Allgemeines

[209] Eine der schwierigsten Aufgaben, welche die Wissenschaft sich zu stellen vermag, ist die Darstellung der chronologischen Entwickelung aller derjenigen Verhältnisse, welche unmittelbar unter der Herrschaft der Liebe stehen, sowie eine gründliche Erläuterung derjenigen Einflüsse, durch welche die Liebe maßgebend und bestimmend auf die Entwickelung des Menschengeschlechtes eingewirkt hat.

Diese Entwickelung ist eine so unendlich vielseitige, daß ihre gründliche Betrachtung den reichsten Stoff für unser »Buch der Liebe« zu bieten vermag und die uns gestellten Anforderungen leicht zu befriedigen erscheinen, wenn nicht grade die Menge dieses Stoffes, verbunden mit ihrer äußeren Zusammenhangslosigkeit, eine lange Reihe fast unüberwindlicher Schwierigkeiten böte, die nur von Demjenigen zu überwinden und zu bewältigen sind, welcher mit dem heiligen Ernste des Forschens und der vor keinem Hindernisse zurückschreckenden Theilnahme des Menschenfreundes das Wirken der größesten Macht beobachtet, welche vom Himmel zur Erde gestiegen ist, um die Bewohner derselben über die Spitzen jener Berge zu leiten, welche im Morgenrothe eines anderen Lebens, einer höheren Zukunft, eines besseren und seligeren Daseins erglühen.

Ja, unter allen Mächten und Gewalten, welche unser sublunarisches Leben regeln und bewegen, ist die Liebe die größeste, die mächtigste, die herrlichste, und noch mehr – sie ist die einzige, welche ohne Anfang und ohne Ende, welche von ewiger Dauer ist.

Yupanqui, der berühmte südamerikanische Inka, vor dem Millionen sich beugten, der im Besitze der unermeßlichen Schätze der Cordilleras de los Andes war, der sein Haupt mit bis dahin ungepflückten kriegerischen Lorbeeren schmückte, indem er die Schaaren seiner Bewaffneten über die[209] Bergriesen der Anden führte, trat einst in die arme und kleine Hütte eines Priesters, um sich an einem Trunke kühlenden Wassers zu erlaben.

»Trinke, Du Blutiger!« sprach der ehrwürdige Mann. »Die Liebe, der Du dienest, will Dich erquicken.«

»Die Liebe? Der ich diene? Ist das scharfe, blitzende Schwert hier an meiner Seite, welches das Leben so Vieler gefressen hat, ein Werkzeug der Liebe, von der Du sprichst?«

»Zweifelst Du daran? Wisse, o Herrscher, daß ihr Athem von Anbeginn zu Anbeginn durch die Welten rauscht, daß ihr Flügelschlag tausend Ewigkeiten trägt, daß ihre Stimme bis in die tiefste Finsterniß erklingt und ihre Hand auch da von Blumen duftet, wo wir die Gespenster des Hasses, der Zwietracht und der Rache zu erblicken glauben. Die Liebe ist der Engel, welcher zur Erde gesandt ist, den Verirrten in die Arme des Vaters aller Himmel zurück zu leiten.«

»Deine Worte sind gut und bewegen mein Herz; doch sag, wer ist dieser Verirrte?«

»Als im Rathe der Ewigen beschlossen war, das Firmament zu ziehen und Millionen glücklicher Wesen im Strahle seiner Güte wandeln zu lassen, da blitzte die Allmacht des Weltenfürsten durch die Unendlichkeit und einer ihrer Strahlen zuckte hernieder auf die Erde, um ein Ebenbild Gottes zu bereiten.« Die Boten des Herrschers kehrten zurück; sein Auge zählte ihre Schaar, und siehe, es fehlte der Strahl, welcher auf Erden die Gestalt des Menschen angenommen hatte und vom Staube zurückgehalten wurde. Da ergrimmte der König der Geister und streckte drohend seine Hand hernieder:

