XXIV

[196] Die Sonne stach mit einem steifen durchdringenden Lichte herab; die Landschaft stand, mit bitterem Realismus in diese schräge angegilbte[196] Wand vor unseren Stirnen hineingesetzt, da. Fluch allen Malern und Fälschern! Das Leben war eine Zeichnung, und Bitterkeit steigt aus den trockenen zähen Stengeln auf, die, eng und planlos zusammengepackt, den Djungle darstellten. Alles Wesen war erschreckend sachlich in diesem Lichte, befangen im nüchternen Ernste seines Daseins. Blüten von unerhörter Farbe, ereignislos, reihten sich buschig auf, sie waren ohne eigenen Glanz und Ton, gefressen waren sie von dem alles verschluckenden, alles einschmelzenden Lichte. Bunte Arasvögel steckten ihre Köpfe mit den wilden erregten Federgeweihen durchs Laub und fixierten uns gehässig; lauernd vor Bosheit duckten sie sich wagrecht auf Äste nieder und führten mit ihren angelförmigen Schnäbeln einen verzweifelten Phantasiekampf, ein leidenschaftliches Scheingefecht gegen unsere verhaßte Anwesenheit aus. Ein Storchenpaar stolzierte in den Wassertümpeln abseits vom Stromgerinne und harpunierte in der Frühe und am Nachmittag Frösche, Frösche als Vor- und Nachspeise und Frösche zur Verdauung. Diese Sparsamkeit angesichts der mutmaßlichen Delikatessen des Djungles war heroisch. Aber sie lag in der Natur. Sie bestimmte den Stil, die Entfaltung. Die unerhörtesten Mittel wurden hier nur einer andeutungsweisen, gleichsam fleckenden Verwendung für wert gehalten. Ein magisches Verwischen aller letztlich doch so brutalen Triebe zeichnete den Wald aus, eine redselige Heimlichtuerei nutzte oberflächlich alle die mystischen und tiefen Kräfte seines Getriebes. Die Natur war überschüssig, gleichsam geistreich; darum brauchten es hier die Menschen nicht zu sein und nicht das Faultier, das da oben mit menschlichen Gebärden, zu träge selbst zu einer Grimasse seines ewig schnauzigen Gesichtes zwischen den dreimannshohen Stengeln mit Bedacht emporkroch. Die Natur als Totalität war geistreich. Darum brauchten es ihre Geschöpfe nicht zu sein. Sie durften außer Betrieb gesetzt im Schatten liegen und gähnen und weiß Gott wie es zuwege bringen und keinen verständigen Gedanken mehr produzieren.

Herrgott, diese Störche speisten Frösche mit Leib und Seele, und indes war der Djungle, ein Riesenbraten, für sie aufgetragen. Und so war diese Natur, sparsam trotz großen Reichtums; sie war nun einmal eben gar nicht, wie man auch denken könnte, Stil, sondern ganz Wesen, ganz Sache. Es war eine durchaus praktische, unästhetische Natur, sie kümmerte sich keinen Schimmer um den Effekt ihrer Schönheit, sondern war ganz auf Glück eingestellt, ja, auf das Glück sommerlicher Körper. Ich aber protestierte heftig gegen die Partei, die sie nahm. Ich wurde krank an ihr und fühlte schwere[197] Hemmungen aus ihren Rückständen an Phantasie und Romantik aufsteigen. Denn in mir herrschten Frühling und Herbst, in mir war kein Sommersein, wohl aber Frühlingswerden, ich reifte zum Blonden, zum Prinzip des Blonden, nur Sommerglück war nicht in mir. Darum zehrte mich der Ärger auf, das Ärgerfieber, wogegen es Chininpastillen gab, die ich mit Ausdauer schluckte. Aber es war doch immer dasselbe Bild; wieder drückten sich die polsterigen Brüste feistleibiger Vögel durchs Laub, sie entfalteten mächtige Garnituren von Federn in allen Farben, steckten ihre Schwanzstutzen aus dem Busch heraus und schlugen Räder. Aber diese Schönheit war ein gelüftetes, ein zu durchsichtiges Geheimnis; es war eine magazinierte Schönheit, sozusagen kaufmännisch, aber ein bißchen unsolid ausgestellt, ich konnte mich mit ihrem nüchternen Zuge nicht befreunden. Der Schauer fehlte. Das war es.

Alles war ein gelöstes Rätsel. Alles war klar. Ich begriff alles. Ich begriff es, wenn eines Tages plötzlich zwei Kakadumännchen aufeinander loszusäbeln begannen, bis das Gehirn des einen bloßgelegt war. Das langweilte mich. Es langweilte mich auch – ich erinnerte mich schwach, daß das nicht immer der Fall gewesen war – saß der Geköpfte in einem letzten Sterbeschauer ein süßes Piepsen ausstieß, während er in gesünderen Zeiten eine schnurrende Stimme hatte hören lassen.

Die Klarheit, die auf Stadien der Verwirrung gefolgt war, wurde lähmend. Mittendrein begann ich unruhig zu werden, die Angst kam schwül an mich heran und ich sprang auf. Das heißt, nein, ich sprang eigentlich nicht auf, ich wollte nur aufspringen und es stand mir sehr augenscheinlich vor Augen, was dann geschehen würde. Ich würde flüchten, würde die Freunde verlassen und mich irgendwohin zurückziehen, um allein zu sein, nur um allein zu sein. Denn in dieser Zeit machte sich wieder der Kontakt mit Slim bemerkbar. Ich wußte, daß er sozusagen stets mit mir dachte, mit den Kräften meines Gehirns gleichsam seine Gedanken und Leidenschaften dachte. Das war vielleicht auch die Erklärung, daß nichts von alledem, was mir durch den Kopf ging, geschah. Ich verbrauchte die ganze Handlung in der Anschauung und Slim zehrte mit. Mein Vegetieren war ein schäbiger Rest von Wirklichkeit. Alles andere fand allein in meinem Gehirn statt. Ich dachte ein feines Ding von Vergnügen aus, ein bis zum Zerreißen dieses süß gespannten Gehirnes verfeinertes Ding. Und blieb an Ort und Stelle liegen, obwohl die Leidenschaft mich durchwühlte und die Fröste der Langeweile mich aufjagten.[198]

Mein Zustand war bekannt. Das Wort Tropenkoller fiel mir wie ein Gnadengeschenk zu. Damit konnte ich arbeiten, erklären. Jetzt also wußte ich, woran ich war. Ich würde schleunigst Abhilfe schaffen, aufstehen, arbeiten, sozusagen ein anständiges Leben führen und so praktisch wie möglich mich den gegebenen Verhältnissen anpassen. Eingerichtet werden mußte das Leben! Hatte ich nicht die Möglichkeiten einer unendlichen, natürlichen Praxis vor mir, das weiße Blatt einer unbeschriebenen Robinsonade? Ich konnte ein Kanoe bauen und mich den Fluß hinabbegeben. Oder mit Zana durchbrennen, sie heiraten und das Leben eines Djunglemenschen führen. Meine ungeheure Assimilationsfähigkeit, mein Rückbildungsgenie kamen mir hier zugute. War ich nicht voll guten vertrauensvollen Willens?

Nach einer Stunde der kühnsten Unternehmungen und Aufpeitschungen war mir der Begriff Koller so fade wie nur je ein Wort. Mit hysterischer Lust glitt ich in die Tiefen meines Zustandes. Ich war eitel auf mich; ich war es auf mein Affengesicht; auf meinen Mangel an Willenskraft und Persönlichkeit, das heißt, auf meine geniale Assimilationsfähigkeit: denn, in der Tat, wenn ich die anderen um mich her betrachtete, so wußte ich, daß wir bereits Affengesichter besaßen. Wir verzwickten die Gesichter, weil die Sonne uns blendete. Das Tierische in Zanas glatten Zügen reizte mich zu einer prickelnden Nachahmung. Ich buhlte um den Ausdruck ihrer Lüste; diese Lüste müssen erschlichen werden, man muß unter einer Art Mimikry an sie herankommen. Wohlan, präparieren wir uns im Hinblick auf den Indianer! Wenn Zana mein Weib ist, werde ich sie bei den Haaren ziehen und auf ihrem Gesichte spazieren gehen. Ich habe infame Pläne mit ihr vor. Ich nehme keine Rücksichten mehr. Ich halte mich an die ältere Humanität; was die Lust der Rassen anbetrifft, geht es nach Anciennität.

