Briefe über Kunst

II.


Sehr geehrter Herr Redakteur!


Man sagt mir, daß die nächste Nummer Ihres »Kunstfreund« zugleich die Weihnachtsnummer sein werde. Das gibt mir für Sie wieder die Feder in die Hand. Denn »Kunst« und »Weihnacht« stehen eng beisammen. Daß ich das nicht äußerlich oder gar geschäftlich meine, das werden Sie mir glauben. Ich meine den innern Zusammenhang, den ich schon in meiner vorigen Zuschrift berührte. Ich sagte da, daß jede wahre Kunst zum Welterlöser emporführe. Sie wird zum Wege nach dem eigentlichen, dem seelischen, dem geistigen Bethlehem.

Ich denke also nicht daran, daß die Produkte gewisser Künste oder Kunstgewerbe als Weihnachtsgaben verwendet werden, sondern ich möchte den Blick Ihrer Leser auf Höheres und zugleich auf Tieferes richten. Nämlich darauf, daß die wirkliche, die heilige Kunst Alles, was sie behandelt, nicht als geschehen, sondern als geschehend darzustellen hat. Nur das ist Kunst, was Vergangenes in Gegenwärtiges verwan delt, um es uns begreiflich, vertraut und lieb und wert zu machen. Dieser Punkt ist wichtiger, als man wohl denken mag, denn nur auf ihm beruht die ebenso hohe wie segensreiche Stellung, welche der Kunst in Beziehung auf den Glauben und andererseits auf die Wissenschaft gebührt. Ihre Aufgabe ist, zwischen Beiden zu vermitteln, oder, anders ausgedrückt, die Kunst ist berufen, unser irdisches Wissen zum himmlischen Glauben emporzuführen.

Nur der »Kunst des Vergegenwärtigens« ist es möglich, dieser hochwichtigen Aufgabe gerecht zu werden. Um uns dies klar zu machen, können wir getrost beim »Weihnachtsfest« und beim »Erlöser« bleiben. Die edle, die aristokratische Kunst führt ja zu diesen Beiden hin, niemals aber von ihnen hinweg. Von der Wissenschaft, nicht nur von der geschichtlichen, sondern auch von der theologischen, wird Christus vorzugsweise als der zur Zeit des Kaisers Augustus in Palästina geborene Messias betrachtet. Das ist Vergangenheit. Vom Glauben wird er als der Sohn Gottes verehrt, durch dessen Vermittelung beim Vater wir das ewige Leben und die Seligkeit erlangen. Das ist Zukunft. Von der Kunst wird sowohl der geschichtliche als auch der einst wiederkehrende Christus in wirkungsvoller Erscheinung oder Handlung dargestellt. Das ist Gegenwart.

Aber freilich, wie im gewöhnlichen Leben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne bemerkbare Scheidestriche ineinander überfließen, so gibt es auch im höheren, im geistigen Dasein zwischen Glauben, Kunst und Wissenschaft keine scharf trennenden Barrièren, und es kann somit die Kunst zu gewisser Zeit entweder dem Glauben oder der Wissenschaft einmal nähertreten, als diese Zeit wohl eigentlich verlangt. Ganz selbstverständlich hat jede solche Annäherung nach der einen Seite eine Entfremdung auf der andern zur Folge, doch ist allen hierdurch entstehenden Perioden oder Richtungen stets das Bestreben eigen, das Niedrige zum Höheren emporzuheben, das Diesseits in das Jenseits überzuleiten und auf diese Weise die Wissenschaft mit dem Glauben auszusöhnen. Der wahre Künstler weiß oder fühlt dies ganz genau, der Laie vielleicht nicht.

