Amor, ein Schneider

[148] Amor ist ein Schneider worden,

Näht die ersten runden Mieder

Für die jungen Erdentöchter,

Näht hinein viel kleine Seufzer,

Viele leise, blöde Wünsche,

Bange Neugier, scheue Lüstchen,

Und viel süßes Namenloses.

Manche Nadel bleibt zerbrochen

Zwischen Zeug und Futter sitzen,

Die nachher den Busen stachelt

Und das Herz lebendig kitzelt.

Auch manch Tröpfchen seines Blutes

Läßt der Gott aus Nadelwunden

In das weiche Linnen fallen.

Hütet euch vor solcher Waare!

Denn die rothen Tropfen brennen,

Unaufhaltsam, unerlöschlich,

Sich durch Adern, Fleisch und Nerven

Bis in's tiefste Herzensgrübchen.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 148.
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