Amor, ein Sprachlehrer

[149] Amor ist ein Sprachverderber,

Wortverdreher, Lautverwirrer,

Der beim großen Thurm zu Babel

Schon die Händ' im Spiele hatte.

Wenn ich weine, raunt er leise

Mir in's Ohr etwas von Wonne;

Wenn ich schmachte, läßt er dennoch

Reden mich von Seligkeiten.

In dem lauten Schwarm der Feste

Muß ich, diesem Lehrer folgend,

Sagen, daß ich einsam stehe,

Und im einsam stillen Haine

Darf ich mich allein nicht nennen.

Bittersüß und lieblichherbe,

Grausam mild und labend schmerzlich,

Solche Reden hat er viele

Stehn in seinem Wörterbuche,

Das die größten Sprachgelehrten

Mir nicht auszudeuten wagen,

Und mit dem ich alle Tage

Mehr mein bißchen Deutsch verlerne.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 149.
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