»Ehrlich währt am Längsten«

»Der Mensch ist ein politisches Thier« sagt der alte griechische Geschichtsschreiber Herodot. Damit will er sagen, daß der Einzelne nicht für sich allein bestehen könne, sondern nur durch die Verbindung mit Anderen die verschiedenen Zwecke seines Daseins erreichen und glücklich werden könne.

Eine der ersten Grundbedingungen dieses Zusammenlebens ist jedenfalls die gegenseitige Ehrlichkeit. Nur durch sie kann das Resultat des vereinten Wirkens ein günstiges sein und zwar ebenso wohl im Großen wie auch im Kleinen. Und doch wie sehr und viel wird in dieser Beziehung gefehlt!

Die grobe Sünde wird so in die Augen fallend bestraft und die Warnungen vor ihr ertönen so allerwärts, daß wir an diesem Orte wohl schweigen können; aber auch der beste Mensch steht so sehr unter dem Einflusse menschlicher Fehlerhaftigkeit, daß er öfterer als er denkt, Handlungen vornimmt, welche trotz ihrer anscheinenden Harmlosigkeit im Grunde doch nichts sind als Unehrlichkeiten.

Derjenige, welcher es ernst mit sich und seinem Handeln nimmt, wird bei der Beobachtung Dessen, was er denkt und thut, bald zur beschämenden Selbsterkenntniß gelangen; aber dem Oberflächlichen und Gedankenlosen entgehen die leichteren Ausflüsse seiner kränklichen Moralität, während er an Anderen gewöhnlich sehr bald das sittliche Ungeziefer bemerkt.

Der falsche Spieler, der Dieb, der Betrüger, sie erregen unsere Abscheu und wir gestatten ihnen keine Annäherung; aber wir freuen uns eines kleinen Vortheiles über den Anderen; wir benutzen die Gunst des Zufalles, den wir vielleicht selbst herbeigeführt haben; wir halten das Wort, das zweifelhafte Lächeln, das verneinende Achselzucken nicht zurück, welches die Ehre des Nächsten schädigt; wir zählen Sünden, unter welchen sein Glück leidet, zu den noblen Passionen und begehen eine Menge Fehler, welche wir nicht für solche halten, weil sie dem lieben eigenen Ich schmeicheln und von der Gewohnheit geheiligt sind. Und rechnen wir hierzu die tausenderlei großen und kleinen Unterlassungssünden, durch welche nicht nur Fremde, sondern auch Nahestehende von uns geschädigt werden, so werden wir bald zu der Einsicht gelangen, daß wir viel, viel auf uns zu achten haben.

Es gehört eben zur Ehrlichkeit mehr als das bloße sich Hüten vor dem groben Eigenthumsvergehen, und wer gegen Andere ehrlich sein will, muß es zuerst gegen sich selbst sein. Die meisten verfehlten Lebensbahnen sind mit Selbsttäuschung und Selbstbetrug begonnen worden, und wer sich selbst belügt, wie kann der treu sein gegen Andere?

Darum laßt uns merken auf all unser Thun und unausgesetzt arbeiten an unserer sittlichen Vervollkommnung. Es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Worte


»Sei ehrlich gegen Dich,

So bist Du auch ehrlich gegen mich!«


Quelle:
»Ehrlich währt am Längsten.« (Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Nr. 6. S. 46. – Dresden (1875), S. 46.
Lizenz: