hatte. Und jetzt war er plötzlich vergnügter Laune und beantwortete die Zurufe Kelwas, der uns inzwischen bemerkt hatte, mit Witzen. Beide unterhielten sich drastisch, während wir in den Hof eingelassen wurden.

Die Bildwerke, die hier herumstanden, lenkten mich ab. Der Hundegenius mit seinem langschnauzigen süffisanten Gesichte – es war in der Tat ein Gesicht – beroch noch mit der gleichen Schleckrigkeit einen Liebesakt und das Leben. Die leidende Kreatur daneben schien mir bekannt. Es war offenbar ein Puma, der sich in Hunger oder Geschlechtsnot verzehrte. Sein Unterleib war sackartig gebläht, die[148] Kopf- und Schulterteile waren mager. Sein Maul war bis zu den Speicheldrüsen jaunend aufgerissen und gen Himmel gestreckt, dünn gewölbt wie ein Vokalzeichen. Es beherbergte einen markerschütternden Schmerzensschrei. Neben den Tierbildern machten sich die gewohnten Räckeleien von Leibern breit, Gestaltungen von zwei und drei ineinander gepfropften Akten. Ich mußte Slim ansehen. Er sprach, vor den Tafeln stehend, lebhaft mit Kelwa und klopfte ihm auf die Schultern. Da kam mir eine Idee. Hier stand er wohl und begeisterte sich für das Ganze, weil er einen Teil begriff? Wer konnte denn diesem Seelenleben, diesem so grundverschiedenen Phantoplasma, dieser nach schweren Umwälzungen überlebten Art von Anschauung in die Nähe kommen? Es war eine Verzweiflungstat, gottverdammte Dialektik, das war es! Vielleicht machte das Blut, das Blut, das durch das Hirngebirge rieselt, etwas aus. Wer war nun der eigentliche Maler? Dieser internationale und raffiniert erfahrene Abenteurer, der das Bewußtsein dieser Anschauungsformen motivierte und sich eigentlich schon auf einer Retourkutsche befand, oder Kelwa, der Eingeborene, der einfach malte, vermöge des Kontaktes zwischen seinem Hirn und seinem Handmuskel?

Ich starrte auf dieses Nebeneinander von Farben, das sich wie ein Rätsel im letzten Augenblicke, da man's zu fassen glaubt, verwirrte. Und plötzlich schien es zu meinen Gunsten verschoben. Der Eindruck von Wirklichem schnellte aus der Tafel, und als ich soweit gekommen war, hatte ich zum zweiten Male das Gefühl der Wandlung. Sah ich mit dem Rassenbewußtsein eines Indianers? Eine Formenwelt eröffnete sich mir, die technisch tief stehen mußte. Aber in ihrer Deutung war das Walten der Wesen nicht weniger erklärt, denn in der verwickeltsten plastischen Gruppe. Hier war alles entsprechend und befriedigend, restloser denn je ein Versuch der Natur, heroischer gleichsam als das Urbild. Alles war: Bild. Ja, gab es überhaupt einen Fortschritt der Technik oder war es nicht vielmehr das geänderte Bewußtsein, das eine geänderte Anschaulichkeit nach sich zog? Anschauen, beobachten heißt wollen. Wir unterziehen uns einer großartigen Suggestion. Das Wissen von Formen und Dingen ist vor der Wahrnehmung da. Im wesentlichen liegt allem das undimensional Gestaltete zugrunde. Was ist der einzelne Mensch? Eine Symbiose von Tieren. Dieser Kelwa besaß ein Phantoplasma, das seiner Art von Jägerleben entsprach. Seine Art Augen heulten und schnupperten in meinem Kopfe wie Hunde, für sie lag das Menschliche in so wohlgefälliger Häßlichkeit ausgebreitet wie etwa[149] auf diesem Bilde. Hat man den Hund schon gefragt, wie die Welt aussieht? Würde er die Frauen Lionardos als Menschenporträte erkennen und würde er überhaupt Verständliches darin vorfinden? Wohlan, ich votierte für Kelwas Sehen. Was wir aus dem Sein analytisch herauskriegen, ist nur eine Synthese dessen, was wir zu unserer Lust brauchen. Kelwas Leben ist ein vollständiges System – eine Kultur. Kehre ich in der von mir erfundenen fünften Dimension gelegentlich zu ihm zurück, gut, so ist mir das Leben nach dreißig Generationen wieder einmal Jagd. Ich sehe Mensch und Tier unter der verwandten Form – denn die Form ist ein Vorwand für meinen Lebenswillen. Alle Lüste dieses Daseinszustandes versammle ich in dem Blicke, mit dem ich sie beschenke. In meiner Dimension ist eine enthalten, die Entwickelung heißt, das Substitut der »Zeit«. Suchen wir der »Zeit« ihre Kunst. Denn jede Dimension habe ihre Kunst. Die Musik ist das Undimensionale, der Punkt, das Sein an sich und der springende Punkt: die Lust. Wir haben ja jetzt Gott sei Dank entdeckt, daß die Lust auch bei Disharmonien nicht aufhöre und daß sie mit einem Worte allgegenwärtig sei. In der ersten Dimension haben wir die Kunst der Linie, die Architektur. Sie ist bei den frühesten Völkern zu Hause. Die Schwerkraft ist die Urlinie. Hat man nicht durch alle Zeiten geahnt, daß die Architektur der nächste Blutsverwandte der Musik sei? O wie sich alles klärt!

Kelwa ist ein großer Künstler, denn er gibt durch seine außerordentliche dimensionale Reinlichkeit das sinngemäße Weltbild wieder. Ich werde seinem braunen Weibe den Hof machen. Wer die Liebe aus diesem Quell schöpft ... Es ist begreiflich, daß Kelwa den geschärften Blick fürs menschliche Prototyp hat! Wie sie herübersieht! Es ist die Rührung selbst in ihren Augen. Er muß, Konterstimmungen abgerechnet, ein glücklicher Gatte und Künstler sein – –