»Hast Du Dich vermählt mit dem endlichen Gedanken, der um die Sonne schwirrt, siehe so sollst Du Erde bleiben in Ewigkeit, sollst Jammer und Klage hören all' Dein Lebelang und nimmer den Pfad finden zurück zu den glänzenden Stufen meines Thrones!«

Da trat die Liebe zu ihm, beugte demuthsvoll ihr Haupt vor dem Allgewaltigen und sprach mit leiser Stimme:

»O nimm den Fluch zurück, o Herr! Du kennst mein Herz und weißt, daß es nicht Ruhe finden kann, wenn Deine Seele zürnt. Gieb Gnade dem Verirrten!«

Da schritt mit ernster Miene die Gerechtigkeit herbei und rief erhobenen Hauptes:[210]

»Nein, Herr, dem Schuldigen sei Strafe! Dein Zorn fahre hinab, den Frevler zu zerschmettern!«

»Herr,« bat die Liebe, »wirf Deinen Zorn auf mich und laß mich sterben. Ich kann nicht athmen, wenn das Unglück seufzt.«

Da neigte sich der Herrscher zu den Beiden, und seine Stimme klang:

»Er hat gefehlt, und Strafe soll ihn treffen! Die Erde sei sein Theil, und Erde soll er sein; doch steige nieder, Du Verzeihende, zu ihm und zeige ihm den Weg zurück zu mir. Wenn er vom Staub sich ringt und reuig wiederkehrt, so soll ihm verziehen sein!«

So sprach sein Mund, und was er spricht, geschieht; sein Wort ist That; statt zu ertönen, gewinnt's Gestalt und Leben, und dieses Leben ist ein Kampf des Lichtes mit der Finsterniß, des Fluches mit dem Segen, des Zornes mit der Gnade, der Verdammniß mit der Seligkeit, des Hasses mit der Liebe. Jedoch die Liebe siegt, und was ihr widerstrebt, muß durch den Widerstand nur ihre Macht bestätigen, nur ihren Glanz erhöhen, nur ihr zu Diensten sein.

»›Mensch‹ hieß seit jener Zeit der Irrthum, der im Fleische den Weg empor zum Himmel wandelt, um die Wahrheit wiederzufinden, die ihm verloren ging.« – –

Das war die Philosophie eines Heiden, dessen Volk von der Erde verschwindet, seit die »Religion der Liebe« in jenen Gegenden verkündigt wurde und das Kreuz des Christenthumes von den südamerikanischen Bergen leuchtete.

Er stellt in seiner bildlichen Ausdrucksweise die Liebe außer Gott als ein Wesen, einen Gegenstand, mit dem der Herr spricht und verhandelt, dar. Wir dürfen uns dieser Annahme nicht anschließen, sondern müssen versuchen, uns eine wahrheitstreuere Anschauung anzuzeigen, indem wir zu erforschen streben, ob die Liebe ein bloßes Gefühl sei und als solches nur in einem Herzen wohnen könne, welches von der Vorsehung mit der Gabe der Empfindung bedacht wurde, ob sie thätig ist nur im Reiche der organischen Wesen, denen – gegenüber der unbelebten Kreatur – eine Seele eigen ist, welche durch die Nerven sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen vermag.

Wenn schon im ersten Theile dieses Buches auf das Bibelwort: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm,« hingewiesen wurde, so geschah dies nicht etwa in der Absicht, eine biblische Meinung zu citiren, um uns ihr vielleicht kampfgerüstet[211] gegenüber zu stellen, sondern es enthält dieses Wort in Wirklichkeit die höchste der Wahrheiten, welche von der Philosophie wohl angezweifelt und untersucht werden kann, endlich aber doch von ihr zugegeben und bestätigt werden muß.

Es ist vollständig unmöglich, Gott und die Liebe zu trennen, und zwar ist die Letztere nicht etwa ein bloßes Attribut, eine Eigenschaft des Ersteren, sondern sie ist Gott selbst, und wenn wir uns die Aufgabe gestellt haben, die Liebe nach ihrer geschichtlichen Entwickelung darzustellen, so haben wir es in erster Linie mit einer Betrachtung des Gottesbegriffes zu thun.