Mit den Vorsätzen war es getan. Die Natur produzierte hier, draußen und in meinem Hirn, in überschwenglichem Maße. Aber sie verlumpte die Million aus Sparsamkeit, um Bewegung zu sparen und die alten Formen zu schonen, die sonst zu schnell ausstarben. Diese Natur war nicht auf den Europäer berechnet, auf nichts Avanciertes, Humanes, Intelligibles. O, sie haßte die Maschine, diesen paradoxen Vogel des Nordens, und ihre andersartige Ökonomie. Sie hatte es eilig wie ein Krösus, der so schnell als möglich zum Bettler avanciert, um vom guten Leben nicht draufzugehen und genügsam sein zu können. Diese Natur war, wie gesagt, geistreich, geistreich als[199] solche, obwohl ihrer Geschöpfe Mangel gerade in diesem Punkte auffiel. Sie war darum in ihrer Fülle auch ein Dichter, ein solcher Praktiker, der das Leben lieber schnell theoretisch absolviert, um nur ja sich selbst aufzusparen und nicht in Stücke zu gehen. Der Dichter ist ja bekanntlich der feinste Kaufmann, er kauft alles und bezahlt mit Phantasie. Ein solcher Dichter, ein solches Stück Tropennatur, bitte zu bemerken, ein solcher Verfertiger von Tropen bin ich. Ich habe Zana schon längst glücklich geheiratet, aber gleichwohl, ich liege noch immer hier. Da sieht sie her, so schmachtend wie möglich, mit einem Blick, als würde ich ihr sofort, auf der Stelle, mit einem Messer den Bauch schlitzen. Ich aber liege hier, bin faul wie ein Alligator und von meinen Knochen fällt langsam das Fleisch ab.

Die Zeit hatte die Auszehrung, und wir verstorben an galoppierender Langeweile. Über unseren Köpfen zog ein Storchenpärchen seine Kreise. In diesem Zeichen stand unsere Lage; es war eine wirkliche Lage, die wir nun in der Welt einnahmen, und das Kreiseln über uns war der Singsang unseres Blutes. Die zwei Störche stiegen herab, ach, da hatten sie lange rote Schnäbel, und so rot waren ihre Schnäbel, daß einem wirklich bei ihrer Betrachtung nichts anderes einfiel, als daß sie rot waren. Zwei wunderschöne rote Griffel, die rapide klapperten, waren das, zwei Zinnoberstempel aus elegantem, einförmigem Farbstoff, zwei grelle Blutfasern in der Lichttafel, die uns vor den Stirnen schwamm. Sie beschäftigten die Phantasie, anderseits aber waren sie so anschaulich, daß sie ganz sie selbst waren, ganz Sache, ganz Schnäbel, rote Storchenschnäbel, eine praktische Angelegenheit, zum Klappern etwa! Ich weiß nicht, warum wir über den Unsinn soviel nachdachten, warum wir insbesondere über diesen roten Schnabel soviel Wesens machten, der uns gar nichts anging. Das Rot war so eigen, und es erregte uns anscheinend mächtig. Es hing den Vögeln ein dünner erstarrter Fleischlappen mitten aus dem Gesichte und machte uns sieden. Vielleicht weil wir kollerig waren. Ich dachte an den zerstückelten Kopf des piepsenden Arasmännchens, an seinen blutenden Kamm. Es ist merkwürdig, daß es Tiere gibt, die mit dem Zeichen ihrer Blutgier unverhüllt umherlaufen. Aber das ist gar nicht merkwürdig. Bei den Säugetieren sind es die Lippen, Blutfetische, und die Geschlechtsorgane, in ihnen tritt die grundlegende Blutsympathie der Leiber nackt zutage. Ha, wie wir morden, wenn wir küssen! Wie wir dieses süße Überbleibsel eines Bisses schlauerweise ungestillt lassen, in unserer unerhörten, listigen Ökonomie der Lust! Der Kuß der Vögel nähert sich dem älteren Ideal. Wenn[200] der Kakaduhahn das Huhn unter Geflatter belegt, führt er flagellantische Hiebe gegen die roten Teile ihres Gesichtes, markierte Hiebe, er kraut sie leidenschaftlich an den feinen roten Häuten über den Nasenlöchern. Ich blickte seitwärts. Da prangten Zanas künstlich aufgestülpte Lippen, sie enthüllten ein breites Stück Rot wie eine Blutorange; zwei Eberzähne waren durch das Nasenbein gebrochen, und die Narben zerrten die Lippen hoch. Nun mußte ich finden, wer von den Männern die verfänglichsten Lippen hatte. Slim besaß dünne, herbe Exemplare, scharf wie zwei Messer. Damit schied er aus der Konkurrenz aus. Der Holländer hatte ein paar himbeerfarbener unter seinem Struppbarte. Ich erschrak tödlich, als ich es bemerkte. Im gleichen Augenblicke hatten wir uns auf den Mund gesehen. Es war erklärlich, daß er sich der offenen Aufmerksamkeit Zanas erfreute. Sie schielte wie eine Äffin mit schräg gestellten Blicken zu ihm hinüber. Slims Gesicht, das unter einem rötlichen Barte vollständig gelb war, drückte in diesem Augenblicke eine Katastrophe aus.

Die Sonne fuhr wie ein weißglühendes Projektil über den zwölfstündigen Himmel dahin, Tag um Tag den Weg, den wir verfolgen konnten. Zur Linken unserer Robinsonade tönte fern das Zischen der Fälle. Vor uns lag der weiße Flußsand im halbberieselten Bette, gegenüber brodelte der Djungle, die Luft dazwischen war vor Hitze in beständigem Flittern begriffen und zerfranste farbig. Wir hatten schmerzliche, eintönige Erlebnisse, oh. Ich sagte »wir« in jener Zeit, hm. Die Langeweile rotierte, und dann schoß das Storchenpärchen in Kreisen, Schrauben und Korkenziehern über uns hin. Und dann stand Slim plötzlich auf, es kam Leben in ihn, er kommandierte die Indianer, man schlug einen Baum und begann ein Boot auszuheben. Ich aber stand nicht auf und half. Ich haßte die Tat und alle Tat. Die Energie Slims machte mich schwächer, während er sich gleichsam an der Ursprünglichkeit des Unternehmens berauschte. Er schlug ein Kanoe. Er entfernte sich mit meiner Lebenskraft, verbrauste mein Vermögen und ließ mich mit Passiven zurück. Und ich haßte ihn, diesmal vielleicht zum ersten Male aus vollem Gemüte, ohne dialektische Umwege, aus dem vollen Gemütshasse des Beraubten. Er jedoch gedieh dabei. Er begann am Lagerfeuer Debatten zu eröffnen und traktierte seine Lieblingsidee, seine funkelnagelneue Dimensionenlehre. Warte Mal, ich gebe ihm den Todesstoß. »Sie sind ein Dialektiker«, sagte ich drohend. Ich war ein großer Entlarver. Dabei schüttelte mich das Fieber, und meine Pulse evaporierten, sie rauchten förmlich vor Arbeit.[201]

