XXXII

[261] Das Fieber brach ins Lager ein und die Hungersnot kam ihm zuhilfe. Wir beiden Europäer lagen hilflos in uns begraben. Unsere Macht ging nicht über unsere Fingerspitzen hinaus und unter unseren Leuten hauste die Empörung. Ein wüster Tumult war unter ihnen ausgebrochen. Einer der Männer lag von Messerstichen zerfleischt neben uns; Zanas weibliche Natur kam zum Durchbruch, sie nahm sich seiner an und heilte ihn mit den Künsten der Priesterin. Sie sprach viel und in erregtem Ton: sie hatte eine Rolle unter den Männern. Plötzlich schoß mir, der ich alle diese Dinge im Zustand des Halbbewußtseins wahrnahm, der Gedanke durch den Kopf: wie, wenn sie nun den Vorschlag gemacht hätte, die beiden höchst überflüssigen Europäer aus dem Wege zu räumen?

Zuzeiten konnte man sie jetzt singen hören. Sie sang einförmige tiefe Lieder, eine natürliche singvogelartige Schwermut lag in ihnen. Vielleicht besang sie ihr Heimatdorf, vielleicht waren diese halben Noten die Sehnsucht nach dem Stamme und nach den Tänzen des herrlichen, allgewaltigen Moki? Ach, ich hatte die süße Emanzipierte nie gehabt! Mit allen war sie auf behenden Knöcheln in den Djungle geschlüpft, allen hatte sie sich in ihrer wilden Lust gezeigt, rings herum hatte sie ihre Liebe verschenkt und niemand hatte sie richtig gewürdigt. Ich aber, der ich allein Verständnis für die Art ihrer Leidenschaft[261] gehabt hätte, ich hatte sie niemals besessen. Ich war an ihr verdorben und verhungert. Denn jetzt war es Zeit, jetzt kam es zutage: dürr und unbefruchtet war meine Männlichkeit geblieben. Es war die alleinige Ursache aller meiner Schwächen gewesen. Meine Herren, Sie wissen, das bringt herunter – und ich hatte ja Zana nie gehabt! Erfolglosigkeit untergräbt den besten Charakter, in der Liebe aber ist es eine unmögliche Position. Slim hat behauptet, unser Geschlecht kenne die Sehnsucht nicht mehr. Dies bleibe dahingestellt. Sicher ist, daß es tausend Gründe für einen Mann gibt, sich zu verlieren, und diese tausend Gründe sind oft nur ein Weib. Ich habe Zana nie bekommen. Das genügt, um alle diese Verwickelungen zu erklären und eine Geschichte zu schreiben.

Es genügt, um sich in Träumen zu nehmen, was einem in der Wirklichkeit versagt ist. Die Zwiebackkaissons waren erbrochen, die Konservenbüchsen geleert und eingetreten. Niemand brachte Wildbret ins Lager. Aber je stärker der Hunger sich meldete und je dünner ich um die Hüften wurde, desto unwiderstehlicher wurde die gleichfalls magere Schönheit Zanas, diese Hungerschönheit, diese krankhafte asketische Zärtlichkeit, die in ihren Körperformen festgehalten war. Ich liebte Zana mit dem Geschmacke, ihr Anblick zerlief mir am Gaumen. In meinen Hungerdelirien beschäftigte ich mich mit den Reizen ihrer Knochen, über denen die Haut gespannt lag. In meiner eigenen Bauchhöhle wurden die edlen Organe muskulös, ich konnte sie gebrauchen wie dressierte Bestien, und ich gebrauchte sie, um mir auf Grund ihrer originellen Kräfte die unerhörtesten Zärtlichkeiten für Zana vorzustellen. Der Zusammenhang zwischen den primitiven Nöten der Menschheit war hergestellt. Jawohl, ich schmeckte damals den Liebreiz Zanas. Ich umarmte sie mit meinen Eingeweiden, ich bewegte mein Herz aus dem Brustkasten und legte es sanft an ihre Wange, ich ließ es eine Weile stillstehen vor Jubel und ließ es wieder tanzen zum Preise Zanas, ich zog meinen Körper in Demut zu einem einzigen sehnigen Splitter zusammen und sprengte ihn in die Luft durch einen einzigen heftigen Willensakt. Dies alles tat ich und viel andere Muskelkunststücke mehr um Zanas willen, und weil der Hunger mir die Männlichkeit zurückgab, die ungestillte Liebe mir genommen hatte.

Träume kamen und Tage. Sie glichen sich und enthielten einander. Aber dann kam ein Tag, und an diesem Tage bekam ich Zana doch. Nichts hatte ich im Magen, ich war nüchtern bis auf die Knochen aber voll Glut, und ich erfaßte die scharfsinnigsten Dinge[262] im Fluge. Es war die leere Wärme, mit der mein Mastdarm sich beschäftigte. Doch dieser Dunstumschlag von innen her tat gut, er bewirkte eine einigermaßen lebhafte Verdauung, so daß ich meine eigenen Gifte zu schlucken und zu fressen anhub. Am zweiten Tage, da ich nichts gegessen hatte, war ich soweit, daß ich mich inmitten der lustigen Hitze, die mich umgab, zu dehnen und zu strecken begann, Herz, Leber, Darm und Milz einzeln springen ließ, wie gesagt, und einen deutlichen Aufschwung meiner Energie wahrnahm. Dies war der Höhepunkt, mußte ich mir sagen. Die Hitze war gut aufgelegt, sie krachte, sie sprudelte vor Klapperdürre. In diesen Tagen hatte ich keine Empfindungen. Es war, als wäre ich an eine Vergrößerungsvorrichtung angeschnallt, so unermeßlich und ewig war der Ausschlag, den alle Reize in ihrer Art hervorriefen. In diesen Tagen fiel die Sonne vom Himmel zur Erde herab. Dort lag sie am Buckel wie eine ungeheure vollgesogene Wanze und zappelte mit tausend Beinen, stach mit tausend Rüsseln und konnte sich nicht mehr erheben. Ich fühlte nun genau, wie sie am Rücken lag und nicht mehr aufkonnte. Ich fühlte sie am eigenen Leibe, ihre Verlassenheit und Breitspurigkeit, es war eine ungeheuer wirkliche Mitempfindung trotz ihrer Seltsamkeit, die mir übrigens nicht weiter auffiel. Manchmal fühlte ich, ich selbst wäre die Sonne. Als aber während des Tages die bissige Riesenwanze sich doch einmal zusammenraffte und langsam in den Schatten hinter der grünen Laubwand kroch, kam eilig der Mond gefedert und wurde immer deutlicher und schwerer. Zuletzt spießte er sich an einen hervorragenden Ast und beutelte sich zu Tode wie ein kleiner Vogel. In ein paar Zuckungen war es getan. Der flockige Seidenballon platzte entzwei und daraus schlüpfte zart eine dünne weiße Frau, die sich bald in Zanas schmachtende Formen verwandelte.