Wie aus meinem vorigen Briefe ersichtlich, hat die Kunst in das innere Wesen ihres Gegenstandes einzudringen, um es dann harmonisch mit dem Aeußern darzustellen. Sie tut dies im allerhöchsten Grad auch dann, wenn sie Weihnacht feiert. Sie schaut das Kind von Bethlehem, den Lehrenden, den Leidenden, den Sterbenden, den Auferstandenen und Aufgefahrenen, sogar den Wiederkommenden am großen, jüngsten Tage. Das ist das Aeußere. Wer dieses darstellt, ohne tiefer gegangen zu sein, der ist vielleicht ein Maler, ein Bildhauer oder ein Dichter, niemals aber ein Künstler. Von diesem wird mehr verlangt als nur das Eingehen auf das Sinnliche. Es kommt mir da ein Gedicht zu Hülfe, welches ich vor Jahren schrieb. Ich ließ es nie drucken, hier aber mag es stehen, um zur Erläuterung zu dienen:


Der Dorf-Bildschnitzer.

[197] Hab' all mein Lebtag stets gedacht,

Daß man aus Holz die Heilands macht,

Doch nun im Alter kommt mir's bei,

Daß noch was And'res nötig sei.


Im Holz, da liegt zwar auch 'was drin,

Denn jeder Stoff hat seinen Sinn,

Jedoch der Sinn von diesem da,

Der reicht wohl nicht bis Golgatha.


Dort ist noch heut' für alle Welt

Das Kreuz und Elend aufgestellt,

Und wer zu beiden kriechen muß,

Bekommt zuvor den Judaskuß.


D'rum ist's das Richt'ge, was ich tu':

Ich gebe eine Träne zu

Und denke dabei allezeit:

»Nun hat der Schmerz das Holz geweiht.«


Wenn ich es dann fast fertig hab',

Denk' ich an des Erlösers Grab,

Und daß er nach so kurzer Frist

Gleich wieder auferstanden ist.


Da kommt so recht aus Herzensgrund

Ein Juchezer mir in den Mund.

Den schneid' ich, kaum zu seh'n, so fein,

Dem Herrgott mit dem Messer ein.


Und habe ich mein Werk vollbracht,

So fromm, wie ich es mir gedacht,

Dann freu' ich mich als Mensch und Christ,

Daß es mir gut gelungen ist.


Und wer es gleichso bringen will,

Der greif' zum Holz und warte still,

Bis sich die Träne bei ihm zeigt;

Der Juchezer, der kommt dann leicht!


Man fühlt es wohl heraus, daß dieser arme, alte, einfache Herrgottsschnitzer, den ich mir da gedacht habe, ein wirklicher Künstler ist. Er läßt den Stoff, das Holz, weinen, und er läßt es jauchzen. Er gibt ihm die Träne und den Juchezer, den Schmerz und die Freude. Das ist das Innere. Aber noch tiefer als dieser Schmerz und diese Freude liegt etwas anderes, nämlich das psychische Erleben des äußerlich Geschauten. Denn nur aus diesem seelischen Miterleben heraus entwickelt sich jenes unwägbare, ich möchte sagen, himmlische Fluidum, welches das Werk des Meisters durchgeistigt und verklärt und als sicherstes Zeichen gelten darf, daß er ein wirklicher, ein wahrer Künstler ist.