Da geschah das Unerwartete, daß der Holländer zu sprechen begann. Er ergriff meine Partei. Er war ein gerader Kerl, und ich mußte eine schwärmerische Vorliebe für derlei Charaktere in mir vorfinden. Ich überschüttete ihn innerlich mit Dankbarkeit und schwur ihm Treue und Solidarität. Die Situation war nicht unangenehm, wir waren jetzt zu zweit und marschierten siegreich aufs Ziel los. Aber eine kleine Verlegenheit trat doch ein. Slim fiel es mitten im Debattieren ein, nach seiner Coltpistole zu greifen. Er wog sie in der Hand, fühlte gleichsam seine eigene Solidarität und kostete das Vertrauen aus, daß auch er zu zweit da war. Sein gelbes, bärtiges Gesicht bekam einen lasziven, geradezu lasterhaften Zug, er sah nicht nach uns, sondern nach Zana, und so war es ungewiß, wem von seinen beiden Gegnern die Worte galten. Er sprach gutmütig; aber ich hätte gewettet, daß in seiner Stimme etwas ungeschickt verbissene Gereiztheit, eine Art falscher Gesang zu hören war. Am merkwürdigsten war, daß er das englische »du« gebrauchte, als ob er eine Art Bibeltext spräche, etwas besonders Herzergreifendes, vielleicht Verächtliches. Er sagte:

»Ich weigere mich, mit dir zu debattieren, my boy. Du bist langweilig. Ich bin dir viel zu sehr Problem. Du beschäftigst dich zuviel mit meiner Person, jedenfalls mehr als anständig und gesund wäre. Das geht nicht; wir sind füreinander einfach unmöglich. Aber das kann ich dir sagen, du bist vollständig irrsinnig, du bist toll, du hast den Koller. Denn das, was du dir einbildest, gibt es nicht. Es gibt keinen Parallelismus zwischen zwei Menschen. Das ist die Spiegelmanie deines Gehirns. Wie du mich krank machst!« Er stand auf und ging hinaus und kam erst am folgenden Morgen wieder zurück. Um Mitternacht fiel ein Schuß und das Klagegeschrei von Affen scholl lange fort.

Am dritten Tage wurde die Arbeit am Boote eingestellt. Die alte traumselige Monotonie beherrschte unser kleines Lager zwischen den Flußklippen im Schuttloch wieder. Slim war es eingefallen, daß wir Futter brauchten. Er nahm wortlos seine amerikanische Büchse auf und lockte den Hund an. Dieser gehorchte schwanzwedelnd, trabte dreißig Schritte hinter ihm her, machte aber plötzlich kehrt und kam mit gedruckter Miene zur Höhle zurück, wo er sich an seinem Stammplatz zwischen gewisse große Steine legte. Slim rief und kommandierte, Zana warf mit Steinchen und Erdknollen nach ihm und gebärdete sich, als hätte sie nie im Leben ein wichtigeres Sittengesetz zu verteidigen gehabt. Das Tier erhob sich mit lassen[202] Gliedern und drückte seine Augäpfel mit sterbenstraurigem Appell an unsere Barmherzigkeit in die eine Ecke, während es mit seiner Schnauze bang in die Luft hinausschnüffelte. Slim ging geradewegs an das gegenüberliegende Ufer, wo der Djungle am schüttersten schien, und verschwand mit dem Hunde in den Büschen.

Unter den Zurückbleibenden entstand eine eigentümliche Bewegung. »Uff«, sagte der Holländer ungewiß, »nun ist doch eine Seele weniger im Raume oder in der Zeit oder, was weiß ich, in welcher Dimension!« Er sagte nichts weiter darüber, schien aber boshaft vergnügt, daß er das Drama unseres Zusammenlebens angedeutet hatte.

Einige Zeit später, während ich mit müdem Kopfe die Vorgänge um mich herum anreihte, waren van den Dusen und Zana in ein entzückendes Spiel verwickelt. Sie bewarfen sich, mit was immer ihnen locker in die Hand kam, gerieten zufällig nahe aneinander, und ich hörte Zana eigentümlich lachen, als ob sie gekitzelt würde. Ich vermied es, schräg hinter mich zu sehen. Glühende Träume von brasilianischer Urwaldzärtlichkeit wucherten in meinem Hirne, das wie eine Sonnenlandschaft aus der Vegetation von Glutbrocken bestand. Im Paroxysmus der Wünsche, Hemmungen und Leiden über mein tatenloses Dasein krampfte ich mich zu einem Bündel zusammen und drückte mich mit voller, wahnwitziger Kraft rücklings an die Erde; ich folgte dem instinktiven Drange, mich zu begraben, mich vor dem Lichte, hei, dem weißen Lichte, vor dem meine Ohnmacht so kraß bloßlag, in den ewigen Schatten hinabzudrücken. Aus meinen Absichten wird nie und nimmer etwas werden. Nie und nimmer werde ich Zanas dünne Glieder umfassen dürfen, nie und nimmer werde ich ein Indianerprinz werden wie Luluac. Ich konnte das Rätsel nicht lösen. Es muß geheime natürliche Reize geben, denen das Weib sich unbewußt erschließt, oder doch solche, an die ein Europäer nicht zu denken wagt – denn mir fielen gewisse Süßigkeiten von den indianischen Gemälden ein, natürliche geschlechtliche Reflexe, die aus meinem Hirn gewaltsam weggestaut sein mußten. »Ich habe das Rätsel auch später nie gelöst.« Dieser Satz fiel mir damals ein; ich würde ihn zukünftig denken. »Ich habe Frauen aller Länder gesehen und genossen, aber immer wieder mußte ich mich an dieses seltsam häßliche Geschöpf voll verwickelter Reize erinnern. Der natürliche Egoismus eines anmutigen und starken Menschen hat saugende Kraft; die schwächere Seele wird leidend in ihn verarbeitet«, schrieb ich in Gedanken nieder. Häßlich – habe ich Zana wirklich jemals schön gefunden, wie oft ich sie auch so nannte? Zana, nein, besaß[203] keinerlei von bleichgesichtigen Idealen und Künstlern her beeinflußte Schönheit. Sie war abnorm dünn, flötenhaft dünn, die Knochen sprangen unter ihrer braunen Haut durch wie Drähte, aber diese Haut war glatt und knapp und folgte geschmeidig dem Ornament des Baues. »Immer wieder habe ich auch dies Rätsel gefunden, daß das Geschlecht des Mannes einen originelleren Geschmack in seiner Wahl zeigt, als das an Prinzipien und Einmaligkeiten gewöhnte Kulturhirn.« Ich erinnerte mich nämlich in die Zukunft, ich nahm mit meinen Worten alles Kommende voraus; es war mir mit einem Male gewiß, daß ich diese Phrasen einst mit gutem Gewissen würde gebrauchen können. Plötzlich klangen Schüsse aus dem Djungle, abgeschwächt vom Laube. Wir horchten. Van den Dusen sagte: »Nun wird er bald da sein.« Er roch ihn gleichsam und wurde mißmutig.

Und Slim kam, ohne Beute und ohne Hund. Niemand verlor darüber ein Wort. Und auch ich will darüber kein Wort verlieren, denn ich kann diese tiefen und bösen Dinge nur andeuten, wenn ich sie nicht entkräften will. Alle atmeten auf. Der Hund war nicht mehr Überlebender, die Ahnungen waren lügengestraft. »Schlange«, erzählte Slim lakonisch in dieses Schweigen, und alle lächelten in sich hinein. Sofort empfanden alle anders. Wir fühlten das Lächerliche dieser nutzlosen Handlungen, diese karikaturartigen Äußerungen plötzlicher Lebenslust. Ein noch so langweiliger Slim mit symmetrischen Lebenskräften war ein Ding, das Respekt einflößte. Ein kapriziöser Slim aber fiel unserer Verachtung anheim.

