Emancipation

[381] Seit jenem großen Augenblicke, an welchem die ewige, freie Liebe vom Himmel herab zur Erde stieg, um den Erdensohn empor zum Lichte zu führen, hat sie ihrer Freiheit sich begeben müssen und wie dürfen nur von einer »Liebe in Ketten und Banden« sprechen. Welches diese Ketten, diese Banden sind, ist nicht schwer einzusehen, und wir unternehmen es daher auch nicht, besonders darauf hinzuweisen. Aber bekennen müssen wir, daß die stärkste dieser Ketten keine andere ist, als die Religion.

Lassen wir alle früheren und außergewöhnlichen Religionsformen unbeachtet und suchen wir für jetzt nur einmal zu erläutern, in welchem Verhältnisse unsere »Religion der Liebe« mit der wirklichen und echten Liebe denn eigentlich stehe?

Als Christus nach dem Wege zur Seligkeit gefragt wurde, lautete seine Antwort: »Du sollst lieben Gott von ganzen Herzen, von ganzer Seele und mit allen deinen Kräften«, das ist das vornehmste und größte[381] Gebot das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten!« In dieser Antwort giebt er die beiden Grundpfeiler, auf welche er seine Lehre baute. Sie hätten bei behalten werden müssen, um zu einer Religion zu führen, welche mit Recht den Namen Christi hätte tragen können. Der Grundpfeiler unserer gegenwärtigen christlichen Religion aber ist:


»Jesus Christus, gestern und heut

Und derselbe in Ewigkeit!«


Man hat die Lehre mit dem Lehrer, die Sache mit der Person, die Idee mit ihrem Träger verwechselt und einen Cultus geschaffen, welcher gegen das göttliche Gebot sündigt: »Du sollst dir kein Gleichniß machen, weder das, das droben im Himmel, noch das, das unten auf Erden und unter dem Wasser ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht, denn ich, der Herr dein Gott, bin ein starker, eifriger Gott, der die Sünden der Väter heimsuchet an den Kindern bis in das tausendste Glied?« Und unter diesen Verwechselung hat Niemand und Nichts mehr leiden müssen, als die Liebe, welche zu einer Eigenschaft gemacht wurde, die man nach Belieben graduiren kann.

Wohl kaum ist jemals gegen die Liebe so viel gesündigt worden, wie unter dem Deckmantel der Religion. Die Priester, von denen der Prophet sagt: »Wie lieblich sind die Füße der Boten, die da Gutes predigen, die das Heil verkündigen,« sind mit ehernen Füßen zermalmend über das Glück und Wohl ganzer Nationen hinweggeschritten, oder haben, im Dunkel verborgen, mit jesuitischen Wühlereien dasselbe stetig und sicher untergraben. Und noch sind diese Zeiten nicht vorüber, noch heut lauert die Frömmigkeit hinter ihren mißverstandenen oder mißgedeuteten Bibelversen, um die Spinnenarme um die vertrauende Seele zu schlagen, die sich ihr naht. Noch heute geht sie mit der Politik Hand in Hand, um der Eroberungssucht als willkommenster Deckmantel zu dienen.

Und dies bringt uns zu der Bemerkung, daß neben der Religion es vorzugsweise die Politik, die mit dem Ihrigen unzufriedene und deshalb nach Annection strebende Staatskunst ist, welche gegen die Liebe gefehlt hat. Die Sache ist zu traurig und zu allgemein bekannt, als daß wir näher auf sie eingehen möchten, und wir sehen es daher mit hoher Fremde, daß sich seit einiger Zeit eine nicht genug anzuerkennende Aenderung[382] in dieser Beziehung vollzogen hat. Man betrachtet die Liebe nicht mehr von einem particularen, einseitigen, sondern von dem allgemeinen Standpunkte, welcher der allein richtige ist. Von ihm aus betrachtet hat ein jeder Mensch, sei er Christ oder Heide, Jude oder Muhamedaner, Kaukasier oder Mongole, Amerikaner oder Neger, ein gleich großes Recht auf die Liebe, welche Alle umfaßt und in ihrer irdischen, in ihrer menschlichen Gewandung als Humanität gegenwärtig von einem Siege zum andern schreitet.