Sie wechselte die Farbe und wurde rot. Wolken dampfenden Sonnenunterganges brachen aus ihr hervor und hüllten sie ein. Ich entsinne mich dieser Vision genau. Plötzlich gingen diese Wolken auf und nieder. Sie trugen etwas dahin, sie waren Wasser, und was sie trugen, war der Körper eines bärtigen Mannes. Ich strengte mich an, das Bild zu verfolgen. Und da es Abend war und mein Kopf sich scharf und klar fühlte, gelang es mir, lückenlose Verläufe zu bilden von Dingen, die das unberauschte Gehirn nur als Fragmente und Rätsel erlebt. Atemlos folgte ich den Bewegungen des Körpers, indem ich mich mit Spannung wie in Erinnerungen verlor. Der Körper tauchte ein paarmal auf und nieder und kam dann wieder über Wasser. Man konnte sehen, daß er lebte. In mich[263] gehend stellte ich mir vor, was nun geschehen müßte. Der Mann im Wasser streckte die eine Hand empor und ballte sie zu einem Griffe. An seiner linken Schläfe klaffte eine lange Wunde, aus der Blut floß. Diese Wunde speiste das umliegende Wasser mit einem trüben Rot. Dann kam eine kleine Verwirrung, ein Rudel von Bewegungen, das ich nicht zergliedern konnte, weil es zu schnell aufeinander folgte. An diesem Punkte war meine Phantasie etwas weniger exakt. Ich hatte immerhin Zeit genug, zu bemerken, daß von irgendwoher aus der Luft der Schaft eines Ruders sich löste und mit Vehemenz auf die linke Schädelseite des Mannes herabsenkte. Der Getroffene hatte einen Seufzer ausgestoßen, einen unbedeutenden melodischen Schrei, der alle Töne einer Brust umfaßte. Diesen Ton kannte ich, hihi. Es ist das Liebesflöten des Kakaduweibchens, wenn der leidenschaftliche Herr und Gebieter von ihm Besitz nimmt, wenn sein scharfer Schnabel die Geliebte am Halse, an den Augen, an der großen Schlagader kitzelt. Diesen tiefen Brunstschrei stieß der Mann aus, dann sah ich ihn ruhig im Boote sitzen.

Dort saß ich selbst. Das Boot glitt über zwei Welten dahin. In der einen konnte ich nur vorwärts und nicht hinter mich sehen. Die untere Welt aber eröffnete mir ungeheure Möglichkeiten von Teilnahme. Ich war bei verschiedenen Dingen, zum Beispiel bei mir selbst, gegenwärtig, ich konnte eine ganz eigenartige reichhaltige Kontrolle über das Leben ausüben. Dort saß ich und hielt einen großen berühmten Monolog über Spiegelungen und Phantoplasmen. Inzwischen kamen die Sterne zu mir herab, sie dufteten warm und waren rot und grün und bläulich, sie bewirkten eine sanfte Harmonie, während sie flogen. Manche aber hatten einen giftigen Atem, sie stießen mich an und bissen mich ins Blut. Ich schlug sie mit der flachen Hand tot. Dann gab es einen lauten Klatsch, sie erhoben sich jedoch und verließen mich in meiner Undankbarkeit. Wenn ich munter und für Augenblicke kühler wurde, wischte ich mir die blutigen Leichen zerschmetterter Moskitos von Kinn und Händen. Ich hatte sie unglückseligerweise mitgetroffen, während ich nach bösen Sternen jagte.

Das war der Zauberer Hunger. Er machte mich zur Vergrößerungslinie für Ereignisse des Lebens unbedeutender und brutaler Art. Er stürzte mich ins tiefste Elend und in die schmutzigste Schmach. Zugleich aber gaukelte er Trug vor mich hin, und als ich am tiefsten in mich und meinen Niedergang getaucht war, da riß er mich empor in die Ekstase und gab mir verzweifelte Kräfte. Eine große,[264] schwarze Sammethummel brummte, und da war es wieder wie vor Jahren, als ich ein Bub war und lag daheim zwischen hohen Gräsern in der Wiese. Das Hummelchen in dem schönen, schwarzen Pelze mit den goldenen Tressen brachte seinen kleinen, kräftigen Körper vor einer Blüte zum Stillstand und summte eine Honigweise. Der Bub lauschte; es war wie die Stimme einer alten Frau hinterm Walde. Da wußte er, daß er allein sei und ein zärtliches Gefühl zog ihm über den Magen herauf Alle die Heimlichkeiten seines Körpers kamen da über ihn, seine Intelligenz wurde scharf und findig, und er erkannte, wer er war. Er erkannte sich als einen Körper.

Wenn man die vielen seltsamen Dinge, die man an seinem Körper erlebt, erzählen könnte, welches Märchen, welche wunderbare, unglaubliche Geschichte würde das werden, welches wichtige Werk für die Menschheit! Gibt es Abenteuer? Alle Abenteuer sind nur Abenteuer der Nerven. Hier lag ich unter dem glühenden Himmel, dessen ich mich damals in meinen Träumereien gleichsam entsonnen hatte. Nun war da wirklich jenes Blühen und Gedeihen, das mir der heimische Wald nur ahnungsvoll versprochen hatte. Ein summendes Insekt, ein mystischer Mechanismus, wie eine kleine fellige Hand, die durch die Luft fliegen und Blüten ergreifen konnte, hatte die Stimmung der Hummel wieder. Hier war das Original knabenhafter Wollust der Ahnung. Und nun kamen alle die himmlischen Gefühle wieder und rumorten in meinen Eingeweiden. O, mein nüchterner Magen war schwer von Liebe! Ich war mager wie ein Asket, aber meine Nerven waren so fein, daß ich an der Art, wie das Leinen meines Anzuges sich an ihnen scheuerte, mich über meine dünnen Sehnen unterrichten konnte, die gute Kraft beherbergten. Ich war biegsam wie ein Fakir und ekstatisch wie nur ein Hungernder. In diesem Zustande hatte ich dann mit mir und meinen Nerven ein Abenteuer, das mir bis heute nicht genügend aufgeklärt erscheint, um Schlüsse für die Wirklichkeit daran zu knüpfen.