Er kam mit harten Schritten und breit gehobenen Schultern über das Gerölle daher. Van den Dusen war blaß. Was konnte Slim wissen? Alles. Wir lasen einander die Gedanken ja vom Kopfe ab, wir wußten, daß jemand gegenüber im Djungle versteckt dagestanden und zu uns herüberspioniert haben konnte. So weit waren wir schon, daß wir alle zusammen mit unseren Einbildungen an der Leimrute einer allgemeinen Stimmungskrankheit kleben blieben. Nun trat die Katastrophe ein. Slim ging mit dem geladenen Gewehr in der Richtung auf den Holländer zu. Ich hörte es knacken; er hatte die Patrone im Lauf nachgesehen. Mitten im siedenden Kessel dieser Atmosphäre packte mich der Frost, zwei, drei Sekunden lang hatte ich eine deutliche Wahrnehmung des Fiebers, das sonst rhythmisch in mir dahinflutete. Ha, jetzt kam die Geschichte zum Klappen, jetzt entlud sich aller aufgestapelter Haß, jetzt gab es Blut und Befreiung von dieser gefährlichen Gemeinsamkeit. Und nun – – –[204]

– – – und nun begann Slims Schritt auf dem Kies schwach und gewöhnlich zu werden. Es waren Dutzendschritte, die da herankamen, nicht Slims Kraftschritte. O über die Armseligkeit dieser Schritte! Ich dachte an die Triumphe, die Slim mit seinem Gange gefeiert hatte, an meine knabenhafte Verzagtheit vor diesem machtvoll scheinenden, gleichmäßigen Tempo. Um es nur zu sagen, ich war kleinlich geworden in seiner erdrückenden Nähe und auf eine Bagatelle von Überlegenheit erpicht. Nun, Slim machte schlapp; er büßte seine Haltung ein, als er unser ansichtig wurde, sein Zorn wurde zu einem Brei von Leidenschaft und versagte wie nasses Pulver. Er sank mit vertretenen Füßen in das Flußgeröll ein und sah uns wenig an. Slim pflegte in seiner Brutalität oder Gutmütigkeit gut auszusehen; aber seine Symmetrie war verschoben, das Charakteristische seiner Haltung entwürdigt, wie er sich mit dem Flußgerölle abmühte, und nun sah er im Widerstreit seiner Empfindungen lächerlich aus. Ein Gedanke stieg in mir auf, ich blickte scharf auf seine Füße: Slim zitterte in den Knien!

Und so kam es denn, daß außer einem einzigen Worte Slims nichts gesprochen wurde. Nach dieser Demütigung Slims hätte man ein ehrliches Wort sprechen, das Übel abstellen und einander von mancher Last befreien können. Aber dies Wort kam keinem von uns dreien über die Lippen. Slims Gesicht bewegte sich beinahe schmerzhaft in Grimassen, er lachte aus Scham und Gott weiß was für Gefühlen, als er mit den Sandbänken im Flußbett kämpfte. Und angesichts dieses Lachens, das alles leugnete, wurden uns die braven und tapferen Worte, verstockt und elend wie wir waren, auf der Zunge dick. Unsere Gesichter verschieften sich gleich dem Slims, wurden unsymmetrisch wie unser Inneres. Ha, wir liebten und wir haßten einander, wir waren aufeinander angewiesen und waren doch unerträglich füreinander. Wir konnten einander nichts mitteilen, aber unsere Gedanken lagen offen wie geschlitzte Därme da. Wir platzten vor innerlichen Freisen, unsere Seelen waren wund und geschwollen und schon die Nähe der Fremden schmerzte. Im Höhepunkt dieser Erregtheit wollte ich schreien, bloß furchtbar und töricht herausschreien; aber ich hielt mich am letzten Haar zurück, denn ich wäre daran gestorben. Ich hätte mich totgeschrien.

Diese Krise, während der wir uns aufmerksam und mit leisen Spuren von Spannung beobachteten, dauerte nur Sekunden. Es waren Zeitmaße voll von einer ungeheuren langsamen Ödigkeit. Als diese epileptische Anwandlung sich abschwächte, nahm Slim mit deutlichen[205] Anzeichen der Erschöpfung einen der umherliegenden Menagebeutel und stampfte brummend nach rechts davon.

Da tat ich denn desgleichen und marschierte nach links ab. Ich war ihm mit dem Blicke gefolgt, wie er über den weißen Schotter paddelte. Nun wußte ich mich selbst darüber hinpflügend, fühlte den Schmerz und die Wärme am Knöchel und sah die grelle Fläche unter mir. Einmal blickte ich um, ich hatte ein peinliches Gefühl im Rücken verspürt. Es war alles in Ordnung. Niemand hatte ein Schießeisen in Händen. Im Verhältnis zu dem schweren Kies waren meine Beine zu zerbrechlich, zu leicht und zu massearm waren sie. Es ging immer zäher und zäher, und als ich bei der großen schönblühenden Distel stand, die von der Robinsonade noch ersichtlich sein mußte, überkam mich die Sehnsucht. Mein Herz tat weh, ich liebte meine liebe alte Höhle mit dem wunderbaren Schatten, ich verlangte gierig nach van den Dusen, meinem weißen Freunde, nach Zana und den Indianern. Und da lag ich auch unter ihnen und war höchst peinlich berührt von der Anwesenheit eines anderen Weißen. Denn ich war erst gar nicht fortgewesen und legte das Gewehr, mit dem ich nachdenklich gespielt hatte, wieder an seine Stelle. Slim war ungefähr so weit, wie ich gerade in Gedanken gekommen war. Er hatte sich umgesehen. Er bog ein und verschwand von der Bildfläche.

Was war die Grundstimmung dieses Strategems? Ja, ich hatte aparte Pläne. Ich wollte mir eine Robinsonade auf eigene Faust gründen. Dort wollte ich leben und schlafen und arbeiten. Ich wollte jagen und mir mein Brot verdienen. Wie köstlich war es, des Morgens einsam zu erwachen, den ganzen Tag über sozusagen nur einmal statt dreimal auf der Welt zu sein, unbeobachtet und unverantwortlich für die Gedanken anderer, und mit der Aussicht, sich gehen lassen zu dürfen, wie man wollte? Ach Gott, Einsamkeit ist die Gunst des Schicksals. Besser, laute nutzlose Rede führen und in die Luft singen, statt das Tiefste, das man zu sagen hätte, verschweigen zu müssen. Einsam die Elegie dieser Einsamkeit bis zur Neige genießen, im schönen Singsang der Unbegrenztheit des eigenen Ichs die Zeit verbringen zu können! Ferne du, du selten gehaltenes Versprechen der Einsamkeit. Dich gedachte ich mit der geringen Distanz von fünfhundert Schritten zu erobern!

So hausten wir an Ort und Stelle, während unsere Gedanken sich um Slim drehten. Seine Abwesenheit hinterließ in unserem kleinen Haushalte eine klaffende Lücke. Wäre der Holländer nicht mit einem Schlage so seltsam geworden, so hätte ich gerne eine kleine Unterhaltung[206] über dieses Thema angeknüpft. Es war nicht hübsch von ihm, daß er Slim auf diese Weise hinausgeekelt hatte. Alles in allem genommen war Slim doch ein kapitaler Mensch, ein seltenes und gelungenes Exemplar von einem Manne. Man konnte ihm gut sein. Wie kam der faule gedankenlose Holländer dazu, ihm das bißchen Lebensfreude, das man hier hatte, zu vergällen? Schon hatte ich eine Apostrophe auf den Lippen und gedachte eine längere Rede zu entwickeln, ein Mordsstückchen Rhetorik, zu dem mir in meinem rastlosen Kopfe bereits die Worte und ein Arsenal von Gründen in ihnen eingefallen waren. Ich begann diplomatisch mit einer Fragestellung. »Was wohl Slim treibt?« sagte ich. Da setzte sich van den Dusen auf und platzte in weinerlichem Tone heraus: »Fort ist er, in eine andere Höhle ist er hin. Nun sehen Sie wohl, Sie hätten ihn nicht derart vertreiben sollen. Sie haben natürlich unrecht mit Ihren Behauptungen. Sie sind kein metaphysischer Kopf, überlassen Sie das doch Slim! Er ist nicht der Mann, der solchen Unsinn verträgt. Man könnte wirklich aus der Haut fahren bei Ihnen.«

Ich stöhnte. »Mir ist todübel«, sagte ich statt aller Replik. »So?« sagte er, »na ja, da haben wir's ja. Sie sind den Strapazen nicht gewachsen. Sie vertragen das tropische Klima einfach nicht. Nun ist die ganze Expedition durch Sie in Frage gestellt!« Ich fiel todmatt zurück.

