Liebesaufruf

[125] Nun ist dein kleines Fensterlein

Wohl wieder aufgethaut?

Lieb Dirnel, hab' so manches Mal

Im Winter 'nach geschaut.


War'n dicke weiße Blumen vor,

Ich konnte dich nicht sehn;

So mußt' ich über Eis und Schnee

Betrübt nach Hause gehn.


Da hab' ich auf dem kalten Weg

An dich recht warm gedacht,

Hab' deinen lieben Namen laut

Genannt bei Tag und Nacht.


Wenn ich so oft gebetet hätt'

Die ganze Winterzeit,

Als dein gedacht in einem Tag,

Ich wäre benedeit.


Ob's Lieben wohl was Böses ist?

Die Vöglein thun's uns vor,

Und schwingen doch mit Sang und Klang

Zum Himmel sich empor.
[125]

So zieh' ich aus zur Maienzeit

Auf grüne Liebeslust!

Ist's Fensterlein erst aufgethaut,

Wird's warm auch um die Brust.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 125-126.
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