Mit kühler Studienlust fraß ich mich in die simple Symbolistik der Bilder ein. Der schreiende Puma in seiner Leibesnotdurft mochte ein Stammeszeichen sein. Ich bemerkte ihn in blauer Tätowierung auf dem Bauche von Madame Kelwa. Ich schlug mich in ihre Nähe und wies, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, mit stummem Finger und übertrieben deutenden Blicken auf das, was an ihrem Leibe mein Interesse anzog. Ich frug nach dem Puma. Da ereignete sich eine höchst peinliche Szene. Das Weib warf sich plötzlich, mit einem Ausdruck unnennbaren Grauens im Gesicht, rücklings auf den Boden und blähte bei gespreizten Beinen den bemalten Körperteil zu gespenstischem Volumen auf. Es war, als ob der gesamte Unterleib[150] erigierte, der Bauch näherte sich in einer Art magnetischer Elevation meiner Fingerspitze. Aber diese Nähe war, wie ich hinterher nach der Lösung des Kontaktes begriff, nur eine eingebildete. Mein Finger wurde nicht angezogen und festgehalten, ich hielt ihn, trotzdem ich das Gegenteil erlebte, freiwillig auf sein Ziel gerichtet. Das Fürchterliche, ja nahezu Lächerliche an dieser Szene war, daß ich während der ganzen Dauer der Faszination, die von meinem Finger auf das röchelnde, schielende Frauenzimmer und umgekehrt ausging, meinen schrägen Finger nicht um einen Zoll von dem Bauche abwandte. Der Dämon einer solchen Sinnlichkeit zwang mich zu einem maßlosen Erstaunen, meine Verwunderung kannte keine Grenzen und war schwer wie ein Alpdruck. Als ich zu mir kam, mußte ich tief und unbändig seufzen. Daß ich den Finger nicht aus seiner Starre rührte, war seltsam. Aber ich erinnerte mich in jenem Augenblicke gar nicht an mich, obzwar ich mich über die Tatsache selber, daß ich so unbewegt dastand, nicht genug wundern konnte. Ich war mir vollständig klar darüber, daß ich es nicht tun mußte, und daß es keine irgend wie geartete Kraft auf Erden gab, die mich dazu zwang. Um so rätselhafter bleibt mir dieser Vorgang, den ich unter jener Sonne mehrmals erlebte. Ist unser Wille so schöpferisch, daß er reale Wirkungen eingebildeter Kräfte in die Beobachtung rückt; oder verschleiert unser Bewußtsein redliche Wirkungen der Natur mit Hilfe eines bildlichen Willens? Ist unser Wille Urheber oder Begleiterscheinung? Dieser Gedanke tauchte damals zum ersten Male in mir auf. Er verschwand wieder. Er hätte das gedankliche Gesamtresultat der letzten Tage vernichtet. Die Sache war die, meine Besinnung und mein Entschluß waren theoretisch; praktisch dagegen hatte ich in jenen Sekunden rein auf mich vergessen. Ich nahm die Wirkung eines Posenwechsels in Gedanken ruhig vorweg; in der Tat aber war ich, mit dem Finger schräg auf den gewölbten Bauch vor mir weisend und mit Augen, wie Saugnäpfe starrend, dagestanden. Ich war geistig frei; mein Körper war gebannt. Und dann war ich wieder im praktischen Besitz meiner Kräfte. Noch stand ich still; mit einer leisen und nicht ganz zweifelsfreien Neugier nahm ich mir vor, abzutreten – jetzt! und bevor ich es dachte, sank meine Hand, eine Spannung ließ in mir nach; doch ermangelte allen diesen Empfindungen etwas, das ich Ernst nennen möchte. Da war alles bedacht und seelisch motiviert, da war nichts von der illegitimen Einwirkung geheimer Kräfte. Nur das Verhalten der Indianerin widerrief die Gewöhnlichkeit des Vorgangs.[151]

Sie lag drei Schritte vor mir. Ihr Bauch stand da wie eine Schwangerschaft, eine große reife Frucht, geschwellt, gleichsam vielleicht von meinem Finger angestochen. Als ich zurücktrat und die Hand fallen ließ, schwoll er sichtlich ab. Der Kopf der Frau mit den stellenweise tonsurartig ausgerupften, sonst schulterlangen Haaren war zurückgebogen, aber seine Augen kletterten kurz unter den Lidern speergerade auf mich zu. Der Mund zwischen den vollen Backen stand offen, ich sah in seine violette Höhlung mit den felsigen, trapezförmigen Kiefern. Ein unregelmäßiges Keuchen drang mit dünnem Knattern an den Schleimhäuten vorbei und brachte schnarchende Geräusche mit sich. Der Leib streckte alle viere vor, mit dem in trüber Sehnsucht blickenden Unterleibe als Mittelpunkt bewegte er sich in den dumpfen, niedrigen Sphären, die ich schon an Zana beobachtet hatte. Während das Gehirn wieder in seine Herrschaft trat, arbeitete sich das menschliche Wesen allmählich ins Lichtere empor, eine berauschende Liebenswürdigkeit und Demut zeichneten sich in die fremdartigen Mienen der Frau ein. Sie rollte sich zusammen und lauschte. Slims und Kelwas Gespräche kamen von hinter der Hütte her. Ich stand ruhig, mit großer Würde, und ließ mir die beschuhten Füße küssen. Meine Hand legte ich in ihr seifiges Haar, ohne Ekel zu spüren. Ich sprach nichts und nickte bloß mit dem Kopfe. Sie schnarrte einiges in ihrer Sprache. Ich nickte wieder. Und nun stand sie auf und entfaltete sich zu einem kleinen, merkwürdig gebauten Frauenzimmer. Der Oberkörper war mager, die Büste flach mit langen Brüsten, die Schultern wie gezimmert, die Schlüsselbeine hervortretend als knochige Ornamente, die Arme mit nach außen gesenkten Unterarmen, in der Ellbogengegend nahe am Körper liegend. Die Hüften aber waren wellig und nicht reizlos. Die Wirbelsäule, vibrierend wie eine gebäumte Schlange, glitt mit einer Schweifung zurück und verschwand in der Doppelwoge von festem, plastischem Fleisch. Das rotblaue Schürzchen aus Beeren und Perlen, das sich verschoben hatte, fiel jetzt mit Zucht über den dreizinkigen Schattenstern.

Sie sprach zu mir, als könnte ich nicht umhin, den natürlichen Ausdruck ihrer unfeindlichen Gesinnung zu verstehen. Vertrauensvoll sah sie mich von unten an. Da gewahrte ich, daß sie große, vollständig braune Augen hatte, die erwärmten. Die Oberlider waren gebrochen wie unsymmetrische Giebel. Unter der Nase prangte unvermeidlich ein zieres Eberzähnchen. Die Folge davon war, daß sie die verkürzte Oberlippe stets offen hielt und ihre guten gelben Zähne wies. Ihr Teint war nicht mehr frisch, aber sanft und samten. Die[152] Babutschen, die aus allen Ecken des Hofes und dem Innern der Hütte sich vernehmbar machten, waren ihre Kinder.