Das Verhältniß des Menschen zu Gott ist bisher immer nur eine Sache der Religion gewesen, ein Umstand, welcher vielen und großen Irrthum zur Folge gehabt hat, denn die Gotteserkenntniß kann nur eine Thatsache des suchenden Verstandes, also der Wissenschaft sein, während die Religion sich nur auf das menschliche Gefühl stützt. Keine Religion zeigt eine wirkliche Neigung zur Wissenschaft, ja man muß sogar sagen, daß sie oft der Cultur geradezu widerstrebe. Die Vorstellungen, mit denen es die Religion zu thun hat, sind stets mehr oder weniger bildlich, phantastisch unklar und verworren, und da die Wissenschaft sich bemüht, an Stelle des Bildes das Wesen selbst zu setzen und das Dunkle, Unklare und Verworrene aufzuhellen, zu beleuchten und einer weisen Ordnung einzureihen, so sieht sie sich überall, wo das religiöse Gefühl in voller, ungedämpfter Inbrunst glüht, feindselig betrachtet und behandelt.

Bei allen Religionsstiftungen ist es sehr phantastisch und unwissenschaftlich zugegangen, und eine wahrheitstreue Kritik kann nicht anders, als das Schwankende und Haltlose der von der Religion geglaubten historischen Grundlagen nachzuweisen, und so wehrt sich das ächte, unverfälschte religiöse Gefühl, welches die Religion als die alleinige Hauptsache des Lebens betrachtet, neben der alles Uebrige als gleichgültig erscheint, gegen das Eindringen der Wissenschaft in seine Vorstellungskreise, durch welches es sich gefährdet und geschädigt sieht. Es will nichts wissen von einer historischen Kritik seiner geschichtlichen Voraussetzungen; es will nichts wissen von einer philosophischen Kritik seines übersinnlichen Vorstellungskreises; es mag die Gluth seiner vertrauensvollen Innigkeit nicht von dem kalten Hauche der nüchternen Betrachtung anblasen lassen und erträgt ohne Beschwerde die härtesten, inneren Widersprüche.

Wenn trotz dieser tiefen Abneigung der Religion gegen die Wissenschaft[212] sich die Erstere doch überall mit der Letzteren vermählt und sogar ein Kind, die Theologie, erzeugt hat, so ist das von Seiten der Religion eine bloße Zwangsehe, eine Umarmung, deren sie sich nicht erwehren kann, und aus deren Unvermeidlichkeit sie wenigstens für sich den größtmöglichen Nutzen zu ziehen gesucht hat, indem sie die Wissenschaft nach Außen hin gegen Feinde und Widersacher ihren Sachwalter und Vertheidiger sein ließ.

Aber sobald die Wissenschaft als Theologie Eingang in die Religion gefunden hat, beginnt sie ihre eigenen Ziele mit ihren eigenen Mitteln zu verfolgen, ohne Rücksicht darauf, daß sie dadurch die Zwecke der Religion in keiner Weise fördert, sondern dieselben nur in schwere Gefahr bringt. So kommt es, daß die neuere Zeit, welche ja ausgesprochener Maaßen die Wissenschaft, die ernste Forschung begünstigt, sich den religiösen Ueberlieferungen gegenüber immer kaltblütiger verhält und es sogar wagt, mit nüchternen Sinnen und unbestechlicher Logik nach Erkenntniß des göttlichen Wesens zu ringen.

Auch wir halten es für gerathen, diesen Weg einzuschlagen, verwahren uns aber ganz entschieden gegen den Vorwurf der Irreligiosität. Es ist uns ein heiliges Bedürfniß, Klarheit zu erhalten über die höchsten Beziehungen des Daseins, und so dürfen wir wohl das Recht beanspruchen, jeden Weg einzuschlagen, der uns zu dieser Klarheit zu führen verspricht.