An demselben Tage noch kam es über van den Dusen. Er konnte es nicht mehr länger ertragen. Er stand auf und begann nach links hin fortzulaufen, seine traurige, nunmehr stark ramponierte Gestalt zog wie ein gebrochenes Herz über den weißen Flußschotter. Wie ein gebrochenes Herz, jawohl, hing der gute Kerl über, die Kleider schlotterten an seinem abgemagerten Leibe und er schlingerte mit schwankenden Knien. Alles an ihm war Trübnis. Einmal sah er sich halb um, mit einem kurzen scheuen Ruck und rollte weiter. Da kämpfte ich einen wilden verzweifelten Kampf mit dem unschuldigen Gedanken, der tückisch an mich heranschlich, ein Monstrum von Gedanke, das ich nicht denken wollte, das aber glatt und geschwind sich gegen meine Vertuschungsversuche behauptete. Wieviel Schritte? Dreihundert, innerhalb Treffsicherheit. Van den Dusen kam unangefochten fort. Erstarrt blickte ich ihm nach. Gleich mußte er meinem Gesichtskreis entschwinden. Da war er bei dem schönen blühenden Distelbund angelangt.

Ich begann zu singen. Aus Schmerz oder aus Freude? Ein hysterisches Ringen entspann sich in mir. Ich war einsam. Allein[207] unter Indianern, ein einzelner Weißer, lag ich von Sonne und Fieber von außen und innen her gekocht am Ufer eines brasilianischen Flusses! – Da wandte sich van den Dusen langsam um. Langsam kam er wieder zurück, dann schneller, bevor ich würde schießen können, heia, wie schnell, zuletzt aber verlangsamte er das Tempo, er setzte sich der Gefahr eigensinnig aus! Wie weh mir sein Verdacht tat! Sein Gesicht war zur Erde gekehrt; Ja, sein glattes muskulöses Schauspielergesicht war von einem Dutzend kleiner Höcker und Wellen geteilt, es war vor physischem Schmerze zersprungen und spiegelte das Elend seiner Seele. Meine Seele aber empfing ihn im bräutlichen Schmucke. Wir werden zusammen dieses Wiedersehen feiern und einen ewigen Pakt der Freundschaft schließen. Wir lassen die Feuer unserer Menschlichkeit lodern, wir werden uns im Geiste schlicht und ohne Pathos umarmen, wie es einem Kameradenpaare geziemt. Slim aber wird als Festopfer serviert. Denn Slim trug an allem Schuld. Slims ungemütliche Art des Verkehrs hatte unsere Nerven imitiert und zu einer künstlichen überempfindlichen Funktion gebracht. Slim war ein Ketzer wider die Natur, ein Phantast, ein vollständig verdrehter Querkopf. Er verzauberte des Exempels wegen unsere Gehirne, er gebrauchte uns als Versuchskarnikel für telepathische Wirkungsgesetze. Ah, dieser Slim! Man müßte ihm den Schädel einschlagen, just so einschlagen, daß sein überentwickeltes Gehirn mit der rohesten Wirklichkeit in Berührung käme. Charlie, der es fertig gebracht hatte, bis zum Horizonte dieser kleinen Welt zu marschieren, der leibhaftige fünfhundert Schritte hin und her zurückgelegt hatte, er war Slim möglicherweise doch gewachsen. Nicht wahr, Charlie, wir beide verstehen uns auf diesen Slim? Die Methode Mister Slims ist uns ein offenes Geheimnis. Eines Tages jedoch muß die Rache kommen! – Mein fiebernder Kopf war in festlicher Stimmung. Jetzt kam das große Verbrüderungsfest, jetzt endlich war die große historische Intrige fällig! Mein Schädel brummte von marktschreierischen Gedanken.

Van den Dusen war in der Sonne stehen geblieben. Er schien zu kämpfen. Plötzlich schloß er die Augen und bekam einen Schwindelanfall, bei dem er taumelte. Nun bildete er sich ein, es hätte ihn jemand angeschossen. Wie ein Schlafender stand er da und drohte umzustürzen. Oder er hatte Hemmungen, der Arme, und war sich selbst zuwider, weil er so schnöde hatte handeln und von mir fortgehen wollen. Er kämpfte sichtbar mit dem Ekel; der Gedanke, daß er beinahe da draußen irgendwo abseits von diesem Mittelpunkte des Daseins hätte hausen sollen, erschütterte ihn. War diese Robinsonade[208] nicht doch das Liebste und Beste, das es für uns verlorene Weltenbummler noch auf Erden gab, und war es nicht ein Geschenk, in diesem Schatten zu liegen, den Gott oder Moki oder sonst ein anbetungswürdiger Geist gespendet hatte?

Van den Dusen trat nahe an mich heran. Ich suchte sein Gesicht zu erkennen. Es war eine zusammengeballte Hand, die Innenseite einer Faust, eine Hohlfaust! Es war rot von der Sonne und wulstig und verkrampft. »Um Gottes willen, Mensch, haben Sie den Sonnenstich?« Giftig schnüffelte er umher und nun, er öffnete den Mund, nun sollte die Liebeserklärung kommen. Er sagte:

»Hier kann man nicht bleiben. Hier kann es kein Mensch aushalten. Sie sind ja krank. Sie haben einen schlechten Atem, ich rieche es bis hierher. Sie sollten eigentlich anderswohin. Es ist nicht auszuhalten neben Ihnen!« Bei diesen Worten legte er sich drei Schritte von mir in den fettesten Schatten neben Zana und steckte das verbissene weinerliche Gesicht in die Arme.