In diese Hütte verschwand sie. Als sie wiederkam, trug sie einen mannsgroßen Schild in Händen. Sie brach ihn auseinander. Da begriff ich unser gemeinsames Geheimnis. Es war jener Schild, den ich tags vorher mitten durchgeschossen hatte. Drei meiner Schüsse hatten ihn getroffen. Er brach entzwei, das obere Teil krachte herab – nun stand meine liebenswürdige Indianerin da und hielt mir den Rest mit unterwürfigem Blicke entgegen.

Sie stand ganz nahe bei mir. Ihr Ellbogen berührte mich an der Hüfte. Ich roch ihre ölige, bronzene Haut, die mit einem fremden, flachschmeckenden Parfum getränkt war, einer Blumensalbe, die ganz zutiefst einen vermischten angenehmen Reiz aufwies, in ihrer stumpfen Penetranz aber abstieß. Es vermengte sich mit dem leimigen Duft ihrer leicht echauffierten Achselhöhlen. Dies war die Ausdünstung eines wilden Tieres oder einer geilen, feuchten Djunglepflanze, kräftig und unfeststellbar wie der Geruch von Protoplasma. Meine Organe weigerten sich gegen ihn. Ich blieb höflich und standhaft am Platze und empfing den leichten Druck ihrer Gestalt. Indem ich an die Gesundheit dieses transpirierenden Fleisches dachte, stärkte ich mich. Trotz der außerordentlichen Magerkeit der Schultern zog sich die Haut glatt und gespannt über das Skelett. Mein Auge tastete über Mulden und elfenbeinartig gemilderte Höckerchen. Und sofort verhielt ich mich passiv, wehrte mich nicht mehr gegen diese Ausdünstung und empfand sie vertraut. Ich stemmte den rechten Arm in die Seite. Er berührte ihren sehnigen Rücken leicht. Sie lehnte sich daran.

»Rulc!« sagte sie in ihrer Schlucksprache. Sie hieß also Rulc. Schnell fuhr sie auf dem Bild ein paar Konturen nach. Mühelos gelang es ihr, sich ihrer leiblichen Identität zu erinnern. Langsam kam ich nach, ihr Finger wiederholte, dem Lauf einer Linie wie auf einer Landkarte folgend. Ich faßte zusammen, sie hieß Rulc, und ich hatte ihr Konterfei entzweigeschossen. Ob es sehr geschmerzt hatte? Sie stand jetzt beinahe in meinem Arm, in einer skizzierten Umarmung, wie ein europäisches Mädchen. »Soso, wunderbar«, sagte ich englisch, weil ich mich nicht stumm verhalten wollte. Und plötzlich begann ich, zu ihr zu reden, obwohl ich wußte, daß sie mich nicht verstand. Ich erzählte ihr, plötzlich voll innerer Ausgelassenheit, daß sie reizend sei, und löste meine Faust von der Hüfte, sie gleichsam zum Nachdruck einer sehr wichtigen Mitteilung in das Fleisch ihrer Taille bettend. Da verspürte ich ein ziehendes Unwohlsein im Nacken. Ein Gegenstand[153] von packendem Interesse suchte mich von rückwärts her nach sich hin zu lenken. Es drehte mir den Kopf herum, da folgte ich aus tausend Gründen. Zuletzt in diesem Bruchteil von Sekunde war wirklich ich es, der mit dieser Bewegung endigte, nicht das andere. Es war eine uralte Bewegung, deren Gründe dem Gefühl nach eine Spanne von Ewigkeiten zurücklagen. Ich erinnerte mich an sie, wie an eine lang vergessene Pflicht. Und ich sah Slims Gesicht hinter der Hütte hervorlugen.

Er mußte den Kopf etwas vorstrecken, denn seine Figur blieb verdeckt; er zog ihn auch nicht mehr zurück, sondern trat vollends hervor. Er lächelte; es schien wohlwollend und konnte böse sein. War er eifersüchtig? Er hatte ein schönes, tiefliegendes, ein wenig hartes Auge. Es war etwas Scham- und Scheuloses in diesem Auge, es war frech, ließ nichts unbelastet, machte nicht Platz, beanspruchte den ganzen Raum. Ich weiß nicht, warum mir dies gerade jetzt auffiel.

Slim lachte flegelhaft und ich erinnerte mich, daß er ein Yankee sei. Er trat herzu, dozierte, und wurde mir so mystisch und unbegreiflich wie je. »Ah, Sie studieren bei Rulc Malerei? Das ist gut, Sie können hier lernen. Lassen Sie sich lehren, alles dies ist elementarer, als was eure Malerei bis jetzt fertig gemacht hat. Kelwa lebt in jenem seelischen Stadium, da man noch Schragen sieht. Die Natur hält keine schönen Reden. Wo aber sind in euren schönen Kunstwerken die Schiefheiten, Einseitigkeiten, Zufälligkeiten? Wer sieht so aus, wie ihr ihn beschreibt, zeichnet, malt? Eure besten und idealsten Künstler sind süßliche Sudler gewesen. In diesen Bildern eines Barbaren liegt die einzige Humanität. Sie erfassen lebendige Form und die Dinge, die wahrhaft dahinter liegen. Denn, Johnny, merken Sie sich eins: Was wir wahrnehmen, sind Entschuldigungen unserer Sinne. Die tieferen Gründe der Reaktionen von Mensch auf Mensch liegen auf einem anderen Planeten als diese Erde ist oder liegen um Ewigkeiten von Zukunft hinter den Scheingründen verfrüht. Und den Urgründen ist Kelwa näher als Sie und Ihresgleichen – er hat die Zeit und die Entwicklung noch nicht entdeckt.«

In diesem Augenblick fand ich ihn unausstehlich. Gedanken, die ich zart und zweifelnd in mir trug, gab er einen derben Ausdruck. Er fuhr fort. »Sie werden dies noch nicht verstehen, nach diesen wenigen Bruchstücken meiner Anschauung. Ich habe Ihnen zwar schon davon erzählt. Mittlerweile ist aber in mir ein ganzes System entstanden. Wenn sie wollen ...«[154]

»O doch«, unterbrach ich ihn gierig, »ich verstehe schon. Dies ist ... ich will sagen, in einer Manier von Landkarten gemalt. Aber wollen Sie behaupten, daß ich so aussehe ... scheußlich, einfach scheußlich«, mußte ich lachen.