Es ist eine geschichtlich festgestellte Thatsache, daß die Vorstellung, welche ein Volk von Gott hat, seiner geistigen Entwickelungsstufe vollständig entspricht. »Wie der Mensch, so sein Gott.« Der Wilde hat einen andern Gott als der Halbwilde, dieser einen andern als der Gebildete, und der tiefe Denker hat wieder seine besonderen Anschauungen über das Wesen Gottes. Schon Xenophanes sagt 540 Jahre vor Christo: »Den Sterblichen erscheint es, daß die Götter ihre Gestalt, Kleidung und Sprache hätten. Die Neger dienen schwarzen Göttern mit stumpfen Nasen, die Thracer Göttern mit blauen Augen und rothen Haaren, und, wenn Ochsen und Löwen Hände hätten, um Bilder zu machen, so würden sie Gestalten zeichnen, wie sie selber sind.« – Deshalb geht auch die geschichtliche Entwickelung der Religionen Hand in Hand mit der Geschichte der Menschheit überhaupt.

Die psychologische Natur aller Menschen ist dieselbe, und so begannen die Religionen fast immer mit dem Bilderdienste, so daß sich in den verschiedensten[213] Gegenden unserer Erde Religionsgebräuche entwickelten, welche einander auffallend ähnlich sind.

Bei den Urmenschen und bei Menschen, welche sich auf einer niedrigen Entwickelungsstufe befinden, herrscht die Religion der Furcht. In einem höheren Zustande übernehmen bevorzugte Menschen, wie z.B. Könige, Oberpriester etc., eine Vermittelung mit Gott, wobei aber die Form der Knechtschaft stattfindet, und erst in späteren Zeiten kommen die Menschen auf die Vorstellung der Gottähnlichkeit, und es kommt dann die Liebe zur Herrschaft, welche bei dem Christenthume in dem Gebote gipfelt: »Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und mit allen deinen Kräften, und deinen Nächsten als dich selbst.«

Ein jedes Religionsbekenntniß zeigte sich bisher als ein Kind seiner Zeit und wurde von der Zukunft zu Grabe getragen, und es ist daher ein beklagenswerther Irrthum zu nennen, wenn die Bekenner der meisten Gottesculte gerade den ihrigen als den absolut vollkommenen und richtigen, jeden andern aber als falsch ansehen. Von diesem Standpunkte aus ist die Lehre von einer alleinseligmachenden Kirche zu betrachten. »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft aber ist nur eine,« lautet ein chinesischer Ausspruch und es wird die Wahrheit desselben durch den Umstand unterstützt, daß, wie in der organischen Natur, es auch hier nicht an Rückfällen in frühere Zustände, zu früheren Anschauungen fehlt. Schon bei den Thlinkithianen im früheren russischen Amerika begegnen wir dem Mythus der Gottessohnschaft, auf welchen das Christenthum zurückging, und bei Confucius, Zoroaster, Buddha, Lao-tse finden wir Vorstellungen von der edelsten und reinsten Art, zu denen wir uns eine Rückkehr wünschen möchten.

»Der persönliche Gott,« sagt einer unserer scharfsinnigsten Forscher, »ist eine überlieferte Gefühls- und Glaubensangelegenheit ohne jede thatsächliche Grundlage, und er ist auch nicht eine nothwendige Bedingung für ein sittenreines und menschenwürdiges Leben. Wenn man gegenwärtig eines solchen Gottes für das Volk noch nicht entbehren zu können meint, so ist dies nur ein trauriges Zeichen von dem geistig noch sehr niedrigen Standpunkte desselben, so daß ihm jedes Verständniß für tiefere Wahrheit noch abgeht. Wäre die Freiheit der Entwickelung der Völker durch privilegirte Kasten nicht von jeher gehemmt worden, so[214] würden wir nach so langem Ringen schon weiter sein in der Erkenntniß der Wahrheit.