Mir ist, als hätte ich Zana doch bekommen. Ich fühle mich frei und bereue nichts. Ich habe nicht die Empfindung, als wäre diese Reise in irgendeiner Art ein Minderwertigkeitsbeweis für mich geworden. Wäre ich unbefriedigt, so dürfte ich daraus wohl schließen, daß ich Zana niemals bekam. Ich fühle mich aber wohl, und es geht mir gut. Ich möchte es hier gleichwohl nicht als Tatsache hinschreiben, daß ich Zana bekam. Denn ich weiß über diese letzten Ereignisse so wenig, wie über die wichtigsten äußeren Ereignisse während dieser Fahrt überhaupt. Sie sind für mich in einen undurchdringlichen[265] Schleier gehüllt, den ich noch heute oft genug zu lüften mich bemühe. Aber ich habe nichts behalten als die Erinnerung an Gedanken und unerklärliche Vorgänge, die mich seelisch beeinflußten. Man muß in Rechnung ziehen, daß ich wahrscheinlich von allem Anfange an bereits unter dem Fieber litt, ohne es in bestimmender Weise zu merken. Ich erzähle, was ich erfuhr und dachte. Die einzelnen Vorgänge durch ein sachliches und detektivartiges Schließen zu verbinden, liegt nicht in meinem Interesse. Ich kann und darf nicht die letzten Konsequenzen aus den Vorgängen ziehen, so wie sie sich mir eingeprägt haben. Ich gelangte sonst zu Ergebnissen, die mich abhalten müßten, dieses Buch zu schreiben. Auf der anderen Seite habe ich mir bei meiner Berichterstattung schonungslose Aufrichtigkeit zur Pflicht gemacht. Ich halte es daher für einen wesentlichen Teil dieser Geschichte, meine damaligen Zustände und Empfindungen in ihrer ganzen Verschwommenheit festzuhalten.

Van den Dusen wälzte sich von einer Seite auf die andere, erhob sich und blickte mich starr aus roten Augen an, als ahne er, was in mir vorging. Er hielt um diese Zeit lange Selbstgespräche, in denen geheimnisvolle Sätze vorkamen. Er war irr, und ich gebe sie hier nicht wieder. Ich sprang auf und lief hinaus an die Sandbänke des Flusses. Dort stand Zanas lange Gestalt. Sie stand mit beiden Füßen im Wasser. Der Strom war im Steigen und überflutete die verwischten Dünen. Ein heller Ton, ein Klingen lag in der Luft, an verschiedenen Stellen rieselte ein seichtes Gefälle über das Geröll, haha, hoho! und Zana stand mit den Füßen im Wasser. Ihr im Rücken lagen verstreut einige Blöcke. Dahinter duckte ich mich und pirschte mich an. Bei dem letzten Stein hatte ich eine Begegnung. Dort saß, Zana zugewandt, unsere alte Rothaut. Der alte Kerl saß ziemlich welk und vergrämt da und sang leise, sah zu, wie Zana im Wasser stapfte. War vielleicht verliebt und besang ihre Beine, der alte Herr. O Gott, sie waren jetzt so dünn wie sein eigener alter Arm. Ich sprang unversehens hervor und verursachte für Zana ein kleines Bad, sie zeigte sich aber durchaus nicht erschrocken, als ob sie mich geahnt hätte. »Was hat er denn?« frug ich, auf den alten Indianer weisend, dessen Anwesenheit mich ein wenig enttäuschte. Ich frug es englisch und eigentlich nur, um einen Anknüpfungspunkt zu finden, obwohl alle Verständigung mit solchen bürgerlichen Mitteln hier hoffnungslos war. Zana verstand es aber nun doch, antwortete zischend und fauchend und legte die Hand auf den Magen, indem sie ihn einzog.[266]

Ein darbender Greis! Die Jungen verließen ihn, seine alten Knochen waren nicht mehr rüstig genug zur Jagd, nun siechte er dahin und gab in Hungerstimmung seine letzte Lebensweisheit preis. Wer weiß, vielleicht machte es ihn produktiv, und er erfand neue Themen über das Leben eines Indianers oder neue Behandlungen, was das gleiche ist. So wie er dasaß, schien er zu seinem Stein zu gehören, ein Stück Urgebirge, die Verwitterung selbst, ein Abbild alles dessen, was in der Wildnis an dem Menschen zehrt. Und weil es nun schon einmal sein Schicksal wollte und weil auch ich mit Hunger gesegnet war, ließ ich ihn dort sitzen, wo er saß, und nahm Zana bei der Hand. Ich inszenierte eine regelrechte Entführung, rekonstruierte gleichsam das Urbild aller Liebesehen. Zana wog federleicht, als ich sie auf meine Arme nahm. Ich rannte ein Stück stromauf, bis sich eine Gelegenheit ergab, dort flogen wir in die Büsche. Sie riß mir die Kleider vom Leibe, sie selbst war nackt, sie biß mir die Lippen wund und geiferte mir ins Gesicht vor Liebe. Sie stöhnte und führte Tänze auf, während sie in meiner Umarmung hing. Ich sah das Weiße ihrer Augen durch einen Spalt, ich hielt mit rasendem Entzücken ihre dünnen Knochen in meiner Hand ... da krachte ein Schuß.

Kurz darauf folgte ein zweiter und ein dritter. Die Kugeln vibrierten einen Augenblick über unseren Köpfen und trafen dann klatschend in fleischige Stengel. Der Knall war stoßartig und dünn und stammte aus einem leichten Gewehr. Den Knall kannte ich. Zana entsprang mir aus den Armen, ich folgte ihr und befühlte mein Gewehr, ob es auch das meine war. Denn in diesen Zeiten, da so allerlei Sonderbares vor sich ging – – –