Ich bin tot, ich bin gestorben, addio. Der Holländer hat mich gemordet. Er hat mir sein Gift ins Herz getrieben und ich bin daran verreckt. Ich werde nie wieder aufkommen, ich bin nur ein namenloses Etwas, das keine Kraft mehr hat. Da fällt mir ein, dies ist riesig bedauerlich, denn ich werde das Buch, das ich über meine Erfahrungen vom Verkehr und der Wirkung von Mensch auf Mensch schreiben wollte, nie mehr schreiben. Ich hätte es »die Tropen« genannt; nicht nur dem Milieu zuliebe und gleichsam der hypertrophischen und deutlichen Entfaltung aller menschlichen Beziehungen wegen, die hier rein und ungehemmt, tropisch sozusagen ins Kraut schießen; nicht nur, weil das gesamte menschliche Gefühlsleben auf sein Vegetatives zurückgeführt ist: sondern aus Hinterlist, aus Spitzfindigkeit, weil alles Gegebene immer nur eine poetische Methode, ein Tropus ist, und weil mich dieses seltsame Gewächs reizt, das wie eine Vegetation von purem Stoff haushoch, elefantiasisartig anschießt, mir unter die Füße wächst und meinen Standpunkt hebt, und dessen Säfte doch immer wieder mein eigenes rollendes Blut sind und nichts Fremdes. Ha, wie ich dieses Buch geschrieben hätte, flott und fürstlich und überlegen und ohne die Sentimentalität jener Demütigungen, die es mir eingaben! Jetzt ist es zu spät, mein Gehirn ist noch zärtlich wie ein indianischer Sommer, aber ohne Kraft. Ich bin tot und werde es nie schreiben; tot wenigstens zum Bücherschreiben, denn meine Schmerzen haben mich weise gemacht und ich kann schweigen. Ich habe keine Aufmerksamkeit mehr dafür,[209] verborgenen Zusammenhängen nachzuspüren, und menschliche Tiefen und geistreiche Falschheiten sind mir selbstverständlich geworden. Ich will ein einfaches Leben führen, ohne Einfälle und Beobachtungen, ohne Entdeckungen in Raum und Zeit, ohne europäisches Indianertum und Erotik. Ich pfeife auf alle Weiber unter der Sonne, wenn ich sie nicht haben und jeder dahergelaufene Duselkopf und Rohling sie gewinnen kann. Ich habe der wirklichen Tropensonne ins Gesicht gesehen und bemerkt, daß sie noch immer dieselbe ist wie daheim in meinen Knabenjahren. Ich verzichte daher auf sich drehende Maschinenhallen in Hochglut und kollerige Eisenstangen, ich verzichte aber auch auf meine eigene Erfahrung und ihre Bücher, auf jede Lebensbetätigung, die ein Surrogat für das Tropenleben in unserem Blute ist, und wähle eine bescheidene und sinngemäße Existenz. Vielleicht habe ich bis zu diesem Augenblicke nicht daran gedacht, dieses sogenannte »Buch« zu schreiben. Aber meine Bekanntschaften mit Menschen, Dingen und Gedanken gehen im Galopp, sie rasen wie ein Kienspan in Sauerstoff und sind nach der ersten Sekunde seit je gewesen. Ich habe nicht die Ehrfurcht vorm Neuen und werde nur allzubald intim. Ein Buch, das mir in einem gesegneten Momente einfällt, habe ich nachträglich seit je geschrieben. Solche Momente sind während ihrer Passage uralt und ehrwürdig und wir sind einander nicht fremd. Ich habe kein Gedächtnis an Nichtgewesenes. Nichts kommt ja aus dem Menschen, das nicht schon irgendwie in ihm dagewesen wäre, und nichts ist für ihn da, das nicht in ihm da wäre. Was spreche ich da viel von den Tropen? Der Wilde kennt sie nicht, nur der Nordländer, sie sind ihm ein Tropus für seine Glut und das verzehrende Fieber in seinen Nerven. Er erfindet sie, um sich ein Gleichnis zu setzen. Aber sie sind nicht vorhanden, sondern nur eine langweilige monotone Wachstumsbeziehung. Es ist überhaupt nichts da, als diese Wachstumsbeziehung. Was wir nicht mit Leidenschaft erfassen, gibt es nicht. Ich glaube nicht an ein Buch, das ich nicht als eine Notwendigkeit, als ein nicht zu ersetzendes Faktum angesehen hätte, und ich glaube nicht an Leser, in die ich nicht leidenschaftlich verliebt bin. Alles ist erst in der Leidenschaft und die ist ein Diktando unserer Eingeweide. Meine Schilddrüse ist mit Ihnen nicht einverstanden, Fräulein Leserin. Sie kennt Sie nicht, sie liebt Sie nicht; sie leugnet, zu Ihnen in irgendwelchen näheren Beziehungen zu stehen. Ich kann also nichts tun und muß dieses Buch unterlassen. Ich bin über das Buch hinausgewachsen. Es ist immer eine schmutzige Sache, wenn einer Bücher schreibt, zumal[210] aber solche über die Tropen. Denn die Tropen sind die Kinderschuhe der Menschheit. Wer sie ausgetreten hat, wäre reif und dichtete sie nicht. Die Tropen sind die Pubertät eines jungen Europäers. Aber das ist nun der Fluch, den wir aus unserer Herkunft mitgebracht haben: wir reifen eine Zeit und dann ist es aus, die Reife tritt zugleich mit dem Untergange ein. Nun, ich bin reif; ich entsage Weib, Beruf und Buch. Welch herrliches Leben könnte ich mit diesem seelischen Reichtum an Entsagungen führen, wie könnte ich in Primitivitäten prassen und mir durch diese Mäßigung das Leben versüßen? Aber da ich mich nun einmal entschlossen habe, tot zu sein, will ich es auch durchsetzen. Wie spät ist es? Ist es Morgen oder Abend? Fliegen die Störche zum Morgenspaziergang oder holen sie sich bereits die Abendration? Jetzt nimmt die Sonne den höchsten Buschen des Urwaldes ins Maul und kaut mit roten Kiefern sich in ihn hinein. Es ist Abend und es ist Zeit. Ich, auf dem Gipfelpunkte meiner Einsicht angelangt, werde ein kleines Harakiri vollziehen. Störche mit roten Schnäbeln sind ein Zeichen; rote Schnäbel sind Blutzeugen von des Menschen Herkunft, Sehnsucht und Hingang. Soll es eine Browningpistole oder ein Mauserrepetierstutzen sein? Ich wähle den Stutzen – und schieße.

Der Storch stand einige fünfzig Schritt vor mir im Flußsande und sondierte in den überwucherten Wasserlöchern am gegenüberliegenden Ufer. Er war auf den Schuß hin umgefallen, lag einige Sekunden wie tot da, bekam Zuckungen, als ich plötzlich in wilder Pein und mit energischer Reue in der Herzgrube auf ihn zulief, und erhob sich geduckt auf beide Beine. Du erbarmungswürdiger Mensch! Nun war es also doch geschehen, nun hatte der Eigensinn meiner Phantasie doch recht behalten. Bei Gott, ich hatte es nicht gewollt, bei Gott und allem Familienschmerze schwöre ich, ich habe es nie gewollt! Ich habe nie die Absicht gehabt, eine Storchenwitwe zu versorgen, dieweil ich ihr den Ernährer mordete, niemals habe ich im Ernste an das Vergnügen gedacht, meine Schießkunst an einem Storchenschnabel zu beweisen. Aber das ist es eben, mein Lieber. Du zielst auf eine Sache außer dir, auf einen schönen, roten Fetisch, auf ein rotes Ideal, und zuletzt hast du doch dich gemeint. Aber wenn du eines Tages den förmlichen Beschluß faßt, dir ein Leides anzutun, dann ist die Zerstreutheit dazu da, du irrst dich ein wenig und tust es deinem Nächsten. Deine Selbsthinrichtungen vollziehst du an einer Puppe – Mensch, du bist mir verdächtig, mir deucht, du bist ein unheilbarer Dichter. Exponierte Tode mit beschaulichem Weh[211] und anderen fragwürdigen Begleiterscheinungen haben den Vorteil, daß sie die Energie stählen und die Lebenslust ein wenig aufpulvern. Jahrelang kannst du in der Schaukel deiner wogenden Gefühle liegen, abgedriftet im Auf und Nieder seelischer Gezeiten; aber wenn du beschlossen hast, wie dir gebührt und besser wäre, mit dem Mühlstein um den Hals dich zu ersäufen, wo es am tiefsten ist, da erst schnellst du in die Höhe und bekommst Kurs. Siehe da, ist dir der Mühlstein, die steife Krause, nicht ein Rettungsgürtel gewesen? Hast du dich nicht trügerischen Hoffnungen hingegeben über die Schwere deiner Missetaten, und hast du den Auftrieb deines Elends niemals unterschätzt, um nicht schwimmen zu müssen? Wie schwach du dennoch bist in deiner Stärke. Es bedarf nur des Anstoßes, und du rollst unaufhörlich wie ein Satellit. Dein Gesetz ist die Trägheit. Zum Fixstern bist du zu dumm; zu feige, um dich durch das fallen zu lassen, was du im Symbol Weltraum heißt. Hoiohoho, wie du springst, das Opfer deines Symbolismus zu beweinen! Nichts ist köstlicher, als Reue über angetanes Leid. Nichts ist raffinierter als Humanität. Nichts ist praktischer, um das Leben zu steigern. Schieße einen Storch, und du kommst noch einmal zur Welt. Opfere nach gutem, altem Brauche, und der Satan fährt aus dir in die Säue, die du nun dichten mußt. Verschweine die Hölle, das ist Dichterhandwerk, du Liebling der Phantasie. Die Hölle ist der Schmerz. Wenn du ihn aber protegierst, wird er eine Altersversorgung. Und du und wir – ach, wir alle wollen trotzdem leben, obwohl wir zuviel Phantasie haben. Aus Phantasie vergessen wir den Schmerz, aus Phantasie fühlen wir ihn, aus Phantasie leugnen wir ihn. Aber er ist dennoch! Was sitzt, Mensch, hier in diesem Augenblick vor dir? Welche Unendlichkeit? Der Schmerz – ein zerschossener Vogel!