Die Orthodoxie hat bei den wunderbaren Erscheinungen in der ganzen Natur und bei den überwältigenden Eindrücken, welche die meisten auf das Gemüth machen, (wie die Pracht des Regenbogens und Polarlichtes, der blendende Glanz des Blitzes, das Rollen des Donners, das Grauen des Erdbebens etc.) im Volke, wenn sie von einem persönlichen Gotte spricht, so lange ein leichtes Spiel gehabt, als die geistige Stufe desselben nur eine noch niedrige war. Von dem Gewande dieses Gottes fällt aber ein Stück nach dem andern mit dem Auftreten der exacten Wissenschaften, und es tritt dafür ein unpersönlicher allgewaltiger Gott auf, welcher, mit dem Kleide der Wahrheit angethan, nicht blos gegenstandslose Gefühle, sondern auch den Verstand befriedigt, und zwar so stark, daß wir auf die Irrwege der Abgötterei nicht mehr kommen können und die Verketzerungssucht ihren Boden verliert.

Wir erkennen in der ganzen Natur niemals das Schaffen eines persönlichen Gottes, eines ›Schöpfers Himmels und der Erde‹, sondern überall nur schrittweise Entwickelung nach Naturgesetzen. Die Naturgesetze aber sind theils durch die inductive Methode gewonnen, theils durch mathematische Schlüsse entdeckt worden. Erfahrung und Wissenschaft unterstützen einander, um die Naturgesetze zu erkennen und aufzustellen. Sind dieselben aber als unfehlbar richtig erkannt, so kann man an ihrer Hand die Welt synthetisch aufbauen, Stein zu Stein fügen und Schritt für Schritt nicht blos die Vergangenheit ableiten, sondern auch einen Blick in die Zukunft thun, weil die Naturgesetze ewig giltige und unerbittliche Gesetzgeber sind.«

Solche Anschauungen erhalten ein sehr werthvolles Material und der ernste Denker wird gern zugeben, daß die Welt und der Mensch nicht aus dem Nichts geschaffen ist, sondern sich in äußerst langen Zeiträumen naturgesetzlich entwickelt hat und sich auch noch jetzt in einer fortwährenden Umgestaltung befindet. Aber ist dies wirklich ein zwingender Grund, einen persönlichen Gott zu leugnen und an dessen Stelle irgend einen Stoff, eine Kraft, ein Gesetz zu stellen? Ist es eine so entschiedene Unmöglichkeit, daß ein persönlicher Gott trotz dieser Persönlichkeit den Willen gehabt habe, daß sich alles Seiende nach und nach entwickele? Ist man am Ende der Forschung angelangt dadurch, daß man Gott[215] absetzt und seine Stelle der Materie, dem Stoffe, der Kraft, dem Naturgesetze einräumt? Und welchen Ursprung hat diese Materie, dieser Stoff, diese Kraft, dieses Gesetz? Weisen sie nicht auf einen Höheren zurück, dem sie ihr Dasein, ihre Wirkung verdanken? Wenn der »Zweifler« sagt:


»An die Sterne richt' ich meine Klagen,

Manches tiefe, seufzende Warum.

Keine Antwort spricht auf meine Fragen,

Alles schweigt, die Mitternacht ist stumm,«


so ist es vollständig unmöglich ihm beizustimmen, denn tausende von Welten erheben ihre Stimme, um diese Fragen zu beantworten, und die scheinbar stille Mitternacht predigt doch mit Donnerstimme von Demjenigen, welchem die Worte gewidmet sind: »Die Himmel rühmen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigen seiner Hände Werk, ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht thut's kund der andern. Da ist keine Sprache noch Stimme, die nicht also rede.« Und heißt es weiter:


»Nächtlich einsam wandl' ich durch die Haide,

Wo mein Geist den weiten Raum durchschifft,

Wer enthüllt mir diese Flammenschrift

An dem feierlichen Prachtgebäude?

Wer enthüllt die Flammenschrift mir

An der Kuppel dieses großen Domes?

