Die Blume des Weins

[94] Es blühen Blumen mannigfalt

In Feld und Garten, Wies' und Wald,

Und hinter Rahm und Glase;

Sie schütten ihren süßen Duft

Mit vollen Schalen in die Luft

Zum Opfer für die Nase.
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Und von den Blumen mannigfalt

In Feld und Garten, Wies' und Wald,

Erwähl' ich heut' mir keine.

Kein indianischer Geruch

Thut meiner Nase noch genug:

Sie riecht an deutschem Weine.


Heb' ich mein Glas zur Nas' empor,

Möcht' ich, daß Auge, Mund und Ohr

Sogleich auch Nasen wären,

Um aus dem vollen, goldnen Strauß

Bis auf den letzten Gran heraus

Den Balsamduft zu leeren.


Gesegnet sei des Winzers Hand,

Die an des deutschen Stromes Rand

Mir solchen Strauß gebunden,

Von Blumen nicht, die schnell verblühn,

Die ihren leichten Duft versprühn

In wenig Maienstunden.


Die Blume, die im Fasse ruht,

Sie trotzt der dürren Sommergluth

In ihrer kühlen Klause,

Läßt Eis und Schnee vorüberwehn,

Sieht Lenze kommen, Lenze gehn,

Und blüht zu jedem Schmause.


Und schlürf' ich ihre Düfte ein,

Sie rieseln mir durch Mark und Bein,

Wie reine Ätherflammen,

Und wirbeln in verklärtem Glanz

Zu einem hellen Sternenkranz

Sich um mein Haupt zusammen.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 94-95.
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