An Johannes

[30] Aus deiner Brust hab' ich empor gesungen

Verschwiegner Liebesflammen Lust und Schmerz,

Und von den Klängen fühl' ich nun durchdrungen

Mit tiefer Regung fast mein eignes Herz.

Der Frühling naht: schon trägt man aus dem Hause

Die Blumen an das freie Tageslicht;

Und länger bleiben auch in ihrer Klause

Die Winterblüthen meiner Muse nicht.

Gedeihen muß die Lenzluft ihnen geben

Und junges Grün und frischen Knospendrang,

Auf daß sie sich befreunden mit dem Leben,

Und werben nach der Leute Lob und Dank.

So ziehn sie aus im Duft und Glanz des Maien,

Bekränzt mit schwarzem Leid und bunter Lust;

Und will der Winter sie mit Schnee bestreuen,

So flüchten sie zurück in deine Brust.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 30.
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