»No, Sir«, sagte Slim, »das ist es eben. Sie verstehen nicht über, beziehungsweise unter den Horizont Ihrer Sprache zu blicken. Unter Sprache verstehe ich jetzt das gesamte bildliche Ausdrucksvermögen. Die Sprache des Indianers ist seine Malerei; auch seine Wortsprache ist nur malerisch, nicht begrifflich. Die avancierte Sprache und Philosophie sind eins. Ist es Ihnen entgangen, daß die Welt auf deutsch bereits anders aussieht als auf französisch oder englisch? Die avancierte Sprache reagiert in der fünften Dimension. Darüber haben wir schon gesprochen, wie? Übrigens, was Sie da über die Landkarte gesagt haben, ist richtig, es stammt ja von mir.«

»Nein«, sagte ich verwundert, »das tut es nicht. Denn ich erinnere mich ganz deutlich an die Entstehung des Wortes. Ich könnte schwören, daß es von mir stammt. Ich habe es im Verlauf von Sekunden erobert, immerhin durch Beobachtungen erobert.«

»So?« sagte Slim gedehnt und sah mich lächelnd an. Er war maßlos eitel. Er schien mir wie ein Vampir, der die Gedanken und Ideen der anderen an sich saugte. Wiederum fiel es mir bei: Wer war hier der eigentliche Maler? Kelwa, das naive Genie, oder Slim, dem es vermöge seiner eigenen Durchdringungssphäre seines vielrassigen Ichs möglich war, in die Gedankenläufe anderer einzubiegen?

»Wie meinen Sie?« sagte Slim feurig. Seine Augen ergrauten in Verwunderung über meinen Widerstand. Er wurde nachdenklich. »Oh, nichts«, sagte ich schnell. Aber ich bemerkte, daß ich doch sehr gegen Kelwa war. Darum fing ich zu sticheln an; denn mager, abgöttisch mager fand ich seine Gestalten. »Zugegeben, es ist, physiologisch genommen, ein eigentümlicher Menschenschlag; meinetwegen eine Hochrasse; ihr reproduzierender Künstler ist auch ein Teilchen wahrhaftig in seinem Sehen. Aber diese Übertreibungen? Es ist unbeholfen, um Gott nicht künstlerisch, bitte sehr, nicht künstlerisch!«

Slim fuhr sich durch seinen guterhaltenen Haarschopf. Es war nicht auszuhalten mit mir! Rulc verschwand in die Hütte. Und vor uns bewegte sich ebenmäßig, klein und gelb der indianische Künstler, gerundet wie eine Statuette, voll, wie ein gutgenährter Knabe, mit einem zierlichen Wanste und tadellosen Füßen und Händen. Dies war der Mann, dessen Ideal im rachitischen, verrenkten Körper gipfelte.[155]

Slim ließ seinen Haarschopf fahren. Ich war sicherlich noch dümmer als ich aussah. Er schien eines gewissen Einwandes von meiner Seite gewärtig, legte seine große Hand auf die Schulter des Männchens und sagte:

»Künstler, nun ja, Künstler brauchen nicht selbst ihren Idealen zu gleichen. Künstler schaffen Rassigkeiten, sind sozusagen das Ahnungsorgan einer Rasse. Sie werden das natürlich besser verstehen, wenn ich Sie einmal mit meiner ganzen Lehre vertraut gemacht habe. Künstler sind Maschinen zur Erzeugung neuer – –«

»Phantoplasmen«, sagte ich zufrieden und gelassen. »Ach nein, Phantoplasmen?« machte Slim, besann sich aber sofort und sagte: »Phantoplasmen, doch, das ist gut. Ich verstehe, Phantasie, Plastik. Das ist ausgezeichnet.« Er sah mich aufmerksam an. »Das ist besser als Phantomien. Phantomien ist nämlich das Wort, das ich dafür geprägt habe. Es ist doch merkwürdig, wie man auf dieselben Gedanken kommt, wenn man in der Einsamkeit sich gegenseitig ausgesetzt ist!« sagte er mit steinernem Gesichte. »Man durchdringt sich förmlich.« Ich errötete unter seinem Vorwurf. Seine gedankenvolle, nahezu weise Stirne schien der Ausdruck höchster Ironie. Er haßte mich, weil ich das bessere Wort gefunden hatte.

»Ja«, fuhr er fort, »das ist es wohl. Künstler schaffen Glückstypen und Schicksalsgenüsse. Auch eure rechten Künstler tun nichts anderes, sie schaffen die Glückstypen eurer Zeit. Der Glückstypus eurer westarischen Kultur ist der wissenschaftliche Mensch. Das Schicksal, das euch süß erscheint, ist die Plage der Analyse. Man hat ›Entwicklung‹. Es ist leicht möglich, daß man einmal über die Analyse hinauskommt und wieder zu stationären Typen gelangt, wie der Chinese. Aber hinter diesem – Phantoplasma von der Entwicklung vollzieht sich ewig gleich und unbeirrt das physische Urschicksal, das wir nicht kennen, das wir nur deuten, zu dem unsere Existenzen nur Symbol – wittern Sie die Kunst? – sind, und dem Kelwa durchaus nicht näher steht als ihr – nein, ich will sagen: wir. Durchaus nicht. Habe ich einmal etwas Ähnliches behauptet, so mit einem anderen funktionellen Werte als jetzt; nur bildlich, innerhalb eines Raumgleichnisses. Denn Kelwa hat ohne das Motiv der Entwicklung sein Phantoplasma, seine Rassenglücke und seine Dialektik. Seine Sprache ist unfähig, mich und meine Gedanken auszudrücken. Aber ahnen Sie schon, daß bei ihm das bloße Lustvermögen an den Farbenvorstellungen seiner Bilder genau so zureichende[156] Erklärungen des Urempfindens einschließt wie unsere waghalsigsten Theorien? Er kann niemals denken wie ich und vielleicht – – –«

»– – – vielleicht«, rief ich jubelnd, »ist dieser Kelwa nur eine Ausdeutung des Urempfindens aus Ihrem eigenen Phantoplasma heraus!«

»Glauben Sie?« sagte Slim mit einem Zuge um die Augen, der alles bisher Gesagte förmlich zurücknahm. Meine allzu bereitwillige Zustimmung mochte ihn genieren. Ich verstand, daß er bereits die Einschränkung nötig empfand. »Aber was bewiese das? Daß meine Theorie rund ist, sich selbst als Theorie behandelt, also vollkommen alle Chancen auf Wirklichkeit erschöpft!«

Hier hatte man den ganzen Slim. Einen sublimen Spitzbuben. Intelligenz ist Gaunerei höchsten Grades. Ich sah zu Kelwa hinüber, der ein Gesicht aufbewahrte, das mich ärgerte; die Züge der männlichen Sphinx, des Künstlers. Der Künstler, da war er: eine Mischung aus Idiotenhaftigkeit und Rassenahnung. Ein schweres unverdauliches Widerstreben stieg in mir empor. Und ich dachte: Wer war ich? Der Spitzbube oder der Idiot?