Da stand er auf seinen schrägen zwei Röhren, die in der Mitte Auswüchse trugen, geschweißte Stellen, und benahm sich seltsam genug. Die Federn an seinem torpedoförmigen Leibe, der unter einem gewissen Winkel sichtbar wurde, waren wie eine große Krause aufgestülpt. Ha! dachte ich, bist du nicht eigentlich selbst ein Fisch, du Fischverspeiser? Willst du besser sein als ich? Bin ich deinen Leidenschaften und deinen Askesen auf den Grund gekommen? Ich habe doch mich in dir getroffen. Du verschmähst die üppige Tafel eines brasilianischen Djungles und hältst dich an die Lanzetten, die kleinen Torpedos, die reizvollen Elipsoide in der Zoologie, du hast einen persönlichen Geschmack und bleibst noch dort selbst du, wo du dich in deinen höchsteigenen Abbildern verzehrst. Du bist mir eine Maschine,[212] die sich von ihren eigenen Bestandteilen nährt, in dir habe ich das Symbol aller Entwicklung und aller Lebenstechnik entdeckt. Dein Schnabel ist praktisch genommen ein Futteral für einen länglichen Fisch. Dein Hals hat sein individualisiertes Vorbild in einem Wurm, dein Rumpf aber hat einmal einem kecknasigen Eisfisch als Figur gedient. Deine dünnen Beine beziehst du von der Wasserspinne, die du so sehr liebst; als ersten Gang ein halbes Dutzend vor Tische. Du gibst dich nach deinen Atavismen. Du wirfst keinen Blick auf die brasilianische Menukarte, die dir zur Verfügung steht, sondern trachtest, in Form zu bleiben, und wenn dein Verdauungshorizont auch keineswegs weit ist, so muß man ihm doch zugeben, daß er Rasse hat. In deine gastrischen Verhältnisse spielt das erotische Prinzip der Ähnlichkeit hinein, das wir schon kennen. Du hältst etwas auf erbliche Schönheit, sie allein steht dir zugleich zu Gemüte und zu Magen. Übrigens habe ich in dir einen Typus getroffen. Er pflegt, aus einem Mangel an Unternehmungsgeist und einem zu rassigen Appetite, die aufgelegte Speisekarte des Lebens beiseite zu schieben und hält sich an reine Formalitäten. Er akzeptiert nur Dinge und Geschöpfe, die ihm ähnlich sind, oder solche, die in ihm enmaschiniert wurden. Obwohl er selbst eine technische Fusion niedrigerer Organismen darstellt, ist er einer Weiterbildung nicht mehr fähig. Denn, merkt euch das alle, ihr Störche auf stolzem Einbein, mit den Aristokraten ist es heute vorbei. Sie haben ausgespielt, sie sind ein überlebter Typus. Denn nun ist die Reihe an den Grobrassigen, den Eroberern, den Kolonisatoren und Entwicklern mit dem schlechten Geschmacke und der Initiative des Hungers. Aus dem Chaos, aus dem Djungle werden neue Sattheiten herausgearbeitet. Gifte stellen sich als harmlos und nahrhaft heraus. Moräste erweisen sich als ergiebig. Aus Bohrlöchern brechen unterirdische Quellen, und die Dürste werden mehr von dem brenzlichen Beigeschmack des Vulkanischen, des Erdinnersten und Tiefen gestillt, denn vom kühlen Wasser. Die Formen hierfür sind vorläufig Nebensache; sie kommen noch frühe genug. Denn all dies ist das Werk der Mischrassigen und Geschmacklosen, der Entwicklungsbedürftigen, der Formlosen, der kecken Abenteurer und losen Schnäbel. Sie greifen zu und haben das Leben. Sie nähren sich nicht nur vom Gebotenen, sondern auch vom Bietenden und werden von Speisekarten fett; Programme sind ihr Salz; denn es sind auch Dichter darunter, eine Art Dichter wenigstens mit sehr gesunder oder doch höchst gesunder Verdauung. Wenn sie Krämpfe haben und sich erbrechen, befinden sie sich eben erst am Gipfelpunkte ihrer Behaglichkeit. Vor den[213] anderen heißt dieser Zustand Poesie, und alle gedeihen sie daran. Sie bilden und vereinigen sich zu ungeheuren Organisationen, großzügigen Kriegs- und Köpfmaschinen, bei denen der einzelne genau so verschluckt wird wie ehedem. Aber das tut nichts; das Glück hat sich mitentwickelt. Mit den antiquierten und prüde eingehaltenen Formen, aus denen der Mensch besteht, wird kehraus gemacht. Es gibt weitaus entwickeltere Grade von Leid, keine kräftige Seele, die auf dem Höhepunkte ihrer Zeit ist, sollte sich vom Schreckgespenst eines leidenden Storchen in Entsetzen verwickeln lassen, was immer Faszinierendes daran sein mag. Kusch, Seele, von einem Menschen. Welches Schauspiel, ein vom Mitleide verlaustes Jägertemperament! Habe Ehrfurcht vor dem Gesetze der höheren Kraft!

Das Tier ringelt den Hals und duckte ihn in den Kropf zurück, durch dessen Haut man den Puls pochen sah. Die blassen Lider waren herabgelassen, dahinter zuckten bläuliche Schatten; es waren die Augäpfel. In den Winkeln stand eine dicke, schmutzige Zähre. Wehe, der Storch weinte! Den Schnabel hielt er offen und spreizte ihn gegen den Himmel, wo die Störchin kreisend und mit entsetzt herabgebogenem Halse wie an einem Faden hing. Der Vogel unten bot ein Bild vollständiger Verlassenheit. Ein Streifschuß hatte den oberen Deckel des Schnabels lädiert, das Ende war abgesprengt. Diesen Span reckte er mit steinerner Geste zum Himmel. Als ich ganz nahe war und ihm einen Puff mit dem Gewehrkolben gab, begann er wie verrückt mit seinem Instrument zu knattern, aber es gab keinen Laut mehr. Diese Erregung wirkte schädlich. Er machte Schlingbewegungen und übergab sich. Bei dieser Gelegenheit wurde in seinem Schnabel ein kleines Fischlein sichtbar, es war eingeklemmt und schoß von Zeit zu Zeit Reflexe, es lag dort und bewegte sich wie eine kleine Mine von Leben. Diese explosiven Reize mochten unter andern Umständen einen trefflichen Kitzel ausmachen, eine Art motorischen Pfeffers. Jetzt waren sie aber überflüssig, das bewies die Haltung des Blessierten. Ich stellte schnell meine Diagnose. Heftige Kopfschmerzen, Gehirnerschütterung, vermutlich Irrsinn und Versagen des Sensoriums. Ich stupste den Vogel, als er bereits wieder mit seinem Spachtel stumm zum Himmel sang. Er bediente sich immerhin zweier Beine, er, der Dünne, hatte das aristokratische Dicketun in diesem ernsten Augenblicke aufgegeben. Solange meine Rippenstöße zart blieben, rührte er sich nicht; erst auf eine heftigere Attacke hin reagierte er mechanisch nach dem Gesetze der Schwerkraft und verlegte seinen Standpunkt nach rückwärts. Durch sein gesträubtes Gefieder sah ich[214] ihm unter einem Winkel bis auf die warzige Haut. Ich schoß ihm eine Kugel durch und durch. Er brach mit laffen Gliedern zusammen, nachdem er kurz nach dem ersten Chock versucht hatte, die Flügel zu spannen. In seiner Zerstreuung versuchte er den gewohnten Aufstieg, vergaß für den Bruchteil einer Sekunde aufs Sterben, gab aus Gedankenlosigkeit einer alten, lieben Gewohnheit nach. Aber in diesem Stückchen Sekunde mußte sich in ihm eine rapide Entwicklung vollziehen. Die Stadien seines Seelenlebens prasselten aneinander vorbei. Und unter dem Hochdruck dieser Schnelligkeit hatte er sich einmal umgedreht, war einmal kurz und rund um sein ganzes Storchendasein herumgekommen und zu Boden gestolpert. Sein zerspänter Schnabel stand noch immer voll ungeklapperter Klagelaute offen.