Ah, Zana war süß in ihrer Liebe, und es ist fraglich, ob ich sie jemals anders bekam, als in den schwülen Träumen des Fiebers. Und doch ist es sonderbar, wie alle diese Visionen von damals in mir haften blieben, während ich mich auch nicht der kleinsten Tatsache folgerichtig entsinnen kann. Ich schluchze vor Freude, ich habe noch jenes innige Gefühl von damals in der Magenhöhle, wenn ich mir die Süßigkeit Zanas aus jenen Zwischenzuständen ins Gedächtnis rufe, die Wirklichkeit und Ausgeburt zu einem untrennbaren Erlebnis verschmolzen. Wie anmutig ist sie damals gewesen, als wir unseren Freund van den Dusen mit allem Pomp der Zärtlichkeit für seine sinnige Art, auf uns zu schießen, durch brausende Gunstbezeugung glücklich machten! Ich schoß ihm eine Kugel durch und durch, sie traf ihn auch richtig an einer kitzlichen Stelle in die Eingeweide, wo[267] die Liebe wohnt. Aber dann hättet ihr Zana sehen sollen! Ich entbrannte lichterloh, ich fand sie reizend wie nie, als sie ihm die Nase abschnitt und nichts zurückblieb, als ein merkwürdiges, interessantes Gehäuse, das einer entkernten Pflaume ähnlich sah. Ich war verliebt bis zum Wahnsinn, als sie mit den Füßen auf den Bauch trat, und ich tat mein möglichstes, ihr darin beizustehen. Aber du mein Gott, mein Talent dazu erwies sich als gering, ich war europäisch verzärtelt, und außerdem war es ja nur ein Traum, in dem allerlei Hemmungen die Tätigkeit zu beschweren pflegen – – –

Ja, es hatte in der Tat einmal jemand auf uns geschossen, dessen kann ich mich als bestimmt erinnern. Und gerade als wir, erfreut über diese Zutat zu unserem Liebesidyll, aus dem Busch herausstürmen, will es der Zufall, daß wir dem Holländer in die Arme laufen. Wir brechen wie ein Sturmwind über ihn herein, wie eine zahlreiche und siegestrunkene Armee, wir erschossen, erstachen und erdrosselten ihn, wir schlugen ihn aus Zufall auf den Kopf, und sofort entstand dort oberhalb der linken Schläfe eine große mystische Beule, die das Gesicht ins Schiefe verzog. Haj, wie war Zana reizend, als sie ihm mit den Fingern die Augäpfel aus den Höhlen zog, diese kleinen Globusse mit den merkwürdigen, graubestrahlten Polarfeldern inmitten quarzweißer Ozeane und Landkarten roter Adernströme! Der Pol strahlt kühl und abgeblendet und in spektraler Auflösung wie ein Nordlicht. Schon ist das Auge eine Erfindung der Vernördlichung, Wesen, denen es gut geht, die noch mit Urzuständen sich verstehen, haben keine Augen und die einfachsten Organe genügen zum Glücke. Ich weiß nicht mehr, ob just dies unter den obwaltenden Umständen damals meine Gedanken waren; aber ich habe sie gefühlt, ich habe das ein wenig Befremdende, um nicht zu sagen Schauerliche des Vorganges durch diese Theorie intimer gestaltet. Zana hatte damit noch nicht genug. Sie besaß genügend Erfindungsgabe, sie riß ihm also die Kleider in Fetzen vom Leibe und brachte ihm eine böse Verletzung an seiner Mannbarkeit bei. Sogleich fühlte ich einen brennenden Schmerz. Solche Liebkosungen waren unerlaubt und ich wurde eifersüchtig. Die ganze Lustigkeit spielte sich in selbstverständlicher Art und Weise ab, wie es nun schon einmal mit Träumen geht. Alle moralischen Hemmungen fallen hinweg, dafür aber treten solche mechanischer Natur hinzu. Diese waren nun im gegebenen Falle durch eine schwere Last und einen bösen Druck am Halse dargestellt, der sich erst langsam, dann aber plötzlich löste. Ich schließe die Augen und vermag mich noch jetzt an diesen Druck zu erinnern. Er enthielt[268] etwas Grauenhaftes, die unerwartete Erfüllung von etwas Erwartetem. Wie wenn man lange Zeit hindurch und oft daran gedacht hätte, daß sich eine Mörderhand einem um die Kehle schließe ... und nun tritt es plötzlich ein, und man spürt das Unglaubliche sich nahen. Dieser bloße, grauenhafte Druck wurzelt so tief in meinem Bewußtsein, daß die Zeit ihn nicht hat verwischen können. Ja, ich schließe die Augen und denke angestrengt nach, ich suche das Traumbild heraufzubeschwören, das diesen wahrscheinlich durch Blutstauungen und durch eine Schwellung des verdursteten Halses erzeugten Druck begleitete. Langsam dämmert in mir eine Vorstellung. Sie ist entsetzlich genug, entsetzlicher dadurch, daß ich nicht weiß, ob sie dem Traum angehört oder doch der Wirklichkeit. Ja, es muß wohl so gewesen sein. Er lag zuerst auf mir, er war ein schwerer Mann, er hatte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf mich geworfen, während wir rangen, und mir mit seinen Händen den Hals zugeschnürt. Zana befreite mich, indem sie ihn bösartig auf den Kopf schlug. Ja, das war es, jetzt erinnere ich mich auch der anderen Kleinigkeiten. Sie war es, sie schlug ihn auf den Kopf, links oben; und es entstand eine große Beule, die sein Gesicht lächerlich viereckig erscheinen ließ. Er stieß einen langen, piepsenden Laut aus, als ob ein Vogel in seiner Brunst sich meldete. Dann rollte er von mir herab, und der Druck ließ nach. Wir versüßten ihm seinen Todeskrampf. Jetzt erst begingen wir feierlichst Slims Todesopfer, wie es gute Sitte ist. Es wurde nach altbewährtem Geschmacke unter einem Segen von Schönheit vollzogen. Zana sah bei dieser Gelegenheit entzückend aus, wie gesagt. Ich wunderte mich über nichts, das ich sah, und erstaunte das erstemal in Rio, als ich aus meinem wochenlangen Fieber erwachte und gedankenvoll in die Dämmerung meiner Phantasien zurückging.