Aus der Hütte zankte eine weibliche Stimme. Kelwa bekam es plötzlich eilig. Slim rief ihm herausplatzend noch etwas nach. Ich wollte doch sehen, sagte ich; ging hin und steckte den Kopf hinter die Matte. Gleich darauf war ich mit beiden Nasenlöchern wieder an der frischen Luft. »Bohemewirtschaft!« nickte Slim. Wir gingen zusammen in die Pampas hinaus.

»Ich bin ein guter Leiter!« begann Slim. Er schien mit einem Gedanken, der ihm schwer nachgehangen hatte, sein Geschäft abgeschlossen zu haben. »So?« sagte ich, »ein guter Leiter, wieso?« Plötzlich fiel mir etwas ein. Funkelnd vor Bosheit setzte ich den Einfall hin, mit der bescheidensten und sachlichsten Miene von der Welt. »Sie meinen wohl ein gutes Medium; das scheint mir auch, Slim.« Slim schnappte nach Luft, denn er hatte bereits etwas anderes sagen wollen. »Ach, Medium«, sagte er mit einer Stimme voller Plage, »warum denn immer diese unoriginellen Worte. Ich sage Leiter, denn es ist etwas Neues und wir brauchen einen neuen Terminus dafür. Übrigens trifft es den Nagel auf den Kopf.«

»Also Leiter. Wie meinen Sie denn das?«

»Sehen Sie, ich meine das so. Ein paar Anhaltspunkte genügen mir, um sofort mitten in ein Phantoplasma – wie Sie das herrlich genannt haben – versetzt zu sein. Sie mokieren sich natürlich darüber, daß ich kein Indianer bin, aber doch schon ein ganzes System[157] über Indianertum zusammengestellt habe. Ist das so merkwürdig? Ich bin kein intellektueller Gauner. Geben Sie mir Kredit. Nein, geben Sie der Sprache Kredit. Ich schaffe Neues, vollständig Neues, mit keinem anderen Mittel als dem der Sprache. Ich brauchte das derbe materielle Erlebnis gar nicht. Ich denke; ich bin spekulativ veranlagt. Und ich habe die erschütternde Erfahrung gemacht – es war die ersten Male eine wirkliche Erschütterung – daß ich die Dinge alle so erlebte, wie ich sie erdacht hatte. Ich habe mein ganzes Leben zwischen vierzehn und zwanzig erlebt, als Seekadett, in eine Hängematte, eine Kabuse, ein Schiff eingesperrt. Damals wußte ich, wie jeder Seemann, nichts von der Welt. Nachher aber, als ich in die Welt kam, habe ich nichts mehr erlebt. Oder vielmehr, immer das Gleiche, immer wieder diese sechs Jahre persönlicher Einsamkeit, immer wieder diesen Inhalt von Erdachtem. Ich habe seither ein wildes Leben geführt, by Jove. Aber, von reifenden Ideen abgesehen, habe ich nichts Neues erlebt. Es war alles schon in mir, bevor ich noch seine Bekanntschaft machte. Ich weiß auch, warum es so ist. Es ist keine Schwäche, wie ich einmal dachte. Es ist eine merkwürdige Kraft, ja, Johnny, eine herrische Kraft, die mich anderen gegenüber oft in Verlegenheit bringt. Die Menschen laufen vor mir ohne eigene Gesichter herum, wie Brocken von meinem Ich. Ich besitze die Witterung, die Beobachtung, die Kombinationsgabe des Jägers. Ich habe aber in meinem Köcher Worte, Worte, nichts als Worte. Und ich bringe mein Wild zur Strecke, unabänderlich – lassen Sie sich sagen, daß die Jagdlust selbst das wichtigste Wild bedeutet, und daß Sie nicht von der Beute, sondern von der Jagd leben. Sie ist das einzige, erste und letzte physiologische Ereignis, und darauf kommt es an. Die Beute ist nur technisch da. An der Tatsache könnt Ihr verhungern – ich lebe von der Theorie. Ihr seid Träumer und beruft Euch auf den Augenschein. Just Ihr habt ihn nicht; Ihr habt ihn nie gehabt. Glaubt Ihr, daß Ihr sehen könnt? Ihr sehet ganz schwächlich. Ich halte mich an die Abstraktion. Ich stehe außerhalb des Lebens – ich denke das Leben, erschaffe es nach meinem Denken. Euch ist gesagt, Ihr sollt Euch kein Bildnis machen, nicht von Euch, nicht von ihm, von nichts – dies war der Apfel der Erkenntnis, der Euch verweigert wurde, eben dies! Ich aber mache mir dies Bildnis und die Realität prangt. Ich wechsle Sein und Denken, der Erfolg ist, daß ich lebe. Als Rest bleibt ein Schatz. Ein Schatz, Johnny, für den jeder andere nur Vorwand ist. Ich floriere, ich stehe hell in Blüte. Mir widerfährt das Wunder, und mein dürrer[158] Stab schlägt aus. Ich erhalte physische Botschaft und höhere Bestätigung meines Denkens: Ich bin auf jenem menschlichen Maximalgrad von Existenz angelangt, der Glauben heißt; welcher Art mein Glaube ist, können Sie vielleicht erraten; ich will es Ihnen auch ein anderes Mal erklären. Nun fordere ich Sie auf zu lächeln, ich werde eine Antithese gebrauchen: ich habe Praxis im Erkennen. Sie sehen in mir das Endglied mehrerer Rassen von Jägern und Abenteurern, von Beobachternaturen. Ich habe wahrscheinlich ein Training von Jahrtausenden genossen – bitte, sofort dürfen Sie reden – ähnlich dem buddhistischer Fakire, die ihren Organismus in einer uns unverständlichen Weise beherrschen und sich nach vierundzwanzig Stunden Totenstarre und Begräbnis exhumieren lassen. Auch ich bin begraben und lebe. Ich bin der typische Lebenslaie; daß ich trotzdem im Leben stehe und erlebe, ist mein Spezialvergnügen, aber es ist unwesentlich. Ich könnte geradesogut in einem Pariser Hotel sitzen und Bücher schreiben oder Bilder malen. Der Jeweilslaie ist der Beobachter, er ist der Schöpferische. Er kann ...«