Indem er sein »Weihnacht« feiert, um es darzustellen, sucht er nach dem tiefsten Grunde des Erlösungsgedankens, also nach der »Schuld«. Und wo kann er diesen Grund denn wirklich und in Wahrheit finden, als nur in sich selbst, in seinem eigenen Innern? Er ringt mit seiner Anima, die ihm die Selbsterkenntnis verweigert, wie einst der erste Mensch mit der Schlange, die ihn durch die Lüge, er werde sein wie Gott, über sich selbst zu täuschen wußte. Er geht, wie Jesus, der Knabe, in den Tempel, um das Allerheiligste, was es gibt, auf sich einwirken zu lassen, und er wird dann in die Wüsten des sinnlichen Lebens geführt, um versucht zu werden. Er erlebt an seinem eigenen Genezareth, der tief in ihm verborgen liegt, die Wunder Christi an der Menschheitsseele, und hört in sich die ernsten Stimmen klingen, die von dem heiligen »Berg der Predigt« stammen. Er hat als Künstler sein Jerusalem, wo er ein trügerisches »Hosianna« findet, und dann gewißlich auch sein Golgatha, auf welchem die Erhöhung Qual und Tod bedeutet. Und hat man ihn gemartert, bis der Vorhang in ihm reißt, so kommt das Grab, das allbekannte Künstler- oder Dichtergrab, in welchem er verfaulen und verwesen soll, obgleich er als Mensch, als Individuum noch weiterlebt, noch nicht gestorben ist. Doch, wenn Gott will, gibt es ein Auferstehen und dann die Himmelfahrt, zum Himmel Gottes in der Brust des Menschen. Denn ich schreibe nicht als Theolog, als Priester, sondern als Laie – – nur als Mensch. Um an die einstige Seligkeit zu glauben, glaube ich an die schon jetzige, die jedem Menschen möglich ist, der nach Verklärung strebt.

Bei diesem In-Sich-Selbst-Erleben des christlichen Weihnachts- und Erlösergedankens ist es leider, leider nicht jedem Künstler gegeben, sich bis zur Auferstehung oder gar noch weiter durchzuringen. Der eine bleibt an dieser und der andere an jener Station stehen und kommt nicht weiter, weil seine Kraft erlahmt. Manche bleiben als Kinder im Tempel; sie kommen gar nicht in das Leben und in den Kampf hinaus. Manche überdauern die Versuchung nicht, der sie bald erliegen. Noch andere gehen am »Hosianna« zu grunde; sie wollen die Kunst beherrschen, anstatt ihr zu dienen, und werden totgelobt. Viele gelangen nicht an das Kreuz; sie weichen schon vor Pilatus und vor Kaiphas zurück. Und die am Kreuze sterben, wirklich sterben, indem sie sich vom Haß, vom Neid, von der Mißgunst überwinden lassen, denen ist der Ruf »Es ist vollbracht!« versagt, weil sie wohl begonnen, nicht aber vollendet haben. Das sind die »Tragischen«, welche glauben, innerlich nicht siegen zu können, ohne äußerlich besiegt zu werden. Die wenigen aber, die ihr Golgatha überdauern, indem sie von dem Tode wieder auferstehen, werden über diese Art der Tragik[198] anders denken, denn vor ihnen liegt nur noch der letzte, höchste Schritt, der übrig bleibt: Die Himmelfahrt.

Nur der, dem auch dieses Allerletzte und Allerschwerste gelingt, ist in die Tiefe des »Weihnachtsgedankens« völlig eingedrungen. Er kann, wie einst die Engelscharen, aus seinem Himmel getrost zur Krippe niedersteigen, denn ihm und seiner Kunst ist es nun möglich, auf die Frage »Was will aus dem Kindlein werden?« die einzig richtige Antwort zu geben, welche den Himmel mit der Erde und den Glauben mit der Wissenschaft versöhnt.

Jede wahre Kunst ist Weihnachtskunst, denn sie bringt Erlösung des Stoffes und Erlösung vom Stoffe; beides ist richtig. Sie feiert allezeit Weihnacht, nicht jährlich, nur einmal. Sie feiert es im Verein mit dem wahren christlichen Glauben, der seine Glocken auch nicht jährlich nur einmal, sondern ohne Unterlaß läutet, damit der Lobgesang der Heerscharen


»Ehre sei Gott in der Höhe!«

»Und Friede den Menschen auf Erden!«


nun endlich einmal verstanden und begriffen werden möge!


Radebeul-Dresden, den 2. November 1906.


Karl May.[199]


Quelle:
Briefe über Kunst. Von Karl May. II. In: Der Kunstfreund. 22. Jg. Neue Folge. 1906. II. Teil (Heft 8–12). Nr. 12. S. 197–199. – Innsbruck 1906, S. 197-200.
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