Wein, der Lebensbalsam

[81] An dem Strand des grünen Nils,

In dem Reich des Krokodils,

Ließen Männer einst und Weiber

Salben ihre todten Leiber

Mit des Balsams edlem Duft

Für die enge, finstre Gruft.


Ach, was hilft es ihnen doch,

Stehen ihre Leiber noch

Hart und steif in Felsenkammern?

Muß uns nicht der Balsam jammern,

Den man ohne Nutz und Noth

Hat versalbet an dem Tod?


Ich hab' einen andern Sinn:

Weil ich noch lebendig bin,

Will ich meinem Leibe geben

Balsam von der Frucht der Reben,

Der ihn auf der Oberwelt

Frisch und stark und fest erhält.
[81]

Schenket mir vom besten Wein

In den größten Becher ein!

Balsam, wolle du bewahren

Auch noch unter weißen Haaren

Unsre Stirnen glatt und blank,

Unsre Herzen froh und frank!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 81-82.
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