Ich muß mich erinnern, wie sie da vor mir stand, wirklich und ein Wesen von Fleisch und Blut, oh, welchen Blutes, und doch auch in einem Rahmen der Einbildung und der Halluzination! Sie stand gleichsam nach der Tat als Täterin vor mir da. Und obwohl sie klein war und mir bis zu den Achseln ging, der ich kein Riese bin, schien sie mir doch groß und prächtig. Groß und siegestrunken sah ich sie, und jeder Knochen an ihr schien mir wertvoll; wertvoller als irgendein anderes Stückchen Mensch. Ich bemerkte nun, daß ihre Füße und Hände keineswegs klein zu nennen waren, wie ich sie aus herkömmlicher schlechter Poesie gemacht hatte. Sie waren im Gegenteile groß und lang, hager, wie alle ihre Gliedmaßen, und es war eine[269] edle Kraft in ihnen. Ich, der ich krank und schwach auf dem Rücken lag während unserer tagelangen Talabfahrt im Boote, ich vergötterte diese langen Gelenksketten, ich fühlte meine Minderwertigkeit vor dieser praktischen fieberlosen Schönheit, ich war bis über die Ohren in das Skelett ihres Rumpfes verliebt. Man sah, wie weise und sparsam sie erbaut war, ganz auf Funktion eingestellt wie der Rumpf eines Raubtieres. In diesen Tagen änderte sich mein Blick.

Ich bekam einen neuen Blick. Verbraucht, wie ich war, kam ich auf der anderen Seite des Lebens frisch auf die Welt. Meine Nerven waren zerrüttet, ich litt unter Hunger, ich verdaute die Pflanzen und Blätterkost, die mir Zana verabreichte, schlecht; ich war immer schlaflos und immer schläfrig; vielleicht waren in den Speisen auch opiatähnliche Chemikalien enthalten. Kurz, es brach eine regelrechte Rebellion unter meinen Sinnesorganen aus. Erst jetzt, in diesem Zustande höchster Nervosität, war ich bei dem geschärften Sinnesleben der Urvölker angelangt. In diesem Zustande von Hyperästhesie kam ich dem Ausgangspunkte funktionellen Lebens näher, ich empfand, was jener Urmaler hatte verkünden wollen, eine wahrscheinliche sinn- und zeitgemäße Schönheit, die kein Abfall von mehr oder weniger Zeichentechnik war, sondern bei der sich's leben und genießen ließ. Hatte ich nicht Zana, die menschliche Wildkatze, immer schon geliebt? Plötzlich war es mir klar, daß ich seit je unter dem Banne dieses ganz andersartigen originalen Knochensystems gestanden hatte, ohne es recht anders als literarisch zu wissen. Jetzt aber brach die Leidenschaft grün aus mir hervor und all mein Vegetieren waren Gesänge zum Preise dieses Geschöpfes, das ich mit pflanzenkühlen Umarmungen beglückte. Zana, wir sprangen ins Boot und fuhren flußab, als der Strom eines Tages anschwoll; wir gingen deinen Leuten durch, die sich untereinander spießten und brieten: Hunger litt ich, aber wir liebten uns wie Götter und ich lebte weiter dank deiner herrlichen Geschenke. Einen Wechsel noch hatte ich zu bestehen, ich, der Kranke und Fiebernde bekam den gesunden Geschmack und verlor erst jetzt die klebrigen poetischen Vorurteile meiner Kulturherkunft.

Mit Seelenruhe sah ich Zana ins Gesicht ihres Totenschädels. Ich küßte ihre Hände, wenn sie nicht rein waren und gab mich hin vor dem Pflanzengeruche aus ihrem Munde. Sie war eine glühende wilde Südländerin, echte Rasse mit guterhaltenen Naturinstinkten. Sie war tausendmal besser und begabter als die schönen und eleganten Kreolinnen, die ich später in den Salons von Rio und an Bord des Doppelschraubendampfers Albatros kennen lernte. Ich liebte Zana[270] nicht um ätherischer Eigenschaften willen, sie war eine treue Seele und eine Bestie, sie rettete mich und brachte mich allein in einem kleinen Nachen nach der Küste und sie schikanierte mich mit tausend weiblichen Abgefeimtheiten. Ich aber liebte eine gewisse Rundung an diesem Knochen und die Verapfelung eines Gelenkes am anderen, und hätte können Hymnen singen auf ihren weißen schmelzenden Blick zwischen den langsamen Schlitzaugen. Ich war weit zurückgegangen, ich hatte das Urweib gesucht, damit es mir, dem neuen Menschen, zur Seite stünde, wenn ich aus den Tropen, dem Urdasein der Menschen, in das ich studienhalber zur Synthese einer Zukunft verschwunden war, wieder auftauchte. Denn es war nicht gut, daß der neue Mensch allein sei – – und ich wäre auch ohne alle Hilfe nie nach Rio gekommen, abgesehen davon, daß mich meine Leute am Ende doch noch verspeist hätten!

Je länger ich nachdenke, desto mehr kommt Ordnung in meine verstreuten Erinnerungen. Ich bekomme Fahrwasser und alles wird sinnvoll, ich sehe mit Bewegung, wie Tatsachen und Symbole sich ergänzen und aufs selbe hinauslaufen. Meine Kameraden sind tot und ich habe sie beerbt. Slim, den ich so lange über mich stellte, hat mir sein Erbe hinterlassen. Ich bin dazu bestimmt, der neue Mensch zu werden, und ich habe mir das Weib gesucht, das zu mir passe, das Weib mit den gut erhaltenen Urinstinkten seiner Sinnlichkeit. Wir sind ein neues Erdenpaar, wir sind Adam und Eva und gondeln einsam einen verlassenen Fluß hinab. Nachts wimpeln uns grüne Sterne zu, wenn wir einander in den Armen liegen und eine neue Menschheit gründen, tagsüber zischt die Sonne auf unser Fell und sprengt Kniffe in unsere Systeme, daß wir hart würden, wie es uns gezieme. Denn die Menschheit soll hinfort mager sein wie ein Indianer.

Slim also ist tot. Er starb einen plötzlichen, etwas unlogischen Tod, an den niemand gedacht hätte. Van den Dusen ist tot – er war verschwunden, als ich damals wieder im Lager lag und einen Ausweg aus dem Labyrinthe suchte. Ich aber, dem er ein Doppelgänger gewesen war, war Slims Nachfolger geworden. Slims großes furchtbares Erbe war mir zugefallen: ich besaß eine Art zweiten Gesichts. Und wenn ich auch die Geschehnisse in meinen Halluzinationen etwas verschob und meine Person durch den eigenartigen Verfolgungswahnsinn, der uns alle, Slim nicht ausgenommen, an einem gewissen Grade unseres Kollers ergriff, zu sehr in den Mittelpunkt rückte, so daß ich vieles ursächlich auf mich zurückführte, das von anderen getan worden war – so ist doch auch gewiß, daß sich die Ergebnisse meiner[271] Visionen mit den Tatsachen deckten. Da hatte ich von dem Tode des Holländers phantasiert; und nun blieb van den Dusen wirklich aus, er war verschollen. Dies steigerte meine Erregung zu krampfhaften Ausbrüchen, ich wollte mich erheben und ihn suchen, unterließ es aber aus irgendeinem Grunde. Es fand erst ein Ende, als ich beschloß, mit Zana aufzubrechen, eine Angelegenheit, in der wir uns mühelos erreichten.