»Unsinn«, sagte ich; er hielt betroffen inne. »Ich muß zugeben, ich bin Ihren Behauptungen gegenüber hilflos, denn ich konnte sie nicht alle fassen. Ich bin Ihren Anschauungen gegenüber wahrhaftig ein Laie; was folgt daraus? – aber ich weiß trotzdem ganz bestimmt, daß das alles dialektisch ist. Es liegen Druckfehler vor; ich vermag sie nicht alle zu übersehen –«

»Well«, sagte Slim, »also dialektisch, if you please. Das ist gut. Was aber ist nicht Dialektik? Alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft beruhen auf dialektischen Resultaten. Staat, Ehe, Patriotismus. Das sind Dinge, die es nicht gibt. Aber man rechnet mit ihnen. Dialektisch sind die bildenden Künste, sie sind Schönredereien, Lügen, Tricks. Aber darum nicht wertlos, Johnny, nicht wertlos. Sie entsprechen einer gewissen Dimension, ich habe Ihnen das schon erklärt. Euer Empfinden lebt ja in einer gewissen Dimension ...«

»Und das Ihre?« schob ich schnell den Fuß vor.

»Das meine noch über dem Euren. Ich lebe in der Dimension des Paradoxen, des ewig Konträren. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen gestern abend expliziert habe. Oder haben Sie es verschlafen?«

»Gestern abend?«

»Nun ja, gestern abend, nach dieser merkwürdigen Seance, bei der Moki seine alten Kunststücke aufführte. Wir stritten doch darüber, ob er wirklich aufgeflogen sei – was ganz lächerlich ist – oder[159] ob es sich hier um ein suggestives Sehen handelte, das ich Ihnen erklärte. Ich erkenne wohl, daß Sie Ihre ganze betrunkene und gläubige Seele von gestern abend verschwitzt haben!«

»O nein«, sagte ich halbtot, denn kein Gedanke war weit und breit in meinem Kopfe, »ich erinnere mich wohl. Ja, und – und ... da erklärten Sie mir also irgendwie Ihr System, wie ... ja, natürlich, ich erinnere mich schon. Das ist aber merkwürdig.«

»Was ist merkwürdig«, sagte Slim grinsend; »Sie waren sehr betrunken, Johnny, ich weiß. Aber Sie haben verdammt gescheit gesprochen, obwohl Sie mich immer mit ›Checho‹ anredeten, als Sie beweisen wollten, daß der Gott auf und davon geflogen sei. Ich hatte alle Achtung vor Ihrer Beobachtung und Spitzfindigkeit. Sie sind heute wesentlich dümmer. Was ist denn so merkwürdig ...?«

»Merkwürdig, ja, nun, nun natürlich Ihr System. Es hat aber etwas für sich. Ich erinnere mich schon. Sagen Sie mal, habe ich Ihnen vielleicht auch etwas erzählt?«

»Erzählt?« machte Slim und sah mir gerade ins Gesicht. »Ja, Sie haben mir von Ihrer Braut erzählt, jenem spröden deutschen Mädchen, sie ist Soubrette, glaube ich, haben Sie gesagt. Jawohl, darüber haben wir oben im Zusammenhang mit meinem System der Dimensionen und den verschiedenen Phantomien gesprochen. Ich akzeptiere übrigens Ihr Wort, Phantoplasma, es ist besser. Sie haben offenbar darüber nachgedacht. Ich fand es sehr schön von Ihnen, daß Sie mir aus Ihrem früheren Leben erzählten. Ihre Bemerkungen dazu waren durchaus interessant. Und nun fühle ich mich Ihnen gegenüber gewissermaßen verpflichtet; ich möchte, da wir ja nun einmal im Urwalde Freunde geworden sind, nicht, daß Ihnen an mir etwas dunkel sei; Sie würden es, wie es dem Menschen nun eben geht, gewiß ins Schlechte deuten.«

»Keineswegs«, sagte ich, schmächtig an Gefühl. »Mein Physiologismus«, fuhr Slim fort, »ist Geistigkeit. Greifen wir zur Physik, Herr Ingenieur. Um das Fluidum zu erzeugen, auf das es jeweils ankommt, ist es gleichgültig, ob Sie den Körper im Strahlungsfelde des Magneten bewegen, oder ob das Feld am Körper vorbeispaziert. Nehmen Sie die Inversionsströme! All right, das ist mein Vergleich! Ich bewege einmal zur Abwechslung sozusagen nicht die letzte uns faßbare Dimension, das ist die Zeit, sondern führe eine leere objektive Bewegung gegen sie aus. Das Fluidum, das derart erzeugt wird, ist dann ungefähr diese meine Dimension; daß ich in ihr auf alte, uralte niedrigdimensionale Lebensformen zurückgreife, ist eben ihr, wollen[160] sagen, reaktionäres Wesen. Hören Sie ...« und er begann sich über das zu verbreiten, was er seine dimensionalen Theorien nannte. Wir schritten in eifrigem Gespräche in die Savanne hinaus und wieder zurück. Als erst die Hälfte erledigt und geklärt war, standen wir schon wieder an der ersten Hütte. Ich fand bei mir zu allen diesen Eindrücken das lösende Wort, daß Slim eine ungeheure synthetische Intelligenz besitze, aber sich in ihr übernähme.