Waltet eines Gottes Finger hier,

Waltet er im Glanz des Weltenstromes

Und im Bach, der durch die Felsen hüpft?

Lebt ein Gott im Menschen und im Wurme?

Hör' ich ihn hier in dem Donnersturme,

Dort ihm Säuseln, das durch Myrrhen schlüpft?

... Oder führt den großen Zug ein Blinder –

Waltet überall ein blindes Loos?

Sind die Welten ausgesetzte Kinder?

Fielen sie auf keinen Pflegeschooß?


so ist es ebenso unmöglich, diesem blinden Loose beizustimmen. Und wäre es nicht so, daß ›den großen Zug ein Blinder führte‹«, wenn wir an die Spitze der Schöpfung etwas Unpersönliches, Unbewußtes stellten, möge dieses nun Stoff oder Kraft, Materie oder Gesetz sein?

Es ist allerdings sehr natürlich, daß bei der organischen Entwickelung[216] der Menschheit das Seelenleben zuerst und sehr bald durch die Gefühle und erst viel später durch den Verstand sich zum Ausdrucke brachte. Aus den Gefühlen entsprangen die nach den Umständen verschiedenen Anschauungen von dem weltregierenden Wesen und den Arten seiner Verehrung. Es war viel leichter, sich eine Vorstellung von Gott zu machen und für ihn irgend einen Cultus zu erfinden, als das Denken zu entwickeln und durch mühevolle Denkbarkeit höhere Stufen des Menschenthumes zu erklimmen. Fühlen und Denken schließen einander häufig nicht nur aus, sondern treten einander sogar feindlich gegenüber. Fühlen ist die Mutter des Glaubens, Denken die Mutter des Wissens.

Aus diesem Grunde stehen noch heute in Betreff der Weltordnung sich zwei feindliche Lager einander schroff gegenüber. In dem einen glaubt man, daß die Welt durch einen schaffenden, persönlichen Willen so, wie sie jetzt ist, hervorgegangen sei und so auch in alle Ewigkeit werde von ihm regiert werden; in dem andern weiß man, daß es eine Weltengeschichte giebt, daß im Laufe von Millionen von Jahren gewaltige Entwickelungsprozesse stattgefunden haben und daß sie immerfort noch stattfinden werden. Die Gläubigen verlangen eine hingebende Unterordnung und völlige Entsagung von aller selbstbewußten Forschung, die Forscher aber eine auf die exacte Wissenschaft begründete Prüfung aller Verhältnisse. Jene gehen leider nicht selten mit den Gedanken an den eigenen Vortheil von der Ansicht aus, daß nur die Demuth der Massen zum Heile für die Menschheit dienen könne; diese aber erwarten die Hebung der Gesittung und des allgemeinen Menschenwohles von der Weckung aller Verstandeskräfte.

Schon Jahrtausende lang geht dieser schroffe Gegensatz durch die Geschichte der Menschheit und hat allerdings zu traurigen Folgen geführt. Die Einen haben gehandelt und gelitten für Glaubensphantome, die Anderen haben geduldet für die Wahrheit und sind ihretwegen selbst heut' noch den Verfolgungen ausgesetzt. Ja, die Verdammungsurtheile gegen die Wissenschaft werden wieder mit einer gewissen Kühnheit in die Welt geschleudert und das berüchtigte Wort eines christianisirten Juden: »Die Wissenschaft muß zurück,« trägt seine Unkrautfrüchte über die christliche Welt.

Man mag sich in der Geschichte der Menschheit umsehen, wo man nur immer will, so findet man nirgends, daß die sittliche Weltordnung durch den tod ten Glauben gefördert worden ist, vielmehr bemerkt man,[217] daß die Menschheit durch denselben immer mehr zerfällt, daß man Haß und Verachtung gegen Andersgläubige schon in die Herzen der unschuldigen Jugend pflanzt und daß, wenn nicht der Fanatismus der Massen, so doch deren Stumpfsinn befördert wird, der sie unfähig macht, sich selbst zu erkennen und für sich selbst zu sorgen. Aber nicht die Aufklärung und wahre Bildung ist zu fürchten, sondern die Dummheit der verwilderten Massen, die das Gebot der Vernunft nicht kennen, wie es so viele Erscheinungen der heutigen socialdemokratischen Bewegung, die ja unter den Augen und dem Einflusse der Orthodoxie herangewachsen und großgezogen worden ist, so klar und unwiderleglich beweisen.