Wie das eigentlich geschah, ist mir allerdings nicht ganz klar. Die wenigen Spuren, die ich zu den Ereignissen besitze, sind in meinen Visionen enthalten. Ich weiß, daß ich mich mit Zana auf die Suche machte. Was war es – – – doch, es waren die Ruder, die sie in eben jenem eigentümlichen Augenblicke aus dem Wasser gezogen hatte, als ich sie damals im Fluß stehend antraf. Der Anblick dieser harmlosen Gegenstände hatte mich unbegründeterweise in einen solchen Zustand des Grauens versetzt, daß ich einen meiner schwersten Anfälle bekam. In diesem Zustande ahnte ich den furchtbaren Untergang des Holländers voraus. Ja, ich erinnere mich klar an diesen Zusammenhang, der mir zuzeiten verwischt erscheint. Damals entdeckte Zana die angeschwemmten Ruder und zog sie ans Land. Zwei von ihnen lagen zwischen den Klippen, auf denen damals der Alte saß. Wir hätten mit diesen beiden genug gehabt, da wir ja niemand mehr mitnehmen wollten. Aber es war doch besser, wenn wir alle beschlagnahmten; zu Ersatzzwecken konnten wir vielleicht auch das dritte gebrauchen.

Wir liefen, während wir danach ausschauten, ein Stück stromauf und hielten uns am Rande des Djungles. Unsere Sinne waren so geschärft, daß wir ungefähr die Stelle errieten, wo wir es finden könnten. Ich ging ein Stück ins Laub hinein – hier mußte eine Stelle kommen, auf die eine vage Vorstellung mich aufmerksam machte – ah, da war es ja! Und da lag nun ein toter Mann mit einem dicken schiefen Kopfe, und seine Nase war abgeschnitten und war die Herberge von einem Dutzend fragwürdiger Kriechtiere geworden. Die Leiche roch stark; an der unteren Seite war eine Legion von Insekten bemüht, den Rücken zu Mulm zu zermehlen. Sie waren zu Tausenden in das Innere eingedrungen, ihre lebhafte Minierarbeit erregte eine gespenstische Lebendigkeit in dem langhingestreckten System, der Brustkasten ging langsam wie atmend auf und nieder, der Bauch rotierte in Rucken und die Muskeln zuckten leise wie in Traumbewegungen. Ich lief, dünkt mich, rings um den Platz herum, auf dem sichtlich ein Kampf stattgefunden hatte. Es wäre interessant gewesen, zu wissen, auf welche Weise hier ein Mensch ums Leben gekommen[272] war! Sieh da, war das nicht eine Büchse? Ei, eine Büchse! Es war Slims Büchse. Seltsam. Nun kam sie plötzlich wieder zum Vorschein. Während ich sie betrachtete, kam jemand durch das Gebüsch. Ich fällte den Lauf, ich drückte los, in meinem Leichtsinn drückte ich los – – – der krankhafte, hemmungslose Leichtsinn war ja das Charakteristische unserer damaligen Zustände. Da trat Zana hervor und hielt das Steuerruder in Händen. Und nun ging etwas in mir vor, das alle Psychologen interessieren wird. Kaum wurde ich ihrer ansichtig, als ich plötzlich meine leichtsinnige Tat motivierte: ich hatte das Bedürfnis, geschossen zu haben, um mir gleichsam eine Mitwisserin vom Leibe zu schaffen. Dieses Gefühl war natürlich unsinnig, da ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Es ist ein Beweis für die Tatsache, daß wir sinnlose Handlungen nachträglich oft künstlich begründen.

Ich war aber durchaus nicht verlegen. Ich handelte ja während dieser Epochen oft grundlos und empfand nachher keine Reue. Wir brachten die drei Ruder stromaufwärts zum Wasserfall. Dort wollten wir uns einschiffen. Nun mußten wir zuerst das Boot den Katarakt hinabflößen und im Bassin flott machen.

Als wir aber nahe an die Stelle kamen, wo das neue geräumigere und stabilere Boot hatte gebaut werden sollen, hielten wir mitten im Lauf über die Klippen, die bereits den Fall ankündigten, inne. Da lag ja das Boot! Es war ziemlich unfertig und selbst nach indianischen Begriffen noch roh. Es lag hier völlig unerwartet. Nicht weit davon entfernt war eine Feuerstelle, aus der noch ein dünner brenzlicher Rauch aufstieg. Merkwürdige rotrünstige Lappen und Stücke siedelten sich hier umher. Manche hatten das Aussehen von menschlichen Füßen und Händen. Es stank nach Blut wie auf einer Schlachtbank, ein rostiger Geruch hielt sich hier zwischen den Steinen auf. Einer dieser Steine besaß eine aufsehenerregende Form. Ich stieß danach mit einem Ruder, er fiel um; da war es ein menschlicher Schädel mit geöffneten Augen und Lippen. Sah dieses Gesicht nicht Checho ähnlich? Ach, der kleine Checho war der Hungersnot zum Opfer gefallen!

Zana hatte auch nicht ein Augenzucken für alle diese Dinge. Sie stieß das Boot ins Wasser und wir fuhren hinaus. Vorne stand das Ding in die Luft, ach Zana, sei doch mal so gut und begib Dich soweit als möglich von achter weg, will ich Dir mit meinen Gesten sagen. Das Kanoe ist eben doch nicht recht stabil, wir werden es vornean belasten müssen. Ich hob einen schweren Stein herauf und[273] legte ihn im Vorderteil des Bootes nieder. Ach so, hier ist ja ein Hindernis, auf das wir schon aufgefahren sind. Doch, das werden wir gleich haben. Ich handhabte das Ruder, die graue Masse unten schwankte, senkte sich und bekam wieder Auftrieb. Wir fuhren an ihr vorüber. Es war die gänzlich verquollene und unkenntliche Wasserleiche eines weißen Mannes in Rubberschuhen. Das Boot drehte sich ein paarmal aus dem Kurs, um ins Bassin zurückzulaufen. Dann hatten wir es über die Klippen weg, wir kamen in die seichte Strömung. A-hooi-i- nun lassen wir das Fieberlager zurück und fahren der Küste zu. Auf zum Amazonas!

