Des Postillions Morgenlied vor der Bergschenke

[39] Vivat, und in's Horn ich stoße!

Vivat, wie so hell es klingt,

Wenn es in der Morgenstunde

Meinem Schatz ein Vivat bringt!


Und die Peitsche knallt dazwischen,

Und die Räder rasseln drein,

Und die Funken und die Flammen

Fliegen über Stock und Stein.


Bravo, bravo, braver Schwager!

Ruft mir zu der Passagier:

Mag er's loben und bezahlen,

Liebste, aber's gilt nur dir.


Kann ich's mit dem Schwert nicht zeigen,

Mit dem blanken Rittersporn,

Hat mein Herz für seine Liebe

Doch dies kleine runde Horn.


Wer's versteht, es klingt nicht übel,

Frisch und scharf wie Morgenwind,

Und die Liebste, die ich meine,

Ist kein schwächlich städtisch Kind.


In dem Wald ist sie geboren,

Ist des Schenken Töchterlein;

Klang der Becher, Zank der Zecher

Mußt' ihr Wiegenliedchen sein.
[39]

In dem Walde steht die Schenke

Einsam auf dem höchsten Berg,

Durch den Schornstein bläst die Hexe,

Und im Keller wühlt der Zwerg.


Aber sie, die flinke Dirne,

Weiß mit Geistern umzugehn,

Wenn ihr Schlüsselbund nur klappert,

Läßt kein Spuk sich weiter sehn.


Und wie trefflich kann sie bannen

Geister auch von Fleisch und Bein,

Die Berauschten, sei's von Liebe,

Sei's von Bier und Branntewein.


Keiner wagt sich ihr zu nahe,

Weil den Zauberkreis er kennt,

Der dem kecken Überspringer

Zung' und Finger gleich verbrennt.


Aber freundlich und gesprächig

Ist sie dem bescheidnen Gast,

Und an ihrem Thor vorüber

Rollt kein Wagen ohne Rast.


Bravo, bravo, braver Schwager!

Ruft mir zu der Passagier:

Gut gefahren, gut gehalten

Bei der schmucken Dirne hier.


Mag er's loben und bezahlen,

Liebste, aber's gilt nur dir.

Schöne Schenkin, ach, ich dürste,

Schenke, schenke Liebe mir!


Vivat, und in's Horn ich stoße,

Und es muß abschieden sein!

Vivat, und wie soll es schmettern,

Kehr' ich hier auf ewig ein!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 39-40.
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