Mit diesen Worten soll aber keineswegs eine feindselige Stellung der Religion, dem Glauben gegenüber angezeigt sein, im Gegentheile haben wir alle Achtung vor den heiligen Begriffen, welche die Religion ihren Gläubigen bietet, nur möchten wir diese Begriffe von dem Licht der Wissenschaft beleuchtet sehen. Kein verständiger Mann wird bestreiten, daß das Gefühl dieselbe Berechtigung besitze wie das Denken, und der Instinct des Ersteren leitet uns oft sicherer zu einer Wahrheit, als alle Anstrengung des Letzteren; und wenn der Glaube sich schon in den ältesten Zeiten nach Oben richtete, um das Wesen und den Urheber aller Dinge zu erfassen, so dürfen wir wohl annehmen, daß sein Weg ein fortgesetztes Wandeln durch den Irrthum gewesen sei. Aber wir wünschen, daß die Errungenschaften, welche seine Sehnsucht erfaßte und die er nun mit Treue festzuhalten sucht, auch von der klaren Erkenntniß anerkannt und gutgeheißen sein möchten.

Fragen wir uns, was die Religion eigentlich sei, so lautet die Antwort: »sie ist das Erfülltsein unseres Geistes mit dem Bewußtsein Gottes,« und zwar zunächst selbst ohne Kenntniß der Substanz oder des Wesens Gottes, sondern nur in der Erkenntniß seiner Attribute: Allgegenwart, Allmacht, Allweisheit, Liebe. Er ist der Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt nach ewig giltigen Vernunftgesetzen, welche nicht anders als allweise und gerecht sein können; er ist daher ein gerechter Richter und umschlingt nicht nur alle Menschen, sondern die ganze Schöpfung mit Liebe. Doch die Liebe ist er selbst, und aus ihr entwachsen alle jene Attribute, welche der Glaube ihm beilegt.

Sobald nun unser Geist mit Gottesbewußtsein erfüllt ist, werden wir selbst in der Lebens- und Geistesgemeinschaft mit Gott nur solche[218] Handlungen vornehmen, welche in Uebereinstimmung mit den Vernunftgesetzen sind; der Wille des Menschen soll mit dem Weltwillen, der in der Vernunft seinen Ausgangspunkt hat, zusammenfallen, und wenn dies geschieht, so erfüllt sich jene Verheißung der himmlischen Heerschaaren, welche in der geweihten Nacht verkündeten: »und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Hätten wir den wahren Gott gefunden, also nicht etwa blos den Gott der Juden, der Muhamedaner, der Katholiken, der Protestanten und aller Religionsbekenntnisse, so würden wir einen Mittelpunkt für die ganze Menschheit entdeckt haben und könnten dann den Grund legen zu einer Universalreligion, welche dem Sturme der Meinungen nicht ausgesetzt wäre und keine Veranlassung geben würde, daß sich die verschiedenen Secten auf eine solche Art verfolgen, wie es jetzt der Fall ist.

Wer also ist Gott? Wer führt das Scepter des unendlichen Weltenalls von Ewigkeit zu Ewigkeit? Wer läßt den Grashalm und die Palmen wachsen? Wer ernährt den Wurm und den Elephanten? Wer hat uns und alle Geschöpfe überhaupt erzeugt? Wer regiert mit unendlicher Kraft und noch strengeren Gesetzen all' die großen und kleinen Welten? Wer hat die Liebe in unsere Herzen gepflanzt und die Sehnsucht nach jenen himmlischen Freuden, nach der Ruhe in jener Welt? Wird diese Frage, welche die tiefsten Forscher aller Zeiten so lebhaft und anhaltend beschäftigt hat, mit einem Schlage zu beantworten sein?