Wir passierten das Lager, es war leer. Wie die Dinge da lagen, schafften wir sie ins Kanoe. Es war gut, wenn wir Tiefgang bekamen. Wir trieben weiter. Da saß mitten in der Sonne auf seiner Klippe der alte Indianer und zuckte mit keiner Wimper, als wir vorbeifuhren. Heute sang er nicht, er hatte einen vollen Bauch und sah befriedigt in die Welt, die er überlebt hatte. Er hatte die Sehnsucht zwar nicht überwunden, aber ersichtlich mit Futter geheimnisvoller Herkunft gestillt. Er saß und verdaute und Zanas hübsche Beine stimmten ihn nicht mehr lyrisch. Er hielt an sich und unterdrückte jedes sentimentale Adiö. Vielleicht schwärmte er seit neuem für Knaben in jenem Alter, das die Zartheit des Fleisches bereits mit Kraft vereint.

Von den übrigen Indianern haben wir nichts mehr gehört noch gesehen. Vielleicht waren sie tot, viel leicht hatten sie sich untereinander aufgespeist, vielleicht lauerten sie sich in diesem Augenblicke erst irgendwo auf, um nur das nackte Leben zu retten. Ich muß sagen, dieser Urbetrieb der Menschenjagd, der zuletzt unter dem Zwange des Hungers ausbrach, ist das einzige, dem ich keine gute Erinnerung bewahre. Ich bin für die raffiniertere und seelischere Art, wie man sie in dem Verkehr zwischen mir und meinen Reisekameraden hat bemerken können. Die Methoden, einander zu tranchieren, haben sich verfeinert und das ist gut so. Wir treiben in den Kaffeehäusern Analyse über den Nächsten wie über uns selbst. Es macht alle Kultur aus und unsere Werkzeuge sind in dieser Beziehung hochentwickelt. Ich hoffe es bewiesen zu haben. Der Mensch der Zukunft verfügt über eigentümliche Kräfte, um in das Leben seiner Mitmenschen einzugreifen. Es ist das eine der Lehren, die ich aus dieser Reise gezogen habe.

Über Slims Tod weiß ich nichts zu sagen. Er ertrank, das ist die ganze Geschichte seines Endes. Seltsam und tragisch genug bleibt es, denn ich weiß, daß er unter den wenigen war, die den Niagara-Fall[274] überschwommen haben. Es ist die Tragikomödie alles Großen. Aber Slim hat dennoch nicht umsonst gelebt, denn nun habe ich alle seine Ideen geerbt, ich werde meine schwachen Kräfte verwenden, um ihnen zur Blüte zu verhelfen und ich will Sorge tragen, daß mit meinem Tode diese Richtung nicht erlischt. Darum habe ich ja dieses Buch geschrieben, nicht aus Eitelkeit, noch um mich für sie zu strafen, noch um mich im Glanz von Abenteuern zu zeigen, sondern um die Kleinheit und Kleinlichkeit des Menschen an seinen Möglichkeiten zu messen und doch dieser froh zu werden.

Auch über den Tod van den Dusens ist mir nichts Zuverlässiges bekannt. Aber hier habe ich so meine Vermutungen. Ich selbst habe während der Anfälle von Tropenkoller, die sich in der letzten Zeit meines Aufenthaltes in dem sicherlich nicht ganz gesunden Flußlager immer heftiger einstellten, ein Stadium kennen gelernt, in dem die Urtriebe des Menschen, Hunger und Liebe, bis zu einem gewissen Grade sich als identisch einstellten. Meine gesteigerte Nervosität mobilisierte alles, was an Uranlagen in mir vorhanden sein mochte. Sie warf Hemmungen um, die Jahrtausende von Kultur aufgerichtet und an der dreißiggliederigen Generationskette verankert hatten. Mein Zustand, dessen spezifische Verwischung der Grenzen zwischen traumhafter Wirklichkeit und wirklichkeitsartiger Vision meiner Vernunft wohl bewußt, meinem Willen aber unbotmäßig war, hat mich bei diesen letzten Erfahrungen über die menschliche Seele auch an einen Punkt geführt, von dem aus ich einen Rückschluß auf den Untergang des Holländers ziehen zu können glaube. Der Kontakt, der seit letzter Zeit zwischen uns bestand, hatte zur Folge, daß ich in einer symbolischen Vision seinen Todeskrampf miterlebte. Es ist ja leicht möglich, daß ich mich in bezug auf den Zusammenhang meiner Eindrücke irre und daß ich gewisse Vermutungen über den Vorgang erst gewann, als meine Phantasie Gelegenheit hatte, aus meiner persönlichen Augenzeugenschaft über vorhandene Verstümmelungen der Leiche sich ein Bild des Kampfes zu machen. Ich selbst möchte, ohne Beweise dafür anführen zu können, schwören, daß der Mann noch nicht ganz gestorben war, als man ihm die Nase abschnitt, und daß es ein Akt von grenzenloser Roheit und von Leichtsinn gewesen sein muß, mit dem man ihn seines Lebens beraubte. Er fiel auf die Seite und stöhnte noch einmal, es war ein rührender piepsender Laut, der seine Brust zum letztenmale hob. Es war ein vogelartiger Laut, es war der Liebeslaut der Organismen, jener Laut, den das Vogelweibchen im Orgiasmus ausstößt, wenn es vom Männchen belegt wird. Es war aber[275] auch der Todeslaut. Die Beziehung auf den Liebesakt kehrt also nicht nur beim Hunger, sie kehrt auch bei anderen Erscheinungen wieder, und wer weiß, vielleicht ist dieser Liebesakt so sehr Mittelpunkt alles irdischen Geschehens, daß alle Variationen und Möglichkeiten des Lebens schließlich nur seine Symbole darstellen? Der Holländer also, nehme ich mit Bestimmtheit an, legte sich auf die Seite und starb. Wer aber ist der Mörder gewesen? so frage ich. Ich revidiere meine gesamte tropische Erfahrung und gelange auf den Hunger. Wer hat sich an dem hübschen liebenswürdigen Checho vergriffen? Wer anders als jener selbe, der vielleicht sein Glück zuerst an einem Weißen versuchte; aber dann aus irgendeiner unüberwindlichen Antipathie gegen weiße Menschen seine ursprüngliche Absicht aufgab? Ich stelle mir zum Beispiel einen alten hartgesottenen roten Sünder vor, der sich nahe vor Torschluß seinem aufdämmernden Selbsterhaltungstriebe überläßt. Ich stelle mir sein befriedigtes Lächeln vor, wie er da satt und weise mitten in der Sonne auf einem Steine sitzt. Und ich erinnere mich der Gefahr, in der ich möglicherweise selbst geschwebt habe, damals, als ich mit Zana im Busch lag und ihre runden, kleinen Brüste küßte – – – ist es denn ausgeschlossen, daß dieser Vision, wie ich sie im Gedächtnis habe, eine recht wirkliche Tatsache entspräche? Was immer man darüber für Hypothesen aufstellen mag, die Sache bleibt vage und auf Spielereien gegründet. Aber man möge sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn tot ist tot und in der Wildnis gibt es keine Justiz, nur eine Moral der Triebe und Kräfte, die Reise ist zu Ende und ich sitze nun in Rio de Janeiro, in Paris und in Berlin herum und habe die Tasche voll Ideen, mit denen ich zur Aufklärung der Menschen beitragen will.