Plötzlich hörte ich einen Laut, ein Geheimnis von einem Schrei, das Sigel einer menschlichen Stimme, wie ich es deutete. Als ich mich emporrichtete, geriet ich in die Flugbahn eines Dings, das von oben auf mich zukam. Es war die Störchin, die mit an den Busen geknallten Beinen ihren roten Schnabel nach mir dehnte. Schöne Geschichte das! Ich zielte. Sie kam einige Schritt von ihrem Gatten zu liegen. Unter den Leichen kroch jetzt der Blutwurm hervor, es machte mir aber nicht wohl. Ich sah schnell weg. Meine Empfindlichkeit war krankhaft geworden. Kaum aber sah ich weg, juckte es mich, wieder hinzusehen.

Im übrigen schien mein Fieber ausgetobt zu haben. Nach diesem Coup kam Leben in mich. Hungrig stürzte ich mich in den Djungle, mein ganzes Nervensystem war wie eine Vergrößerungslinie, die die feinsten Vorgänge und Effekte des gepferchten Lebens aufnahm. Die tatzengroßen Blätter schlugen hinter mir zusammen, ich trat in ungewisse Löcher und balancierte über schlüpferige Stämme. Ha, war das der Djungle, der mich einmal so schaurig grün angestarrt hatte wie das Gespenst einer länderlangen Schlange? Dieses Gewimmel kam mir bekannt vor. Ach, ich war krank gewesen, hinfällig an Körper und Seele, und ich hatte die Philosophie eines Schwächlings gehabt. Es gab doch nichts über einen lustigen, allezeit appetitanregenden Positivismus! Alte Pläne tauchten in mir auf und Sehnsucht nach Urälterem. Ich wollte all meinen Lebensrest der prächtigen Existenz unter breitblätterigen Pflanzen weihen, wollte ohne die Hemmungen der Zivilisation meinen reinen menschlichen und tierischen Trieben opfern; ja, ich wollte mir ein Weib nehmen und als ebenbürtiger Sohn der Tropen gebotene Süßigkeiten auskosten. Mit den Ideen wird Schluß gemacht, ich verlege mich ganz auf die benachbarte Realität,[215] ich ziehe mich in die tiefstmögliche Dimension zurück. Ich werde mein Buch nie schreiben, denn es ist niemand da, für den ich es schreiben möchte. Da ich weiß, daß die Welt dadurch nicht verändert wird, da ferner die Dinge schön sind, auch ohne daß ich davon erzähle, werde ich dieses Buch nie schreiben. By Jove, das war die verrückteste Idee von mir, das mit dem Bücherschreiben. Wie mochte ich alter Mechanikus nur auf diese Idee verfallen? Die Antwort steckt in meiner Geburt; ich bin aus dem literarischesten Volke der Welt geboren. Dies kommt davon, daß die gotischen Sprachen ein wahrer Teufelsspuk von Formen und Ideen sind, ein umgebautes Münster in Bestandteilen, eine unerhörte Verführung für das arme Menschenkind, zu dichten und zu denken. Jetzt aber ist die Affäre beigelegt und jetzt erst ist mir ein Dom vom Herzen gefallen. Hurra, ich habe ewige Ferien, ich kann den Gedanken schwänzen und vom Nichtstun leben. Ist es nicht meine eigentliche Bestimmung? Der lustige Bruder hat mir seit je im Blute gesteckt, soweit ich zurückdenke, bin ich nie was anderes als ein besserer Vagabund gewesen. Ich nehme mir ein Weib. Heute noch gehe ich mit Zana durch, wir leben als Adam und Eva und zeugen ein vollständig neues Geschlecht von Menschen. Das letzte war etwas verpfuscht. Da wir keine Hemmungen kennen, gibt es bei uns auch keinen Sündenfall. Damit erlöschen auch die hygienischen Verkehrtheiten, Syphilis, Schwindsucht und Konsorten sterben aus, denn von nun an leben wir naturgemäß. Zana ist ein gesundes Mädel. Wenn sie sieht, was für ein Kerl ich jetzt bin, sticht sie um meinetwillen zehn andere tot. Ich bin der beste Schütze des brasilianischen Urwaldes. Hört! hört! Ich treffe – oho, was ist los?

Von der Seite her nahte sich ein Brechen und Knacken von Zweigen. Eine Bewegung glitt durchs Unterholz. An den Spitzen der Bäume, die sich schüttelten, konnte man ihr Fortschreiten beobachten. Es war ein Tier, schon begann ich Farben zu sehen, vorwiegend Weiß, das zwischen dem Netz von Blättern auftauchte. Konnte es ein Panther sein? Ich stieg auf den nächsten höheren Ast und verschaffte mir eine Position. Es war ein kleines panthergroßes Tier, es pürschte sich aber mit auffallendem Lärm und kunstlos durch den Djungle heran. Sein Kurs lief an mir vorüber schräg zum Flusse hinab und mußte ungefähr gegenüber unserer Lagerstelle münden. Nun war es einige zwanzig Schritte vor mir, aber über sein Wesen war ich noch nicht im klaren. Es wandte einen menschenähnlichen Kopf hin und her, es war weiß, für ein Faultier war es aber trotzdem zu schnell. Donnerwetter, es hatte einen verdammt[216] menschlichen Kopf, war es ein weißer Affe? – – – Hahahaha, hahaha, das war es? Also das war es, nein, hoho, das war doch – – – Bis zum letzten Augenblicke sah es her wie ein verhältnismäßig kleines Tier, so groß war der Djungle, so groß und stark waren die Bäume. – Nämlich, es war das Lachen, das weiße blanke Lachen. Es war das Lachen im Urwalde, eine ganze Symphonie von Lustigkeit, es war ein homerisches Gebrüll der Natur ob ihrer Überlegenheit über den schmächtigen Menschen. Die Natur lachte, der Djungle lachte, meine Seele aber lachte mit. Denn dieses Weiße, dies kleine weiße Tier da – – –

Es lag wirklich ein unerschöpfliches Lachen in Slims Haltung. Er sah so klein aus inmitten dieser Umgebung, so untergeordnet. Er ging mit heftigen Bewegungen ins Zeug, ich konnte einen Augenblick sein Gesicht sehen, es zeigte den Ausdruck von Spannung. Dieser Mann folgte einer Sehnsucht. In bübischer Haltung saß er dann endlich hinter dem Buschwerk an der Lisiere und starrte mit kranken Augen zu unserem Lagerfeuer hinüber. Er hielt ein Binokel vor die Augen und sah und sah sich satt. Das tat er eine Viertelstunde lang. Dann kroch er langsamer, als er gekommen war, den Weg zurück. Ich saß still. Er kam ganz nahe an mir vorbei, warf mir seine Traurigkeit ins Gesicht, aber er erfaßte meine Anwesenheit nicht. Ich horchte den Lauten der Gewaltsamkeit, mit denen hier jedes Weiterkommen verbunden war, gedankenvoll nach. Warum hatte ich ihn nicht angerufen?

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 196-217.
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