»Sie sind ein Ursprung«, sagte ich höflich, wie mir's vor Uneigenheit zumute war. Das Gespräch endete, als wir zu van den Dusens Hütte traten. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich wohl ein guter Leiter sein müsse. Irgend etwas muß der Mensch doch sein, irgendeinen Ehrgeiz muß er zufriedengestellt finden. Mein Kopf war während dieser Tage nichts als eine Filiale des phänomenalen Denkorganismus, den Slim in seinem Schädel barg. Er ahnte in diesem Augenblicke meine Botmäßigkeit, behaupte ich, denn plötzlich traf er Anstalten, sich zu revanchieren – dies durchschaute diesmal ich – fühlte sich aber von meiner Höflichkeit geplagt und suchte sich aller lästigen Verpflichtungen zu entledigen, indem er sich mit objektiver Eiseskälte bis ans Herz hinan wappnete. Er sagte nämlich, höchst unlustig und gleichsam als Maßregel, den guten rücksichtslosen Takt unseres Verkehrs festlegend: »Johnny, Sie sind ein interessanter Mensch. Eigentlich. Aber wie kommt es, daß Sie trotz Ihres höheren Intellekts stets mehr Unrecht in Ihren Meinungen haben, als irgendein anderer Mensch von tieferstehender Intelligenz?« Bei diesen Worten richtete er seine Augen geradeaus auf die Hütte Dusens, der dort im Schatten saß und aus einer kurzen Pfeife qualmte. »Es kommt daher, daß Sie ein Deutscher sind und sich auf keine Realität geeinigt haben. Die Deutschen sind stets um einen Grad klüger als andere Menschen auf Gottes Erdboden. Ja ja, sehen Sie mich nicht so hilflos an. Es ist der Natur mit dieser Überlegenheit blutig ernst. Die Natur liebt den Deutschen offenbar, sie gibt ihm Talente, Chancen zu unerhörter Macht und zu Glück, aber er geht daran vorbei. Der Deutsche ist universell und liebt die Nuance; allein die Vorstellung fremder Hautfarben ist für ihn erregend und macht ihn ehrgeizig. Er liebt den Chinesen und möchte am liebsten selbst einer sein, weil er feine Seide trägt und inmitten eines Systems uralter Weisheit lebt. Eines Systems; man stelle sich vor, was das für einen Deutschen ist. Er liebt den Neger, weil er ihn musikalisch ahnt. Er erwartet nichts weniger als die endgültige Veredelung der Welt, herbeizuführen durch die Verschmelzung der Deutschen und der afrikanischen[161] Musik. Und er liebt den Indianer, diesmal mit den besten Gründen. Denn der rote Mann erinnert ihn unter den fremden Rassen am nächsten an seine eigene Art und Mythologie. Aber der Deutsche nimmt nicht, was zu ihm paßt. Das empfände er als unethisch. Er hat eine verfluchte ordinäre Askese im Blute, ein gottverdammtes Stück dieser Sklavenrassen, die in ihm aufgegangen sind. Kein Volk lebt so wenig, was es denkt und sehnt, wie der Deutsche. Er ist der interterritoriale Mensch, wie ihn der liebe Gott geschaffen hat. Aber unter den großen Völkern ist er heute der territorial Beschränkteste. Keiner kennt die Fremde, das Fremde, so wie er, denn er ist der Phantasievollste; aber wo hat man schon gesehen, daß er Phantasie genug besaß, eine Fremde zu regieren? Denn dies ist meiner Meinung nach die höchste phantasiemäßige Spannung: eine Fremdartigkeit organisch zu regieren; es ist der Ausfluß höchsten und edelsten Herrschersinnes. Aber der Deutsche schämt sich seiner schönsten gewalttätigen Triebe: die alte Sklavenseele rumort in ihm. Er hat die wahnsinnige Knechtsidee, der Geist würde durch die Tat geschmälert oder gar verneint! Als ob der Geist durch Äußerlichkeiten überhaupt zu beeinträchtigen sei! Der Deutsche verfällt sofort der fremden Umgebung: soviel Phantasie, soviel mehr Phantasie als andere Nationen besitzt er; aber nicht genug Phantasie, um diese Umgebung zu beherrschen. Alles in der Welt hat der Deutsche erfunden; so sehr, daß man von allen früheren Erfindungen sagen kann, ihre Urheber seien geradezu nur vorweggenommene Deutsche gewesen: aber die anderen haben seine Ideen eingeführt ...«

»Die Amerikaner?« warf ich ein, halb lustvoll, halb peinlich berührt.

Slim riß seinen Rock auf. Auf sein Hemd waren Sterne und Streifen eingenäht. Seine Brust war breit. Und sie war beschützt von einem unpassenden kleinen Silberkreuze, das er um den Hals trug. Es fiel mir aber nicht weiter auf, denn in den südamerikanischen Republiken pflegen die Männer dieser mehr zur Toilette gehörenden Gewohnheit unbedenklich zu huldigen. Er sah mich hart an. »Ich bin Amerikaner mit Leib und Seele. Ich bin mit dem ›Stars and Stripes‹ am Leibe aufgewachsen, in einer schneidigen und patriotischen Schule. Aber obwohl ich das gesündeste United States zwischen Seattle und Galveston fluche, kann ich von den Liedern und Erzählungen der alten Frau träumen. Die alte Frau ist meine Großmutter. Sie war eine Deutsche. Well, Johnny, ich, der Amerikaner, sage Ihnen: mit dieser Nation ist es nichts. Es gibt sie kaum[162] mehr. Die Hoffnungen, zu denen ein Washington und Lincoln berechtigten, sind als schon erfüllt und verjährt zu betrachten. Der heutige Amerikaner ist ein Verfallstypus. So schnell und unmotiviert, wie die Blüte kam, ist sie auch verwelkt. Die Grundlagen waren zu hastig erschöpft. Und, ich muß es sagen: Es sind zuviel Menschen meiner Herkunft unter diesem Volke; und nur ein wenig gewisses Blut ist gefährlich, es fehlt an Ausgleich und ergibt ruinierte, einseitige und charakterlose Figuren ...«

»Die Engländer?« sagte ich dringend.

Er lachte. »Geben Sie sich keine Mühe, Johnny. Verbergen Sie den Stolz Ihres Herzens nicht hinter solchen Höflichkeiten. Johnny, wenn ich bloß daran denke, daß statt der Engländer die Deutschen in Indien säßen ... Das Herz geht mir auf. Was hätte das für die Zukunft zu bedeuten; ich würde mir vor dieser Tatsache wirklich erlauben, allen Respektes von ›Menschheit‹ und dergleichen zu faseln. Aber die Deutschen? Johnny, gestehen Sie's nur, Sie sind ein Deutscher – an Indien haben Sie so überhaupt in Ihrem Leben noch nie gedacht! Haha! Charles Darwin in allen Ehren; den haben wir jetzt gründlich verbreitet. Ich aber erwarte noch alles, sogar die Eroberung Indiens, von der Nation, die den Freiherrn von Münchhausen gezeugt hat. Dieser Mann würde sich am Fuße des Pamir, wo die Berge bis in den Himmel phantasiert sind, erst wieder daheim fühlen.«