Ich habe gelernt, alle Sentimentalität dranzugeben und bin im Begriffe, falsche Gemütswerte auszurotten. Die Sehnsucht sinkt zunehmend im Kurse, ich helfe ihr hierin und setze ihre Schwindsucht in Galopp. Gibt es eine Sehnsucht nach fernen Ländern, nach anderen Ländern, nach wunderbaren Dorados und Schlupfwinkeln des Abenteuers? Es gibt sie nicht! Was immer der Mensch findet, er findet es in sich, und wenn er südwärts wandert, dann merkt er mit Befremdung und Erkältung, daß er, der Nordländer, viel südlicher ist in seinen Trieben als die südlichste Rasse, und er lernt einsehen, daß der Mensch überhaupt bereits eine Vernördlichung ist und eigentlich die Tropen in sich trägt. Er ist das Vehikel der Natur, in dem sie die langsam aussterbenden Tropen konserviert. Die Tropen sind das Fundament seines Organismus und seiner Kräfte, er ist[276] nach dem Prinzip der Tropen aufgebaut, alles wiederholt sich bei ihm im kleinen – – man könnte sagen, er selbst, der Mensch, sei im Verhältnis zu den Tropen ein Tropus. Wenn man aber nun den Menschen nach seiner Bestimmung entwickeln will, und das wollen wir ja heute schon alle, so ist es immerhin gut, einen Rückblick auf alle diese Dinge zu tun, von wannen er kommt. Aber dann, bitte, ohne alle Sentiments; denn wenn Rechenschaft gegeben wird, läse sichs vielleicht wie eine flotte Parodie auf die Sehnsucht: und dies war die Absicht nicht, also ist es falsch. Wenn es aber vielleicht doch des Reisenden Absicht war und er seine eigentliche Meinung in der Kapsel behält, dann ist es erst recht falsch geworden. Denn eine Parodie auf die Sehnsucht ist die sehnsüchtigste und sentimentalste Angelegenheit von der Welt. Nun aber, wir wollen doch Maßregeln ergreifen gegen die Sehnsucht, dieses nordische Erbübel. Der Mensch der Zukunft will etwas höchst Verfeinertes sein, alle Barbaren aber sind Sentimentaliker. Slim war nicht eigentlich sentimental, sondern dialektisch, ob er gleich anders aussah. Aber obwohl er ein Sport von einem Manne war, kann doch kein Zweifel bestehen, daß er die Form des neuen Menschen nicht rein verkörperte. Dazu war er sich seiner Entwickelung noch zu bewußt. Man muß nicht wissen, woher man kommt; man muß es gewußt haben. Slim war noch zu frisch, darum war seine Aufrichtigkeit nicht immer vollkommen; war sie doch für ihn unmöglich. Zur Aufrichtigkeit gehört ein gesundes Gedächtnis, das auch vergessen kann. Gewiß ist, der Mensch der Zukunft wird so voll Härte sein, wie es seine Ureltern in den Tropen waren. Je kälter es auf dem Erdball wird, desto hitziger wird es in ihm zugehen. Schon ist der Großstädter ein Wilder von Gemüt, wie wir das ein paar Breitegrade südlicher nennen. Ich will ein Beispiel sagen. Es wird viel Geschrei sein über die paar Toten, die in meinem Buche vorkommen, man wird hin und her raten, wer die Mörder seien, und besonders geschickte Psychologen werden zuletzt den Verdacht auf mich lenken wollen: und dies alles, obwohl meine Toten nur durch das Einschlagen bloßer Menscheninstinkte das geworden sein mögen, was alle zum Schreien veranlaßt. Wenn aber der elektrische Funke, dieser Urtrieb der Erde, einen Mann totschlägt, wird dieser in aller Seelenruhe der großen Stadt, die ihn ermordet hat, begraben, und kein Redakteur wird sein Schicksal besonders unmenschlich finden. Doch der Wilde, der seinen Nebenmenschen durchlocht, hat seine Hand durchaus nicht näher im Spiele, als der Chauffeur, der ein Kind überfährt. Wenn man daher Schienenstränge durch[277] die Tropen legt und die großen Katzen ausrottet, so bedeutet das nicht, daß die Phantasie und die Jugend jetzt dahin sind: im Gegenteil, jetzt wird die mörderische Gefährlichkeit erst eingepflanzt. Das Faustrecht, wo jeder sich gegen jeden feind wußte, war eine gemütliche Einrichtung zu den Verfolgungen, die eine Gesellschaft heute gegen einen einzigen losläßt. Man kann sich auch nicht beklagen, daß wir in Grausamkeiten und Verstümmelungen zurück sind. Bald stehe ich wieder bei meinen Maschinen, sie sind Kannibalen, auf Ehre! Darum, weil ich jung bin und nun ein mal untröstlich wäre über eine brave Welt, schwärme ich für dieses tropische Europa, in dem man sich nicht langweilt. Wenn ich unter die Räder komme, werde ich Au! schreien, ganz wie ein anderer. Immerhin ... Tod und Leben sind keine Widersprüche, so wenig wie Liebe und Leben. Es ist auch möglich, daß ich wie Slim den allerlächerlichsten Tod finde. Dann springt der Dichter ein, dann ist es Zeit für den Dichter, die Tragikomödie liegt fix und fertig vor ihm da. Wenn man aber den Menschen der Zukunft fragen wird, ob er schon in den Tropen gewesen sei – ah, was Tropen, sagt er, die Tropen bin ich!

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915.
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