Wie ein leiser, heiliger und erquickender Odem Gottes geht dieselbe durch das menschliche Leben, sucht die Unebenheiten desselben möglichst zu beseitigen, die Härten zu lindern, die Schroffheiten zu mildern und nimmt ganz ohne daß er es weiß, sogar im Herzen des Einzelnen Platz, um auf sein Fühlen, Denken und Handeln bestimmend und Richtung gebend zu wirken. Nach Millionen und Abermillionen zählen die verborgenen Thaten, welche von der Humanität dictirt und geleitet werden, und wenn wir einen Blick auf das öffentliche Leben mit seinen zahlreichen Instituten werfen, so finden wir, daß die meisten derselben nur humanen Zwecken gewidmet sind und die Verwaltung der anderen von humanen Gesinnungen durchdrungen ist. Die Grausamkeiten vergangener Jahrhunderte, welche damals nicht auffallen konnten, weil sie allgemein waren und ihren Grund in dem Zustande, in dem damaligen Standpunkte der allgemeinen Gesittung hatten, sie sind jetzt fast zur Unmöglichkeit geworden, und wenn sie noch geschehen, so ist es sicherlich in einem sehr entfernten und abgelegenen Winkel unseres Erdbodens. Wir denken hier vorzugsweise an die Kriegsführung, auf derem Gebiete sich die augenfälligsten Neuerungen vollzogen haben (Genfer Convention etc.), die von allen Seiten mit Freuden begrüßt wurden, und erwähnen wir hier bei noch die Kranken- und Armenpflege, das Schul- und Unterrichtswesen etc., so will es scheinen, als wolle der Tag, von dem wir in unserem früheren Abschnitte sprachen, immer heller, lichter und wärmer werden und mit seinen blebenden Strahlen immer neue Blüthen und Früchte in das Dasein rufen.

Dieser Hauch des Himmels geht als ein Bote der göttlichen Barmherzigkeit erhebend, veredelnd und verzeihend selbst über das Haupt des Sünders hin und lehrt, allzeit eingedenk zu sein des Wortes: »Wer von euch ohne Sünde ist, er werfe den ersten Stein auf sie!« Die verirrte Liebe mag für den streng sittlichdenkenden Character häßlich und abstoßend sein,[383] aber es ist eben eine Liebe, und wer sollte ihr nicht verzeihen, die selbst unter egoistischen Zwecken sich hingiebt und süßen Genuß bereitet. »Zehn Männer hast du gehabt und den du jetzt hast, ist nicht dein Mann,« sagt Christus zur Samariterin, und doch hielt er sie für würdig, aus seinem Munde das Wort vom Himmelreiche zu vernehmen. Rahab, die Hure, wie die Bibel jenes Weib nennt, welche die Kundschafter vor Gefangenschaft und Tod errettete, wird von dem Apostel Paulus, dem strengen Sittenreicher, selig gepriesen, und die echte Humanität enthält ein Evangelium für jede durch die Liebe gefallene Sünderin. Wie herrlich weiß dies der Altmeister Göthe auszudrücken in seinem »Mahadöh, der Herr der Erde« welcher von Himmel steigt, um unseres Gleichen zu werden und der Menschen Freud und Qual zu fühlen. Es liegt eine übertreffliche Zartheit in der so einfach scheinenden und doch so schwierigen Schilderung:


»Als er nun hinausgegangen,

Wo die letzten Häuser sind,

Sieht er mit gemalten Wangen

Ein verlornes, schönes Kind.

›Grüß dich, Jungfrau‹ – ›Dank der Ehre;

Wart', ich komme gleich hinaus!‹

›Und wer bist du?‹ – ›Bajadere,

Und dies ist der Liebe Haus.‹

Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen;

Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,

Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.


Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,

Lebhaft ihn in's Haus hinein.

›Schöner Fremdling, lampenhelle

Soll sogleich die Hütte sein.

Bist du müd, will ich dich laben,

Lindern deiner Füße Schmerz;

Was du willst, das sollst zu haben

Ruhe, Freuden oder Scherz!‹

Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.

Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden

Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.«[384]


Dieses Durchleuchten des rein Menschlichen selbst durch das Laster ist der sicherste Beweis, daß das Gute nie untergehen, nie verschwinden, nie getödtet werden könne, und so verzeiht die Gnade die irdische Schuld, durch welche das Himmlische doch nicht vernichtet wird:


»So, das Chor, das ohn' Erbarmen

Mehret ihres Herzens Noth;

Und mit ausgestreckten Armen

Springt sie in den heißen Tod.

Doch der Götterjüngling hebet

Aus den Flammen sich empor,

Und in seinen Armen schwebet

Die Geliebte mit hervor.

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;

Unsterbliche heben verlorene Kinder

Mit feurigen Armen zum Himmel empor!«


Also fort mit allen Ketten und Banden, welche die lautere, reine, unverfälschte und vom Himmel stammende Liebe auf Erden umschlingen, fort mit allem Egoismus, aller Selbstgerechtigkeit, mit allem, was des Nächsten Glück trüben, was ihm Leid und Schmerz bereiten kann! Es giebt keine christliche Liebe, wie es auch keine heidnische, keine jüdische, keine muhamedanische giebt; es giebt nur eine Liebe, welche Alle umschlingt, nur eine Liebe, welche nicht nach Stammbaum und Verdiensten fragt, sondern Jeden umfaßt und an sich zieht, welcher den Namen Mensch trägt: die Humanität. Und sie ist es, welche uns in das nächste Kapitel begleiten soll, in welchem wir erkennen werden, wie nöthig sie ist, diese schonende Milde, diese ergreifende Barmherzigkeit des menschlichen Herzens![385]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 381-386.
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