»Was Sie über den Amerikaner sagen«, sagte ich, »kann ich verstehen.« »O bitte, bemerken Sie nichts!« fiel er mir ins Wort. »Ich könnte es nicht hören. Wenn einer seine eigene Nation kritisiert, so klingt das anders, als wenn er dasselbe aus fremdem Munde hört. Ja, wenn ich ganz fein auf Sie eingehe, muß ich Sie sogar um Entschuldigung bitten. Auch ein übertriebenes Lob einer Nation spricht sich leichter aus, als es sich von deren Angehörigen anhört. Denn im Grunde enthält es eben wieder einen boshaften Vergleich, eine Kritik. Was aber den Amerikaner betrifft, so kann ich dies wiederum klar bekennen. Der amerikanische Typus, wie er als moderner Standardmensch in den Begriffen lebt, stirbt in Amerika aus. Er scheint dafür auf Europa, ich will gerne sagen, auf Deutschland überzugehen.« Er sah mir lächelnd ins Gesicht. »Aber Ihnen, Johnny, fehlt noch manches dazu. Sind Sie nicht ein wenig romantisch? Nicht ein wenig überhitzt? Haben Sie nicht, wenn ich Sie recht durchschaue, zu sehr das kleinliche Bedürfnis, zu stilisieren, alles zu dem zu machen, was Ihr Poesie, Überlebensgröße, nennt?[163] Nein? Nun, es kommt mir eben doch so vor. Mein Lieber, elementarisieren Sie, seien Sie pur in ihrem Erleben! Nicht steigern, um Gottes willen nicht steigern! Verfluchte deutsche Sucht! Sie haben gewiß schon Augenblicke gehabt, in denen Sie annahmen, daß ich groß bin. Sie erröten. Sehen Sie, ich will Ihnen hiermit noch nicht beweisen, daß ich nicht groß, sondern nur eitel und brutal bin. Denn beweisen kann ich es nicht; ich müßte mich mit Bekenntnissen überstürzen und über Worte verfügen, die so schnell aufeinanderfolgen wie Herzschläge und Nervenströme. Ich kann's nur einfach aussprechen. Ich bin nicht groß. Laden Sie mir nicht derlei Verpflichtungen auf. Überhaupt, nehmen Sie mir's nicht übel. Ich fühle Wärme für Sie. Aber lieben Sie mich nicht. Lassen Sie mich allein. Umgeben Sie mich nicht mit sich. In dem Augenblicke, wo ich zu beobachten anfange, sind Sie für mich eine Leiche. Ich bin immer auf der Jagd. Ich bin ohne Bosheit. Aber ich kann nicht schonen. Ich kann nicht. Es fehlt mir an Talent hierzu. Und ich kann mich nicht einmal darüber grämen. Bewundern Sie das nicht. Das ist etwas ganz Einfaches. Sie sind ja kein Frauenzimmer, Johnny, wie? – Hallo, van den Dusen, wie geht's, was ist denn los?«

Der Holländer saß gedrückt auf seinem Feldstuhl und wimmerte uns entgegen. Slim lachte kräftig auf, ganz unmetaphysisch, beinahe gutmütig. Dem Kranken gegenüber erschien er von einer wahnsinnigen Gesundheit. Dieser aber wurde kränker. Und plötzlich wurde Slims Übermacht widerwärtig. Etwas in mir kippte um; ich wurde stolz auf meine Schwäche, ich loderte in heller Begeisterung auf für die Hemmungen, die mein Hirn wie ein Gebirge umstellten. Gleich darauf lachte auch ich und ärgerte mich, wie gesund es klang; es war noch ein Schwächerer da als ich. Van den Dusen machte einen so kläglichen Eindruck, daß man noch vom Tode aufstehen mußte, wenn man ihn ansah. Er war eine Kur gegen Schwächen und wankelmütige Launen.

Er war unrasiert und hatte seinen Tropenhelm tief in die Stirne geschoben. »Hurra«, schrie er grämlich und sah mich zwinkernd an, »ich bin ein Schlagwort los! Nieder mit den Schlagwörtern! Nieder mit dem Wasserrad! Wasserrad, Wasserrad, hu, wie es sich in meinem Kopfe dreht!«

»Wasserrad? He, was ist los mit Ihnen, Dusen?« frug Slim. »Wo haben Sie denn heute nacht gesteckt? Was haben Sie sich heute nacht denn da draußen geholt? He?«

»Wissen Sie, was ein Wasserrad ist?« schrie van den Dusen.[164] »So haben John und ich eines Tages die Erscheinung getauft, daß Sie Tatsachen umkehren können, ohne ihre Wirkung zu verändern. Dies tut seine Arbeit und Ihnen bleibt das Vergnügen, die Dinge aus- und einschnappen zu lassen wie ein schlapp gewordener Gong. Behalten Sie das! Und nun denken Sie sich einen Menschen, einen gut und vernünftig angezogenen Europäer, gleichsam einen umgekehrten Adam, er nascht vom Baume der Erkenntnis – und siehe, da ward er gewahr, daß er zuviel angezogen sei. Und« – »Und was weiter«, erkundigte sich Slim ruhig, ohne eine Miene zu verziehen.

»Nun ja – ach Unsinn, nichts. Das sind eben diese verfluchten Umdrehungen. Man kann praktisch nichts mit ihnen anfangen. Sie können sich doch nicht etwa hinstellen und nackt vor den Frauenzimmern herumtanzen, bloß weil diese glauben, daß unsereins schlecht angezogen sei? Na, erlauben Sie aber – abstrakt, nichts als abstrakt. Vollständig abstrakt!« Er sprach es aus, als habe er die Absicht, die größte Beleidigung zu formulieren.

Slim ging, schmunzelnd und die Hände in den Hosentaschen. Ich wollte mich anschließen, um unsere Gespräche fortzusetzen. Der Holländer aber rief mich geheimnisvoll und verlegen zurück. Grunzend zog er mich in die Hütte und entledigte sich der Bekleidung seines Oberkörpers bis auf die Haut. Ich entfernte ihm mit dem Federmesser eine Anzahl Dornen aus dem weißen Rückenfleische, die auf geheimnisvolle Art dorthin gekommen waren, und legte ihm Pflaster auf lange Rißwunden, die wie Peitschenhiebe über den Nacken geschnalzt verliefen. Indessen gab mein Mann umständliche Schwüre ab, daß das Paradoxon nichts für ihn sei.

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 143-165.
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