Wohl nicht. – Gott tritt nicht persönlich und sicht bar vor uns hin; die Sagen von dem Erscheinen Gottes unter den Menschenkindern sind verklungen, und die Erkenntniß Gottes ist jetzt nur auf demjenigen Wege ermöglicht, welchen die Wissenschaft einschlägt, welche sich in die Betrachtung der Natur versenkt, um von dem Geschöpfe auf den Schöpfer zu schließen. Sie geht nicht sprungweise, vermeidet alle Unklarheiten und Hypothesen und schreitet vielmehr Schritt für Schritt an dem sicheren Ariadnefaden ihrer überwindenden Logik durch das Labyrinth der Ansichten und Meinungen zur Erkenntniß vorwärts und versucht auf diese Weise den Schleier zu lüften, um, zum Entsetzen der Finsterlinge, die Wahrheit in ihrem Strahlenglanze endlich zu erkennen und der Mit- und Nachwelt zum wohlerworbenen und unantastbaren Eigenthume zu machen.

Und auf diesem Wege ist eine Sonne, welche ihre warmen und belebenden, ihre erleuchtenden Strahlen über alles Große und Kleine wirft, mit ihnen den Weltenraum erhellt und den kleinsten Winkel vom Dunkel[219] befreit – die Liebe. Sie thront droben über rollenden Welten und waltet in den Tiefen, welche noch keines Menschen Fuß betrat; sie bewegt die Sphären und regiert das Zucken der Mimose; sie lacht vom heiteren Himmel und umarmt die Erde mit nächtlichem Dunkel; sie leitet den Fuß des Forschers und hält die Hand des Irrenden. Ehe etwas war, war sie; was ist, das ist durch sie geworden; alles Geschehende geschieht durch ihren Willen und nach ihren Gesetzen; wer im Staube nach Atomen sucht, der findet sie, und wer die Unendlichkeit, die Ewigkeit durchforscht nach Gott, der findet sie, denn sie ist – Gott.

Ja, Gott ist die Liebe, und wo Liebe ist, da ist sie nicht eine Eigenschaft Gottes oder irgend eines erschaffenen Wesens, sondern sie ist Gott selbst.

Die Liebe ist das einzig Gewesene vor dem Erschaffenen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Aber sie konnte nicht sie selbst bleiben; sie mußte aus sich heraustreten und in Kräften thätig sein, welche ursprünglich zu ihrem Wesen gehören, welche auch nichts anderes sind als Liebe, aber in ihrer Wirkung sich mit Farben bekleiden, welche für den Denker nur das Wesen der Liebe illustriren, während sie für den nicht geistig thätigen Menschen von der Liebe mehr oder weniger abweichende Kräfte, ja vielleicht gar ihr polares Gegentheil zu sein scheinen.

Auch die Finsterniß ist Licht, denn es giebt keine absolute Finsterniß, sondern da, wo unser Auge im Dunkel der Nacht oder des abgeschlossenen Raumes nichts mehr wahrzunehmen vermag, da sendet die Quelle des Lichtes immer noch die feinsten ihrer Strahlen und Millionen von mikroskopischen Wesen erquicken sich an ihnen. So auch die Liebe. Sie ist da, selbst wo wir sie nicht suchen und finden, und wenn scheinbar die Zerstörung, die Vernichtung, der Untergang in dem Weltenraume wüthen, ist es nicht ein göttlicher Zorn oder eine strafende Gerechtigkeit, welche die Himmelskörper zerstückelt, sondern die schaffende Liebe, welche aus dem Veralteten, nun Zwecklosen, neue, junge, lebengebährende Welten bereitet.

Heben wir zunächst den Blick empor in das All, um sie zu suchen und in ihrem großen, ewigen und allmächtigen Walten zu erkennen![220]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 209-221.
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